Mein Leben als Chirurg
DER Beruf des Chirurgen, den ich mir erwählte, zählt zu den ältesten Berufen des Menschen. Aus alten ägyptischen und babylonischen Berichten geht hervor, daß die Chirurgie schon vor viertausend Jahren ausgeübt wurde. Und einige archäologische Funde weisen darauf hin, daß sie sogar noch älter ist.
Ich selbst bin der Meinung, daß die Chirurgie so alt wie die Menschheit selbst ist, denn die Bibel berichtet uns in 1. Mose 2:21, 22: „Deshalb ließ Jehova Gott einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, und während er schlief, nahm er eine von seinen Rippen und schloß dann das Fleisch an deren Stelle zu. Und Jehova Gott ging daran, aus der Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, eine Frau zu bauen und sie zu dem Menschen zu bringen.“ Es ist bemerkenswert, daß Gott Adam zunächst schmerzunempfindlich machte, bevor er ihn operierte, und danach „nähte“ er den Schnitt zu. Die von Menschen durchgeführte Chirurgie, wenigstens die „Kleine Chirurgie“, geht zumindest bis in die Zeit Abrahams zurück. Auf Gottes Geheiß ließ er sich und alle seine männlichen Hausgenossen beschneiden (1. Mose 17:10-14, 22-27).
Einer der führenden amerikanischen Professoren der Chirurgie sagte einmal: „Die Ausbildung eines Chirurgen ist die strengste, die es gibt, und fordert mehr von einem als alle sonstigen Berufe oder Beschäftigungen; und seine Verantwortung ist bestimmt die schwerste.“ Was also veranlaßte mich, ausgerechnet diesen Beruf zu erwählen? Meine Erziehung und auch die Tatsache, daß diese Arbeit versprach, gleichermaßen befriedigend und herausfordernd zu sein.
Mein Vater war Landarzt. Er lebte in einer Kleinstadt in Oklahoma (USA) und kümmerte sich um das Wohl der Farmer und anderer in einem Umkreis von vielen Kilometern. Wir waren fünf Jungen in unserer Familie, und ich war der älteste.
Am Anfang gebrauchte mein Vater einen leichten, von einem Pferd gezogenen Einspänner, wenn er die Kranken auf dem Land besuchte. Als er später seine Patienten mit einem Ford, Modell T, besuchte, durfte ich ihn begleiten. So war ich tatsächlich mit nicht ganz zwölf Jahren zeitweise sein Fahrer und Arztgehilfe.
Im Laufe der Jahre konnte ich ihm immer nützlicher sein. Es war noch eine Zeit, in der manche Operation auf dem Küchentisch ausgeführt wurde. Ein denkwürdiger Fall ist der eines Farmers. Sein Maulesel trat ihm so unglaublich gegen den Kopf, daß er fast skalpiert wurde. Mein Vater operierte ihn unter einem Baum, und ich war sein faszinierter Assistent. Benötigte ein Patient eine Narkose, so war es meine Aufgabe, ihm Chloroform zu verabreichen, während mein Vater operierte. Heute gibt es natürlich eine ganze Reihe besserer Narkotika, und Operationen werden höchst selten unter Bäumen durchgeführt.
Meine Ausbildung zum Chirurgen
Nachdem ich die High-School absolviert hatte, ging ich auf ein College. Es erschien mir ganz natürlich, mich für den Arztberuf zu entscheiden. Mein Vater hatte mich nie gedrängt, diesen Beruf zu wählen, aber er brauchte es auch nicht. Sein Beispiel, seine Freundlichkeit, sein Mitgefühl, seine Güte und Hilfsbereitschaft sowie der tiefe Respekt, den man ihm entgegenbrachte: all das weckte in mir den Wunsch, Arzt zu werden.
Ich begann also mit einem zweijährigen medizinischen Vorbereitungsstudium an der Universität in Oklahoma und fuhr dann fort mit dem regulären vierjährigen Studium an der medizinischen Fakultät der Universität. Das Studium der verschiedenen Fächer wie Anatomie, Physiologie, Biochemie und Histologie bedeutete harte Arbeit, aber es bereitete mir auch große Freude. Als ich die Hälfte dieser Ausbildung hinter mir hatte, erhielt ich den ersten akademischen Grad, und von jetzt an gehörten zu meiner Ausbildung auch die praktische Erfahrung direkt am Krankenbett mit Krankenhauspatienten und die Hilfe bei der Entbindung eines Kindes in der Wohnung solcher Frauen, die sich eine Behandlung im Krankenhaus nicht leisten konnten.
