Die Kirche von England eine „bedrohte Art“?
IN LETZTER Zeit sind in England so viele „Gotteshäuser“ geschlossen worden, daß eine Zeitung von der Kirche als von einer „bedrohten Art“ sprach. Im Laufe von 15 Jahren hat man rund 1 000 Kirchen abgebrochen, weil sie nicht mehr benutzt wurden. Nach einer Meldung der Associated Press werden „jährlich im Durchschnitt 85 anglikanische Gotteshäuser“ für „überzählig“ erklärt, das heißt, sie werden nicht mehr benötigt.
Warum stehen so viele „Gotteshäuser“ der Kirche von England leer? Aus London berichtet Brian Dunning, der Korrespondent des Kansas City Star: „Das hat einen ganz einfachen, allerdings traurigen Grund: Es gibt zuwenig Christen. Viele Kirchen, die früher bis auf den letzten Platz besetzt waren, sind jetzt leer.“
Selbst an hohen Festtagen wie Ostern gehen weniger als 10 Prozent der getauften Anglikaner zur Kirche. Warum so wenige? Brian Dunning schreibt: „Ein Grund ist die merkwürdige Geschichte des ,offiziellen‘ Christentums in England. Seitdem König Heinrich VIII. mit Rom brach, ist die Kirche in England Staatskirche.“
Wie hat das zu ihrem Verfall beigetragen? Wie der anglikanische Geistliche Ronald Michaels schrieb, „empfinden viele Leute diese Verbindung zwischen Kirche und Staat als beklemmend“, und sogar der Erzbischof von Canterbury gebe zu, „daß seine Kirche eine Gefangene der Geschichte“ sei.
Welche geschichtliche Entwicklung ist mitverantwortlich dafür, daß die Kirche von England heute als eine „bedrohte Art“ bezeichnet wird? Wir können es uns erklären, wenn wir einen Blick in die Vergangenheit werfen.
Die Entstehung der Kirche
Die Ereignisse, die zur Entstehung der anglikanischen Kirche führten, liegen fast 500 Jahre zurück. Sie spielten sich zur Zeit Heinrichs VII., eines Anhängers der römisch-katholischen Kirche, ab. Heinrichs ältester Sohn, Arthur, war mit der spanischen Infantin Katharina von Aragonien verheiratet. Aber dann starb Arthur. König Heinrich VII., bemüht, die Freundschaft zwischen Spanien und England aufrechtzuerhalten, bestimmte, daß sein zweiter Sohn, Heinrich — der spätere Heinrich VIII. — Katharina heiraten sollte.
Nach dem kanonischen Recht war es indessen ungesetzlich, den jungen Heinrich mit der Witwe seines verstorbenen Bruders zu verheiraten. Doch König Heinrich VII. unterhielt gute Beziehungen zu dem damaligen Papst, Julius II., und verlangte deshalb Dispens von dem kanonischen Ehehindernis. Der Papst, der dem englischen König einen Gefallen erweisen wollte, gewährte sie. Nun stand einer Vermählung nichts mehr im Wege.
Als Heinrich VII. im Jahre 1509 starb, erbte der junge Heinrich den Thron und wurde, wie erwähnt, Heinrich VIII. Kurz danach heiratete er Katharina, die ihm mehrere Kinder gebar. Von allen blieb aber nur eine Tochter am Leben, nämlich Maria (später als „Maria die Blutige“ bekannt). Heinrich, der unbedingt einen Thronerben wollte, sann darüber nach, wie er sich scheiden lassen und eine jüngere Frau heiraten könnte, die ihm einen Sohn schenken würde.
Im Jahre 1527 wandte sich Heinrich an den neuen Papst, Clemens VII., und ersuchte ihn um Annullierung seiner Ehe mit der Begründung, sie sei von Anfang an illegitim gewesen. Clemens wollte Heinrich nicht beleidigen, denn dieser war ein treuer Katholik. Deshalb wäre er sicher nur zu gern bereit gewesen, die Ehe zu annullieren.
Aber gerade zu der Zeit, da Heinrich die Bitte an Papst Clemens VII. richtete, war dieser sozusagen der Gefangene des deutschen Kaisers Karl V., der Rom eingenommen und den Papst in seiner Gewalt hatte. Außerdem war der deutsche Kaiser der Neffe Katharinas, der Frau Heinrichs! Katharina wußte, daß ihr Neffe für die Erhaltung der Ehe eintreten würde, und der Papst wußte das auch. Deshalb war es für ihn sehr schwierig, der Bitte Heinrichs zu entsprechen, denn er mußte damit rechnen, daß der deutsche Kaiser Maßnahmen ergreifen würde, die sich für den Papst und die päpstlichen Besitzungen vielleicht katastrophal auswirkten.
Eigenmächtiges Vorgehen Heinrichs
Der Papst war darauf aus, Zeit zu gewinnen, denn er hoffte, seine politische Lage werde sich ändern. Aber Heinrich ging die Geduld aus. Für ihn stand bereits fest, wer die künftige Königin werden sollte: eine hübsche Hofdame namens Anna Boleyn.
Heinrich war der Meinung, es sei unverantwortlich, wegen zweier ausländischer Mächte — der deutsche Kaiser und der Papst — den englischen Thron zu gefährden. Deshalb ergriff er drastische Maßnahmen, um sein Eheproblem zu lösen. Er entmachtete den katholischen Kardinal Wolsey und forderte dann die gesamte Geistlichkeit auf, ihn, Heinrich VIII., als Oberhaupt der englischen Kirche und der englischen Geistlichkeit anzuerkennen.
