Die Not der jungen Leute von heute
DIE Not der jungen Leute? Geht es in vielen Teilen der Welt den jungen Leuten heute denn nicht so gut wie nie zuvor? Ja und nein. Die jungen Leute von heute haben in materieller Hinsicht mehr als frühere Generationen, aber sie leiden auch unter einem einzigartigen Druck. Statistiken über Kriminalität und Selbstmord unter Jugendlichen in Wohlstandsländern zeigen, daß das Glück der heutigen Jugend nicht mit Geld erkauft werden kann. Es folgen einige Beispiele.
Verlust der Selbstachtung
Forscher aus Chicago befragten in den 60er Jahren 1331 Teenager und von Ende der 70er Jahre bis einschließlich 1980 eine ähnliche Gruppe. Ihre Schlußfolgerung? „Nach einer Zeitspanne von etwa 18 Jahren scheint die Selbsteinschätzung amerikanischer Teenager entscheidend weniger positiv zu sein.“ Gemäß der Studie sind die heutigen Teenager weniger zuversichtlich und haben niedrigere Sittenmaßstäbe. Etwa ein Fünftel von ihnen sagen, daß sie meistens emotional leer und verwirrt sind und lieber sterben als weiterleben würden.
Wieso dieser Wandel? Folgender Brief eines 19jährigen veranschaulicht einen der wichtigsten Gründe: „Wie so viele Jugendliche der heutigen Gesellschaft komme ich aus einer zerrütteten Familie“, schrieb Robert. „In der ganzen Familie wurde immer gestritten und gezankt. Sehr wenig Liebe, wenn überhaupt. Jeder ging seine eigenen Wege. Sehr wenig elterliche Führung in der schwierigen Zeit des Heranwachsens. Es war sehr schwer für mich. Keine Zucht und keine erbaulichen Bemerkungen über meine Leistungen. Statt dessen wurde ich kritisiert. Das führte dazu, daß ich mich ungeliebt und unerwünscht fühlte und verletzt und unglücklich war, aber nicht wußte, warum. Ich wuchs auf wie eine Kletterpflanze an einem Lattenzaun. Als ich mich vom Zaun entfernte, war niemand da, der mich auf den rechten Weg zurückführte.“ Roberts Geschichte ist nichts Ungewöhnliches heutzutage.
Die Jugendlichen sind auch von der Politik enttäuscht. „In meinem Innersten glaube ich, daß die Welt keine fünf oder zehn Jahre weiterbestehen wird“, sagte ein junger Straßenkämpfer aus Amsterdam. „Wir sind jetzt so weit, daß wir uns weigern, die Verantwortung für ein System zu übernehmen, das wir nicht gutheißen.“
Welche Wirkung rufen diese Verhältnisse bei den heutigen Jugendlichen hervor? Im Grunde eine Entfremdung — das Gefühl, daß sich niemand dafür interessiert, ob sie leben oder sterben. Kommt zu dieser Entfremdung noch das Gefühl hinzu, daß die Welt keine Zukunft hat, können erschreckende Folgen eintreten.
Selbstmord-„Epidemie“
Der vielleicht extremste Ausdruck der Entfremdung und Hoffnungslosigkeit ist der Selbstmord. Es überrascht nicht, daß die Selbstmordrate unter jungen Leuten in vielen westlichen Ländern ständig steigt. „Die Zahl der Kinder, die mit Selbstmord drohen und Selbstmordversuche unternehmen, ist gestiegen“, sagte die Psychiaterin Dr. Cynthia Pfeffer. „Studien in den 60er Jahren deuteten an, daß nicht mehr als zehn Prozent der Kinder, die in ambulante Behandlung kamen, ein Selbstmordverhalten zeigten. Aber bei einer Studie, die ich vor kurzem durchführte, hatten dreiunddreißig Prozent der Kinder Selbstmordgedanken.“
Selbstmord ist heute eine der häufigsten Todesursachen unter amerikanischen Teenagern. Im Jahre 1978 beispielsweise brachten sich 3 500 Jugendliche zwischen 20 und 24 Jahren um, mehr als zweimal soviel wie 10 Jahre zuvor. Selbst diese entsetzlichen Zahlen spiegeln nur einen ganz geringen Teil der jugendlichen Verzweiflung wider. „Das Zahlenverhältnis zwischen Selbstmordversuchen und tatsächlichen Selbstmorden unter jungen Leuten beträgt fünfzig zu eins“, berichtete Dr. Calvin Frederick vom National Institute of Mental Health.
Welle der Jugendkriminalität
Nicht alle frustrierten Teenager begehen Selbstmord. Manche werden statt dessen zu Mördern. „Die Gruppe mit den meisten potentiellen Mördern sind in Amerika die 18- bis 22jährigen“, hieß es in einem neueren Bericht. „Im Jahre 1979 — so sagt der FBI — hatten sie bei allen Verhaftungen wegen Mordes einen Anteil von 25 Prozent.“ Aus anderen Ländern kommen ähnliche Berichte — Jugendbanden in den Straßen Brasiliens, Gewalttätigkeit in den Schulen Japans und Jugendkriminalität in Indien.