Manchmal vermischte sich auch jugendlicher Leichtsinn mit dem Ernst der medizinischen Ausbildung. Nachdem einmal eine Frau zu Hause ihr Kind entbunden hatte, hörte sie, wie ein anderer Student und ich den Ausdruck „Plazenta“ gebrauchten. Es war in ihrem Ohr ein solch wohlklingendes Wort, daß sie es sogleich als Namen für ihr Kind in Erwägung zog. Ohne sie über die Bedeutung des Wortes aufzuklären, füllten wir den offiziellen Geburtsschein mit diesem Namen aus. Unsere Professoren und andere Verantwortliche wiesen uns jedoch zurecht, und so mußten wir uns bei dieser Mutter entschuldigen und ihr helfen, einen passenderen Namen als „Plazenta“ (Mutterkuchen) zu finden.
Nach Abschluß des Studiums arbeitete ich zunächst ein Jahr lang als Assistenzarzt im Städtischen Krankenhaus in Baltimore (Maryland). Während dieser Zeit wurde ich auf einem Fachgebiet nach dem anderen ausgebildet, wie zum Beispiel Allgemeinmedizin, Pädiatrie (Kinderheilkunde), Chirurgie, Obstetrik (Geburtshilfe), Gynäkologie und Psychiatrie. Diese praktische Erfahrung half mir kennenzulernen, was alles zu diesen Fachbereichen gehörte. Am Ende des Jahres entschied ich mich für die Chirurgie. Mir schien es das interessanteste Gebiet zu sein, das mich gleichzeitig auch am meisten reizte. Von hier wechselte ich dann in ein Krankenhaus in einer Kleinstadt in Tennessee über, um meine Ausbildung in Chirurgie weiter zu vervollständigen. Doch bald erkrankte ich an Tuberkulose. Wahrscheinlich hatte ich mich bereits in Baltimore bei Patienten, die ich gepflegt hatte, infiziert. Für einige Monate suchte ich ein Sanatorium auf, dann kehrte ich ins Elternhaus nach Oklahoma zurück, wo ich ein Jahr später völlig genesen war.
Daraufhin wurde ich als Chirurg im Kreiskrankenhaus in Santa Barbara (Kalifornien) angestellt. Ein Jahr später schloß ich mich einem Team von vierundzwanzig Ärzten an, die eine Privatpraxis führten. Nach einiger Zeit ließ ich mich für zwei Jahre beurlauben, damit ich weitere Schulung bei Professor Owen H. Wangensteen, einem der bedeutendsten amerikanischen Chirurgen, an der Universität von Minnesota erhalten konnte. So kam es schließlich, daß ich nach 14 Jahren Studium und Ausbildung an vormedizinischen und medizinischen Lehranstalten und der praktischen Erfahrung mein Ziel, ein voll ausgebildeter Chirurg zu sein, verwirklichte.
Aber dann geschah etwas, was meine Einstellung zum Leben und meine Zukunft als Chirurg verändern sollte. Es hing mit dem Thema Bluttransfusion zusammen und mit der Streitfrage, die sich daraus in Verbindung mit den christlichen Zeugen Jehovas ergab.
Die Streitfrage der Bluttransfusion
Meine frühen Jahre wurden nicht nur dadurch beeinflußt daß mein Vater Arzt war, sondern auch die Tatsache, daß meine Eltern Zeugen Jehovas waren — die einzigen übrigens im Umkreis von vielen Kilometern —, spielte eine entscheidende Rolle. Mich erzog man dazu, die Bibel zu respektieren, jedoch erlangte ich nicht viel Erkenntnis. Dies war ohne Zweifel teilweise darauf zurückzuführen, daß mein Vater als Arzt einfach immer sehr beschäftigt war. Damals betonte man auch noch nicht so das Bibelstudienprogramm der Zeugen Jehovas innerhalb der Familie, wie das heute der Fall ist. So ging ich von zu Hause weg, um das College zu besuchen — ein junger Bursche vom Land, der sich fest in den Kopf gesetzt hatte, Arzt zu werden, zwar stark beeinflußt von biblischen Grundsätzen, die ich aber erst viele Jahre später wertschätzen lernte.