Es folgten eine Reihe von Parlamentsbeschlüssen, die darauf abzielten, alle Brücken nach Rom abzubrechen. Geldsendungen nach Rom wurden verboten. Ein weiterer Beschluß verbot Appellationen gegen einen Entscheid des Königs nach Rom. So war Katharina wirkungsvoll vom Papst abgeschnitten, und die päpstliche Macht in England war gebrochen.
Heinrich, der immer noch Katholik war, heiratete insgeheim Anna Boleyn mit der Begründung, seine Ehe mit Katharina sei ungültig. Am 1. Juni 1533 wurde Anna zur Königin gekrönt. Im Juli sprach der Papst den Bannfluch gegen Heinrich aus.
Die Reformation nimmt Gestalt an
Während dieser ganzen Zeit war die Kirche in England im wesentlichen unverändert geblieben. Sie war immer noch katholisch. Sie mußte sich noch zur Kirche von England mit eigenen Lehren und eigenem Charakter entwickeln.
In den letzten Regierungsjahren Heinrichs VIII. erfolgte die Festigung der anglokatholischen Kirche als Landeskirche. Durch das „Suprematsgesetz“ wurde Heinrich das irdische Haupt der englischen Kirche.
Heinrich war stolz auf seinen katholischen Glauben, und ein Parlamentsbeschluß von 1539 gebot wieder das Festhalten an den katholischen Lehren. Personen, die aufrichtig bemüht waren, Reformen durchzuführen, wurden dadurch bitter enttäuscht, aber ihr Widerstand war nicht erfolgreich. Sie mußten noch acht Jahre warten — bis zum Jahre 1547, als Heinrich VIII. starb und Eduard VI., Sohn der Johanna Seymour, der dritten seiner sechs Frauen, auf den Thron kam.
Beginn der Reformen
Eduard VI. war von protestantischen Lehrern erzogen worden. Er regierte nur sechs Jahre, aber doch lange genug, daß Erzbischof Thomas Cranmer Reformen durchführen konnte.
Nach dem Tod Eduards VI. im Jahre 1553 gelangte Maria, eine Tochter Heinrichs VIII., die ihm Katharina von Aragonien geboren hatte, auf den Thron. Wie ihre Mutter, so war auch Maria streng katholisch und eine Unterstützerin des Papstes. Ihr Ziel bestand darin, die Kirche wieder der Autorität des Papstes zu unterstellen. Erfolgte Reformen wurden rückgängig gemacht. Evangelisch gesinnte liberale Kirchenführer wurden abgesetzt. Fast 300 Protestanten wurden hingerichtet, darunter auch Erzbischof Cranmer.
Da Maria keine Nachkommen hatte, gelangte nach ihrem Tod im Jahre 1558 Elisabeth, eine andere Tochter Heinrichs VIII., die ihm Anna Boleyn geboren hatte, auf den Thron. Königin Elisabeth war nur dem Namen nach katholisch, und schon kurz nach ihrer Thronbesteigung hob sie alle Verfügungen Marias über kirchliche Dinge auf und setzte das wieder in Kraft, was vor Eduards Tod Geltung gehabt hatte.
Im Jahre 1570 wurde Königin Elisabeth von Papst Pius V. exkommuniziert. Alle ihre Untertanen wurden des Eides der Treue ihr gegenüber entbunden, und sie wurde ihres Reiches für verlustig erklärt. Das stürzte die Katholiken in einen Konflikt in bezug auf ihre Treue, und manch einer mußte vorzeitig sterben. Nun gab es keine Hoffnung mehr auf eine Versöhnung.
Doch der Papst gab nicht auf. Als letzte Möglichkeit wandte er sich an Philipp II., König von Spanien. Als der Papst ihm finanzielle Hilfe versprach, rüstete Philipp eine große Armada aus, und im Jahre 1588 sandte er sie gegen Elisabeth und ihr protestantisches Land. Aber seine Flotte wurde vernichtend geschlagen und später vom Sturm zerstört.
Nun drohte der Reformation keine Gefahr mehr. Der Bruch mit Rom war vollständig. England hatte jetzt seine Staatskirche, über die der Papst nicht die geringste Autorität mehr besaß. Doch diese enge Verbindung von Staat und Kirche entfremdete der Kirche im Laufe der Zeit mehr und mehr Mitglieder. Die Entstehung der Freikirchen ist ein Beweis dafür. Wie der anglikanische Geistliche Ronald Michaels schrieb, empfinden heute viele diese enge Verbindung als beklemmend. „Die Kirche muß sich befreien. Sie kann keine kämpferische Kirche sein, wenn sie ständig über die Schulter hinweg nach der Regierung schauen muß ..., wenn sie den Eindruck erweckt, Vertreterin der Regierungspolitik zu sein.“
Die Existenz der Kirche von England, die so streng vom Staat kontrolliert wird, daß er ihre höchsten Würdenträger ernennt und daß sogar der Inhalt des Common Prayer Book vom Parlament genehmigt werden muß, ist eine Art Anachronismus. Diese Situation ist mit ein Grund, warum die Zahl ihrer Mitglieder schwindet. Ist es da verwunderlich, daß von dieser Kirche gesagt wird, sie sei eine „bedrohte Art“?
[Bild auf Seite 25]
KATHEDRALE VON CANTERBURY