Das Problem besteht nicht nur in der Zahl der Verbrechen, die heute von Jugendlichen begangen werden. Das wahre Problem ist ein geistiges. Gilbert Kelland, Chef des Scotland Yard, drückte es wie folgt aus: „Sie schämen sich kaum, wenn sie erwischt werden ... Die Moral ist dahin.“
Schon immer haben auch Jugendliche Verbrechen begangen. Allerdings brachten sie gewöhnlich, wenn sie erwischt wurden, Reue zum Ausdruck. Doch immer mehr Jugendliche von heute scheinen nicht zu wissen, daß ihre Verbrechen verkehrt sind, und machen sich auch keine Gedanken darüber. Wie könntest du dir sonst erklären, warum zwei Teenager aus Cleveland (USA) einem anderen Jugendlichen 60 Dollar gaben, damit er ihren Vater umbringe, „weil er sie nicht tun ließ, was sie wollten, wie zum Beispiel Pot rauchen“? Sie ließen die Leiche ihres Vaters im Wohnungsflur liegen, nahmen seine Kreditkarten und seinen Monatslohn und gaben sich einer 10tägigen Kauforgie hin.
Kein Empfinden für Werte
Gewöhnlich sind die Beweise dafür, daß die jungen Leute von heute ohne ein wahres Empfinden für Werte aufwachsen, nicht von solch tragischer Art. Schließlich sind die meisten jungen Leute keine kaltblütigen Mörder. Aber selbst normale Jugendliche in wohlhabenden Vororten weisen beunruhigende Veränderungen im Vergleich zu der entsprechenden vorhergehenden Generation auf. Ein pensionierter Lehrer schrieb über die neue Generation, daß bei Diskussionen im Unterricht „schnell leichtfertige Erwiderungen kommen, denen ein Rationalisieren und Klischeevorstellungen zugrunde liegen, die Gedankenlosigkeit, Geringschätzung menschlichen Lebens, ... ungesunden Zynismus, Mißtrauen, Intoleranz gegenüber Ideen, Werten und Allgemeinbegriffen verraten“.
Wie verantwortungslos, eine Generation junger Leute mit wenigen Idealen, einem schwachen Ehrgefühl und ohne Gespür für Recht und Unrecht aufwachsen zu lassen! Und doch geschieht das in der ganzen Welt. „Die heutigen Studenten haben das Gefühl, sie befänden sich auf einem sinkenden Schiff, sagen wir, auf einer Titanic, die den Namen ,Vereinigte Staaten‘ oder ,Welt‘ trägt“, hieß es in einer neueren Studie des Carnegie Council on Policy Studies in Higher Education. „Der heutige Fatalismus schürt einen Geist des Hedonismus [Streben nach Sinnenlust]. Die Studenten sind immer mehr davon überzeugt, daß sie, wenn sie schon dazu verurteilt sind, auf der Titanic zu reisen, wenigstens ... erster Klasse fahren sollten, denn ihrer Meinung nach gibt es nichts Besseres.“
Hast du als junger Mensch das Empfinden, daß die ältere Generation zu schnell mit dem Finger auf dich zeigt? Welchen Grund könntest du auch haben, in das gegenwärtige System der Dinge Vertrauen zu setzen? Die heutigen Jugendlichen sind in einer Generation des politischen Skandals aufgewachsen. Warum sollten sie danach streben, eine Welt zu bessern, die hoffnungslos korrupt zu sein scheint? Jugendliche in Wohlstandsländern können nach einem üppigen Mahl das Fernsehgerät einschalten und sehen, wie die Bevölkerung in anderen Ländern verhungert. Sie können sich Politiker anhören, die befürworten, daß Milliarden von Dollar für Waffen statt für Nahrungsmittel ausgegeben werden. Warum sollten Jugendliche eine Weltordnung unterstützen, die eine solch verdrehte Zielsetzung hat? Warum sollten sie ihr Vertrauen in eine Welt setzen, die immer mehr entschlossen zu sein scheint, sich selbst in die Luft zu sprengen?
Nimm aber einmal an, die Welt könnte tatsächlich geändert werden. Nimm an, die Drohung eines Atomkrieges könnte schwinden — zusammen mit Hunger, Krankheit und politischer Korruption. Wäre das Leben in einer solchen Welt nicht weitaus sinnvoller? „Unmöglich!“ sagst du? Sicher ist die Geschichte der menschlichen Selbstverwaltung kein Grund für eine Hoffnung auf eine solche Welt. Aber wie wäre es, wenn eine andere Macht diesen Wechsel vornehmen würde? Wärst du als junger Mensch an einer solchen Welt interessiert?
[Bild auf Seite 4]
Selbstmord ist eine der häufigsten Todesursachen unter amerikanischen Teenagern.