Während meiner Jahre an der medizinischen Fakultät sah ich zum ersten Mal, wie Bluttransfusionen durchgeführt wurden — damals ein noch rohes Verfahren von Spender zu Patient, etwas heroisch und gewöhnlich nicht erfolgreich. Aber der Zweite Weltkrieg mit seinen schrecklichen Blutverlusten gab der Anwendung von Bluttransfusionen neue Impulse. Der Krieg veranlaßte auch die meisten Ärzte meines Alters, in der Armee zu dienen. Ich meldete mich freiwillig, um in der Armee als Chirurg zu dienen, wurde aber abgelehnt, weil ich früher einmal an Tuberkulose erkrankt war. Später versuchte ich bei der Marine unterzukommen, indem ich meine Krankengeschichte verheimlichte; aber irgendwie hat man es doch herausbekommen, und so wies man mich auch hier zurück. Auf diese Weise setzte ich meine Laufbahn als Chirurg im Zivilleben fort.
Bis zum Tode meines Vaters im Jahre 1950 war mir meine Laufbahn als Chirurg das Wichtigste in meinem Leben. Aber sein Tod und die Begräbnisansprache gaben mir den Anstoß, etwas ernsthafter über Religion nachzudenken.
Ich hatte mich immer darüber aufgeregt, wenn man meine Eltern wegen ihrer Religion verspottet hatte. Wegen ihrer Standhaftigkeit hatte ich sie bewundert. Nachdem ich jedoch das Elternhaus verlassen hatte, machte ich mir wenig Gedanken darüber. Als ich aber jetzt die biblische Wahrheit über Leben und Tod und über Gottes Königreich als die einzige sichere Hoffnung für die Zukunft hörte, wurden alte Kindheitserinnerungen wach. Wegen seiner Glaubensansichten hinsichtlich dieser Dinge war mein Vater von vielen seiner alten Freunde als religiöser Fanatiker verurteilt, ja sogar von einigen als verrückt angesehen worden. Ich kannte ihn als einen intelligenten und gebildeten Mann, geschickt und mitfühlend mit anderen Menschen. Er war nicht einer, der ohne Studium und gründliches Nachforschen irgendwelche Ideen übernahm. Sein Urteil war stets wohldurchdacht. Er war grundehrlich. Es war mir unmöglich, in seinem Leben etwas zu entdecken, was nicht verdienstvoll gewesen wäre. Er war kein religiöser Heuchler. Ich spürte einen tiefen inneren Drang, seine Ansichten über Gott und dessen Vorhaben mit dem Menschen kritisch zu überprüfen.
Zum erstenmal in meinem Leben begann ich ein gewissenhaftes Bibelstudium, hauptsächlich deshalb, weil mein Vater so großes Vertrauen in die Bibel gesetzt hatte. Innerhalb eines Monats las ich die ganze Bibel und andere mir zugängliche Veröffentlichungen der Wachtturm-Gesellschaft durch. Dies überzeugte mich, daß die Bibel die göttliche Wahrheit ist und, daß mein Vater als Zeuge Jehovas sie richtig verstanden hatte. Ich wußte, daß nun eine Entscheidung fällig war. Beim Kongreß der Zeugen Jehovas im Yankee-Stadion in New York im Jahre 1950 symbolisierte ich meine Hingabe an Gott, seinen Willen zu tun, durch die Wassertaufe. Zwei meiner Brüder, die seinerzeit ebenfalls durch die Beerdigungsansprache angeregt worden waren, die Bibel ernstlich zu prüfen, ließen sich gleichzeitig mit mir taufen.
