Einheimische Spitzen
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Brasilien
SIEHST du die Frau dort sitzen, die mit größter Aufmerksamkeit auf das vor ihr liegende Polster blickt, während ihre Hände hin und her gleiten? Was macht sie? Sollen wir zu ihr hingehen?
Etwas, was auf dem Polster liegt, beansprucht ihre ganze Aufmerksamkeit. „Was machen Sie?“ fragen wir sie. Sie entgegnet: „Einheimische Spitzen.“
Da diese Spitzen auf einem Polster oder Kissen verfertigt werden, nennt man sie hier auch renda de almofada, das heißt Kissenspitzen. Anderswo bezeichnet man sie als Klöppelspitzen, weil die kleinen Spulen aus Holz, die dabei verwendet werden, Klöppel genannt werden.
Warum „einheimische“ Spitzen?
Man nennt sie so, weil sie hier im nordöstlichen brasilianischen Bundesstaat Ceará verfertigt werden und nicht aus einem anderen Bundesstaat stammen oder aus dem Ausland eingeführt werden. Das bedeutet aber nicht, daß solche Spitzen nicht auch anderswo hergestellt werden, zum Beispiel im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina sowie in verschiedenen europäischen Ländern. Aber handgeklöppelte Spitzen und Klöpplerinnen sind für den Staat Ceará so charakteristisch, daß man in Fortaleza (Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Ceará) neben der neuen Bank von Brasilien eine überlebensgroße Statue errichtet hat, die eine Klöpplerin darstellt.
Wie kam es, daß man in diesem Staat anfing zu klöppeln? Man nimmt an, daß die Frauen der ersten portugiesischen Kolonisten diese Kunst hier eingeführt haben. Sie mögen sie von Französinnen erlernt haben. Seither wird sie von einer Generation an die nächste weitergegeben: Die Mütter lehren sie ihren Töchtern, und diese lehren sie wieder ihren Töchtern und so fort. Diese Methode ist derart erfolgreich gewesen, daß das Klöppeln als Hausindustrie bezeichnet werden kann. Neuerdings gibt es allerdings viele junge Mädchen, die es nicht mehr lernen wollen, sondern lieber außerhalb des Hauses einer besser bezahlten Arbeit nachgehen. Wir stellen uns nun neben eine der Klöpplerinnen und schauen ihr zu.
Wie geklöppelt wird
Als erstes betrachten wir ihre unentbehrlichen Werkzeuge: Kissen, Faden und Klöppel. Das walzenförmige Kissen ist etwa 60 Zentimeter lang und hat einen Durchmesser von 30 Zentimetern.
Einige Klöpplerinnen arbeiten, indem sie das Kissen auf dem Boden liegen haben und davor knien. Andere legen es auf einen Stuhl und sitzen während der Arbeit.
Gewöhnlich werden die Spitzen aus Baumwollfaden hergestellt — für ganz zarte Spitzen nimmt man feinen Faden und für dickere Spitzen gröberen. Es werden auch bunte Spitzen verfertigt, doch in der Regel sind sie weiß.
Ein wichtiger Gegenstand zum Klöppeln ist der Klöppelbrief, eine Mustervorzeichnung auf steifem Papier mit einzelnen durchstochenen Punkten. Diese Zeichnung heftet man auf das Kissen. Die Löcher des Musterbriefes werden bei der Arbeit mit Nadeln besteckt. Während diese wächst, werden die Stecknadeln herausgezogen und weiter unten auf dem Klöppelbrief wieder eingesteckt. Vielleicht ist dir aufgefallen, daß es keine gewöhnlichen Stecknadeln sind, denn sie dürfen nicht rosten.
Die Fäden, die um die Stecknadeln geschlungen werden, sind auf kleinen Holzspulen von etwa 15 Zentimeter Länge aufgewickelt, die mit einem Griff versehen sind. Bevor die Klöpplerin eine neue Spitze beginnt, wickelt sie den Faden auf zwei Klöppel, die eine Hälfte auf den einen, die andere Hälfte auf den andern. Wie viele Klöppel sie verwendet, hängt vom Muster und von der Breite der Spitze ab. Manchmal werden ein halbes Dutzend oder sogar mehrere Dutzend Klöppel gebraucht. Und die Länge der Spitze, die verfertigt werden soll, ist ausschlaggebend dafür, wieviel Faden die Klöpplerin aufwickelt. Natürlich kann sie, wenn nötig, einen weiteren Faden anknoten, und das fast unsichtbar.
Wir staunen über die Geschicklichkeit und Gewandtheit der Klöpplerin, die mit flinken Händen arbeitet und genau weiß, welchen Klöppel sie als nächstes nehmen und wann und wie oft sie ihn drehen muß, bevor sie zum nächsten greift. Je nach dem Muster dreht oder kreuzt sie die Klöppel, so daß zarte Blättchen, eine Kette oder ein Netz entsteht.
Muster für jeden Geschmack und jeden Zweck
Es werden feine und gröbere Spitzen in vielen verschiedenen Mustern und unterschiedlichen Breiten verfertigt. Und es werden nicht nur Spitzen mit geraden Rändern, sondern auch solche mit Bogen oder Zacken geklöppelt. Außerdem können sie als Viereck oder als Passe hergestellt werden. Viereckige Spitzen und Passen für Blusen können entweder in einem Stück oder in zwei Hälften verfertigt werden, die man dann in der Mitte zusammennäht — so fein, daß nur ein geübtes Auge sehen kann, daß eine solche Spitze nicht in einem Stück gearbeitet ist.
In den hiesigen Geschäften und auf den Märkten sieht man viele schöne mit diesen prächtigen Spitzen verzierte Blusen. Aber auch Nachthemden sind zu haben. Ferner gibt es hier wunderschöne kleine Deckchen, Tischdecken und Bettüberwürfe, entweder mit Spitzen verziert oder ganz aus Spitze. Es ist nicht verwunderlich, daß die Nachfrage nach diesen schönen Spitzen sowohl hier als auch im Ausland groß ist.
Solltest du jemals nach Fortaleza kommen, dann vergiß nicht, auch die fleißigen Mädchen und Frauen zu besuchen, die die hübschen einheimischen Spitzen klöppeln.