Da ich überzeugt war, daß die Bibel die Wahrheit enthält, nahm ich auch das bereitwillig an, was sie über die Heiligkeit des Blutes sagt, wenn ich auch bisher Hunderte von Bluttransfusionen verabreicht und miterlebt hatte, wie das Verfahren mittels technischer Verfeinerungen weiterentwickelt worden war. Das Gebot, „sich von Blut zu enthalten“, erlegte mir ein wirkliches Problem auf (Apg. 15:20, 29). Ich hatte ein gutes Verhältnis zu dem Ärzteteam in Santa Barbara, mit der Aussicht, eines Tages die Leitung der Abteilung Chirurgie zu übernehmen. Jedoch diktierte in jenen Tagen die „anerkannte“ Schulmedizin und Chirurgie den Gebrauch von Blut als notwendige Therapie; die Bibel verurteilt seine Verwendung als abscheulich in Gottes Augen. Um daher meiner Hingabe an Gott und meinem Entschluß, in allen Dingen seinen Willen zu tun, nachzukommen, ergab sich für mich keine andere Alternative, als meine Stellung aufzugeben.
Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte eine Frau und zwei Kinder zu versorgen. Des weiteren hatte ich noch Schulden zu begleichen, die aus der Zeit meiner chirurgischen Ausbildung stammten. Ich schaute mich nach einem Ort um, wo man dringend einen Arzt benötigte. Zusätzlich machte ich mir Gedanken, wie ich mein Können als Chirurg verwenden könnte, um Zeugen Jehovas zu helfen, denen man anderswo Operationen verweigerte, weil sie gegen die Transfusionen Einwände erhoben.
Bald erfuhr ich von einer kleinen Holzfällergemeinde namens Loyalton im Norden Kaliforniens. Dort hatte die Bundesregierung ein kleines Krankenhaus mit fünfzehn Betten errichten lassen; alles war bestens ausgestattet, es fehlte nur ein Arzt. Die Not war groß, denn im ganzen Kreis gab es keinen einzigen Arzt. Um diese Zeit war ich bereits daran gewöhnt, daß man auf mich als einen medizinisch-religiösen Sonderling herabblickte, aber ich folgerte, daß eine Gemeinde, die in solcher Not war, mich anstellen würde. Und das geschah auch.
Ungefähr vier Jahre war ich dort als praktischer Arzt und als Chirurg tätig, sammelte aber zur gleichen Zeit eine Menge Erfahrung als Prediger von Haus zu Haus. Meine Mitmenschen konnten am Modell meiner Tasche erkennen, welcher Arbeit ich gerade nachging. Meiner Familie und mir gefiel das Leben dort sehr gut, und wir fanden auch eine Anzahl Leute, die sich für ein regelmäßiges Bibelstudium interessierten. Einmal ließen sich bei einer Gelegenheit sieben Personen taufen.
Die Botschaft, die Jehovas Zeugen predigten, war für die kleinen Dörfer in diesem abgelegenen Gebiet etwas Neues, und wir machten viele interessante Erfahrungen in unserem Predigtdienst. Nachdem ich einmal eine sehr bekannte Bürgerin operiert hatte und sie aus der Narkose erwacht war, verkündete sie laut, sie wisse, daß sie nicht tot sei, denn die „Toten wissen gar nichts“, und selbst wenn sie gestorben wäre, so wäre sie nicht in eine heiße Feuerhölle gekommen, da die Hölle lediglich das Grab sei. In ihrem halbwachen Zustand verwies sie jedermann, der Fragen habe, zwecks weiterer Auskunft an mich. Einige Zeit nach ihrer Genesung ließ auch sie sich taufen.
Intoleranz der Ärzte
Was veranlaßte mich denn, von Loyalton wegzugehen, wo ich mich doch so wohl fühlte? Ein reisender Vertreter der Wachtturm-Gesellschaft fragte mich, ob ich gewillt sei, an einen Ort zu ziehen, wo meine Dienste — gemeint sind meine Dienste als vorsitzführender Aufseher einer Versammlung der Zeugen Jehovas — mehr benötigt würden als in Loyalton. Ich teilte ihm mit, daß ich dazu bereit sei, und so kam es, daß ich nach Lodi (Kalifornien) umzog.
Ich war noch keine sechs Monate dort, als es zu einer Konfrontation mit den Ärzten der Stadt wegen der Streitfrage der Bluttransfusion kam. Ein älterer Zeuge Jehovas von außerhalb der Stadt kam zu mir und suchte Hilfe. Sein Zustand war bedenklich, denn er hatte einen Tumor im Unterleib, was eine in zwei Etappen geführte Operation erforderlich machte. Bevor ich jedoch mit der ersten, einfachen Operation beginnen konnte, widersetzten sich mir die Narkoseabteilung und Beamte des Krankenhauses. Sie unterrichteten mich darüber, daß der Patient, ungeachtet der Dringlichkeit, nicht operiert werden könne, wenn er nicht Blut bekäme. Mein Einwand, der Patient habe aus religiösen Gründen ausdrücklich verlangt, kein Blut zu erhalten, fiel auf taube Ohren. Der Tatsache, daß die Operation schnell und ohne ernstes Risiko erfolgen könne, schenkte man überhaupt keine Aufmerksamkeit. Genauso beurteilte man seine Bereitschaft, die volle Verantwortung für alle Konsequenzen zu übernehmen. Es wurde ihm befohlen, das Krankenhaus zu verlassen.
Dann folgten Beratungen und Verhöre, bei denen alle Mitglieder des Ärztestabes, die Krankenhausdirektoren und die Verwalter ihren Unmut an mir ausließen. Keinerlei Erklärungen wurden angenommen. Man entließ mich fristlos aus dem Stab der chirurgischen Abteilung. Sämtliche Ärztevereinigungen im Kreis, Bundesstaat und im ganzen Land erkannten mir die Mitgliedschaft ab. Es war mir jetzt nicht mehr möglich, mich an irgendeinem anerkannten Krankenhaus in den Vereinigten Staaten um eine Arztstelle zu bewerben.a
Dies alles war eine schockierende Erfahrung für jemanden, der die Ausübung des Arztberufs als einen Ausdruck des Mitgefühls und der Menschenfreundlichkeit betrachtete. Meine früheren Erfahrungen und Vorstellungen waren wohl zu idealistisch gewesen. Jetzt verschrie man mich als Narr und Mörder. Es ist geradezu eine Ironie, daß viele meiner lautstarken Kritiker als sogenannte Missionsärzte tätig gewesen waren. Ich hatte meinen besonderen Respekt den Ärzten gegenüber völlig verloren.
Man teilte mir in dem Entlassungsschreiben mit, das Direktorium habe entschieden, künftig werde man weder Zeugen Jehovas noch andere, die nicht in ärztlich verordnete Bluttransfusionen einwilligten, im Krankenhaus behandeln. Wie unnachgiebig diese Bestimmung angewandt wurde, sollte ich schon nach wenigen Wochen kennenlernen. Meine Mutter besuchte uns und erlitt während ihres Aufenthalts bei uns zu Hause einen Herzanfall. Das Krankenhaus verweigerte die Aufnahme, obwohl keine Operation und keine Bluttransfusion nötig war. So mußte ich sie in eine andere Stadt bringen, wo sie in einem Krankenhaus aufgenommen wurde. Am darauffolgenden Tag verstarb sie.
Zeugen Jehovas als Patienten
Wieder stand ich vor der Frage: Wohin soll ich gehen? Bald erfuhr ich von einer Privatklinik in Stockton, etwa zwanzig Kilometer von Lodi entfernt, in der Osteopathen (Chirurgen, die sich hauptsächlich mit Knochenchirurgie befassen) arbeiteten. Ich nahm Verbindung mit ihnen auf, legte ihnen meine Zeugnisse vor und erklärte ihnen meinen Standpunkt in der Frage der Bluttransfusion. Sie gestatteten mir, ihre Einrichtungen zu benutzen, denn als Osteopathen waren sie nicht an den Boykott der Ärztekammer gebunden. Im Laufe der Jahre hat man die dortigen Einrichtungen sehr verbessert und erweitert. So war ich in den nächsten vierzehn Jahren als Chirurg in diesem Krankenhaus tätig. Von da an kamen meine Patienten mehr und mehr aus den Reihen der Zeugen Jehovas, denen andere Ärzte und Krankenanstalten wegen ihrer Einstellung zur Blutfrage jegliche Hilfe verweigert hatten.
Während all dieser Jahre und auch danach habe ich keine einzige Blutübertragung vorgenommen. Meines Wissens mußte deswegen kein einziger Patient sterben, obwohl sich viele einer umfassenden Operation unterziehen mußten. Es war für mich besonders erfreulich, aus erster Hand die Richtigkeit der biblischen Richtlinien über Blut zu erkennen. Die Ärzteschaft hat allmählich eingesehen, daß Blut kein harmloser Lebensretter ist. Eine Bluttransfusion wird jetzt als ein gefährliches Verfahren betrachtet, als so gefährlich wie jede andere Organverpflanzung. Medizinische Blätter sprechen heute mehr von den Gefahren dieser Methode als über die einst gepriesenen Vorteile. Hätte ich während der vergangenen dreiundzwanzig Jahre meiner Praxis routinemäßig Bluttransfusionen angeordnet, so hätte sicherlich eine Anzahl meiner Patienten unter den jetzt erkannten Gefahren zu leiden gehabt.
Die Zeugen Jehovas, die zu mir nach Stockton zur chirurgischen Behandlung kamen, verdienten im großen und ganzen meinen größten Respekt und die größte Bewunderung. Wegen ihres christlichen Gewissens waren sie willens, das eigene Leben oder das ihrer Lieben zu riskieren. Das gesamte Krankenhauspersonal hatte vor ihnen die höchste Achtung. Sie handelten stets respektvoll, machten keine Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit und verhielten sich immer rücksichtsvoll den Krankenschwestern und Pflegern gegenüber, und das wurde sehr anerkannt. In der Tat, sie erlangten einen solch guten Ruf, daß die Krankenhausverwaltung von der üblichen Formalität absah, zuerst ihre Zahlungsfähigkeit zu überprüfen, bevor sie aufgenommen werden konnten.
Nicht nur diejenigen, die dorthin kamen, um sich operieren zu lassen, legten durch ihr vorbildliches Verhalten ein gutes Zeugnis ab, sondern auch eine dort ansässige Hausfrau, die eine Zeugin Jehovas war. Jeden Tag kam sie ins Hospital und besuchte solche, die als Zeugen Jehovas eingetragen waren. Ihre Besuche schätzte man sehr, denn oft kamen die Patienten von weit her und hatten daher keine anderen Besucher. Ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft im Erfüllen der Wünsche dieser Patienten beeindruckten das Krankenhauspersonal nachhaltig; denn man bemerkte natürlich, daß niemand ihr persönlich bekannt war.
Einmal reiste ein Zeuge Jehovas fast zweitausend Kilometer weit, um sich bei mir einer größeren Operation zu unterziehen. Seine Krankenschwester war neugierig zu erfahren, warum er von so weit her gekommen sei. Kannte er etwa den Chirurgen persönlich? Nein! Hatte er von seinem Ruf gehört? Ja, er hatte von ihm gehört, aber der wirkliche Grund, warum er gekommen war, bestand in der Tatsache, daß dieser Chirurg denselben Gott anbetete und dem gleichen Gott, Jehova, diente wie er. Als die Krankenschwester mir davon erzählte, gab sie zu, daß es diese gemeinsame Anbetung und dieser gemeinsame Dienst für Jehova seien, die Jehovas Zeugen in eine solch enge Gemeinschaft zusammenschließen würden.
Man lernt nie aus
Das Amerikanische Chirurgenkollegium betont gern eine Beschreibung, die aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt und treffend zeigt, was ein guter Chirurg ist. Man kann darin folgendes lesen:
„Vier Bedingungen sollte ein Chirurg erfüllen: 1. Er sollte gut ausgebildet sein; 2. er sollte erfahren sein; 3. er sollte erfinderisch sein; 4. er sollte sich anpassen können.
Der Chirurg gehe in allem Sicheren kühn voran und fürchte das Gefährliche. Er meide alle falschen Behandlungsmethoden und Praktiken. Er sei gütig zu den Kranken, rücksichtsvoll zu seinen Mitarbeitern und vorsichtig in seinen Prognosen. Er sei bescheiden, würdevoll, sanft, mitfühlend und barmherzig und weder habgierig noch des Geldes wegen erpresserisch; statt dessen sei sein Lohn seiner Arbeit angemessen, entsprechend den Mitteln des Patienten, der Schwierigkeit des Falles angepaßt und seiner eigenen Würde gemäß.“
Es besteht kein Zweifel darüber, daß es bei einem so hohen Standard, den es anzustreben gilt, stets noch genügend Möglichkeiten gibt, sich zu verbessern; es erfordert, daß man ständig dazulernt. Eine wahre Flut medizinischer Literatur gilt es zu prüfen und zu studieren, damit man auf dem laufenden bleibt und dem Fortschritt nicht hinterherhinkt. Medizinische Tagungen und Seminare bilden ebenfalls einen bedeutenden Teil in der notwendigen Fortbildung. Mit zunehmender Erfahrung und Übung verbessert man sein technisches Können, denn ein ausgelasteter Chirurg führt täglich mehrere Operationen durch.
Für jegliche Mühe ist der Erfolg der größte und schönste Lohn, und das trifft besonders auf den Arzt zu. An der Genesung eines Patienten mitgewirkt zu haben befriedigt sehr. Man lernt daraus; aber es ist auch wahr, daß man aus seinen Fehlern und seinen Mißerfolgen lernen kann. Der Fehler eines Chirurgen kann teuer zu stehen kommen, das heißt also, daß ein guter Chirurg recht sorgfältig sein muß. Er muß ebenfalls ehrlich mit sich selbst sein und einsehen, daß Fehler nie gänzlich vermieden werden können. Sowohl er als auch seine Patienten können aus diesen ernüchternden Erfahrungen Nutzen ziehen. Glücklicherweise gilt in der heutigen Zeit kein Codex Hammurabi, denn während seiner Gültigkeit hatte kein Chirurg die Chance, aus seinen Fehlern zu lernen — ihm wurden zur Strafe beide Hände abgehackt!
Gutes Urteilsvermögen ist für einen guten Chirurgen ein wesentliches Erfordernis. Gemäß der Autobiographie eines Chirurgen, einem Bestseller, besteht der wichtigste Teil der Arbeit des Chirurgen darin, Entscheidungen zu treffen oder bei der Wahl mehrerer Möglichkeiten sich rasch zu entschließen. Durch Fleiß beim Studium, Erfahrung und technisches Können hofft ein Chirurg, auf diesen Gebieten weitere Fortschritte zu machen. Viele Ärzte betonen die Behandlung des „ganzen Menschen“, statt sich nur auf die erkrankte Stelle zu beschränken. So stimmt es auch, daß nur der ein erfolgreicher Chirurg sein kann, der gelernt hat, seinen Patienten insgesamt richtig zu sehen, und nicht nur die erkrankten Teile, sondern auch seine Gefühle und Ängste, seine Hoffnungen und sein Gewissen berücksichtigt. Man mag eine Krankheit erfolgreich behandeln, sei es durch eine Operation oder sonstwie, aber im selben Moment ein Individuum rücksichtslos zugrunde richten, wenn man sein Gewissen ignoriert. Ein Chirurg, der seinem Patienten eine unerwünschte Behandlungsmethode aufzwingt, mag sich imstande fühlen, seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Sein überlegenes Wissen in bezug auf die Krankheit mag ihm den einzuschlagenden Weg diktieren. Aber seine Unfähigkeit, das Gewissen seines Patienten zu berücksichtigen, ist eine große Schwäche und beeinflußt sein Urteilsvermögen. Er hat in einem solchen Fall nicht den „ganzen Menschen“ behandelt.
Heldentaten neuzeitlicher Chirurgie
Es ist bemerkenswert, welch gewaltige Schritte nach vorn die Chirurgie gemacht hat. Weit davon entfernt, nur ein Beruf zu sein, der sich damit beschäftigt, erkrankte Körperteile zu entfernen, wurden auch viele Fortschritte auf dem Gebiet der Wiederherstellung und Korrektion gemacht. Amputierte Gliedmaßen können wieder angenäht und angesetzt werden, neue Gelenke kann man bauen, und von Geburt an geschädigte Herzen und verkrüppelte Füße kann man wiederherstellen. Neue und verbesserte Techniken erleichtern die Kontrolle bei Blutungen. Es gibt eine ganze Anzahl ausgeklügelter und verfeinerter Operationsverfahren mittels des Laserstrahls. Chirurgen loben auch die Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter, nämlich der Narkoseärzte und der anderen Glieder ihres Operationsteams. Erfinderische Ingenieure haben zur Entwicklung neuer Instrumente und anderer Ausrüstung beigetragen.
Heute wird auch viel auf dem Gebiet der Organverpflanzung getan. Es gibt zum Beispiel Herz-, Nieren-, Lungen- und Lebertransplantationen. Aber hinsichtlich all dieser Verfahren muß ich stets an eine Bemerkung meines Vaters denken. Ich war damals gerade während meines Medizinstudiums zu Hause und nahm bei einem Patienten eine Vasektomie (Entfernung eines Teils des Samenleiters) vor, weil er sterilisiert werden wollte. Ich war stolz auf meine neuerlernte Technik und fragte meinen Vater, was er davon halte. Er erwiderte: „Der Patient ist ohne Zweifel zufrieden, aber ich frage mich, wie wohl der Schöpfer darüber denkt.“ Wegen des Standpunktes, den der Schöpfer — wie ich Grund habe zu glauben — in der Frage der Organverpflanzung einnimmt, habe ich ernstliche Vorbehalte, was ihre schriftgemäße Zulässigkeit anbetrifft.
Ja, man kann den Schöpfer bei der Chirurgie nicht außer acht lassen. Es ist, wie Dr. Alexis Carrel treffend in seinem Buch Der Mensch, das unbekannte Wesen bemerkte: „Dank dem ungeheuren Scharfsinn und Wagemut ihrer Methoden hat sie [die Chirurgie] die kühnsten ärztlichen Hoffnungen aus früheren Zeiten weit überflügelt“, jedoch bleibt die Tatsache bestehen, daß sogar „im besten Krankenhaus ... die Wundheilung ... vor allem anderen davon ... [abhängt], wie wirkungsvoll die Anpassungsfunktionen [des Körpers] arbeiten“. In anderen Worten, alles hängt ab von den Heilkräften, die der Schöpfer in den menschlichen Körper eingebaut hat.
Meine Tätigkeit als christlicher Prediger
So bemerkenswert die Heldentaten der modernen Chirurgie auch sein mögen, so stimme ich doch als Chirurg und christlicher Prediger mit Jesus Christus überein, daß geistige Werte höher einzustufen sind als materielle und physische Dinge (Matth. 16:26). Was bedeutet das? Der christliche Prediger, der die Menschen auf die Hoffnung des ewigen Lebens hinweist, kann ihnen mehr Gutes zukommen lassen als irgendein neuzeitlicher Chirurg, der ihnen bestenfalls helfen kann, einige wenige kurze Jahre zu leben. Das war der Grund, warum ich willens gewesen bin, vor Jahren meine gutgehende Praxis in Santa Barbara aufzugeben. Außerdem liegt klar auf der Hand, daß sich der Tag nähert, an dem der Beruf des Chirurgen überflüssig wird. Könnte ich mein Leben nochmals von vorne beginnen, würde ich nicht mehr die langjährige Schulung und Ausbildung auf mich nehmen, um ein Chirurg zu werden, sondern würde statt dessen meine Zeit ausschließlich dem christlichen Predigtdienst widmen.
Heute erfreue ich mich eines reichen und ausgefüllten Lebens. Meine beiden Kinder, inzwischen erwachsen und verheiratet, dienen ebenfalls als christliche Prediger. Der eine dient als Ältester in einer Versammlung, der andere als Missionar in einem fernen Land. Meine Frau und ich stehen jetzt im Vollzeitdienst und arbeiten im Hauptbüro der Watchtower Society in New York; wir helfen anderen Vollzeitdienern und vielen anderen, soweit ihre Nöte dies erforderlich machen. Ich will hinzufügen, daß all diese Vorrechte auch mir zum Wohle gereichten, so daß ich wahrhaftig die Worte des weisen Schreibers aus Sprüche 10:22 auf mich beziehen kann: „Der Segen Jehovas — der macht reich, und keinen Schmerz fügt er ihm hinzu.“ (Eingesandt.)
[Fußnote]
a Zwölf Jahre später wurde mir nahegelegt, erneut ein Gesuch einzureichen (alle vorigen waren abgelehnt worden), und mir wurde schließlich wieder die volle Mitgliedschaft in den Ärztevereinigungen gewährt.