‘Ein Mann wird Vater und Mutter verlassen’
„EINES Tages, als unser Sohn nach Hause kam, merkten wir ihm an, daß er etwas auf dem Herzen hatte“, erzählte Tom. „Er setzte sich zu uns, zu meiner Frau und mir, und sagte: ,Also meine Lieben, ich habe das Mädchen gefunden, das ich heiraten werde.‘“
Gott wußte im voraus, daß sich das immer wiederholen würde, als er sagte: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen, und er soll fest zu seiner Frau halten, und sie sollen ein Fleisch werden“ (1. Mose 2:24). Es ist somit unumgänglich, daß dein Kind eines Tages von zu Hause weggeht.
Das heißt natürlich nicht, daß Kinder aus dem Elternhaus ausziehen sollten, wenn sie das Alter dazu noch gar nicht haben. Es steht jedoch in den Psalmen geschrieben: „Wie Pfeile in der Hand eines Starken, so sind die Söhne der Jugend.“ Früher oder später verlassen die Pfeile den Köcher und werden ins Leben „abgeschossen“ (Psalm 127:4).
So, wie du über einen abgeschossenen Pfeil keine Macht mehr hast, so untersteht auch dein erwachsenes Kind, wenn es das Elternhaus verlassen hat, nicht mehr deiner Gewalt. Dein Sohn wird, wenn er heiratet, selbst Haushaltsvorstand, und deine Tochter untersteht nach der Heirat ihrem Ehemann (Epheser 5:21-28, 33).
Aus der Bibel geht hervor, daß es Eltern schwerfällt, ihre elterliche Gewalt nicht mehr auszuüben. Jesu Mutter zum Beispiel hatte anscheinend das Gefühl, daß ihr Sohn, nachdem er herangewachsen und zum Messias gesalbt worden war, in gewisser Hinsicht immer noch ihrer Gewalt unterstehe. Auf einer Hochzeit sagte sie zu Jesus: „Sie haben keinen Wein.“ (Das war ein leiser Wink, etwas zu tun.) Freundlich, aber bestimmt erinnerte Jesus sie daran, daß er jetzt mündig sei — und vollbrachte sein erstes Wunder (Johannes 2:2-11).
Der Patriarch Jakob hatte in dieser Hinsicht ebenfalls gewisse Schwierigkeiten. Rahel, die von ihm innig geliebte Frau, war bei der Geburt Benjamins gestorben. Natürlich hing Jakob nun mit besonderer Liebe an diesem Sohn. Als Benjamin nach Ägypten reisen sollte, wollte Jakob ihn nicht gehen lassen. Er sagte: „Es mag ihm sonst ein tödlicher Unfall zustoßen“ (1. Mose 35:16-18; 42:4).
Während der Wunsch normal ist, das Kind bei sich zu behalten, ist es doch vernünftig, sich damit abzufinden, daß es jetzt erwachsen und selbständig ist.
„Wie du mir weh tust!“
„Müssen sie denn so weit wegziehen?“ sagen manche Eltern vorwurfsvoll. „Warum können sie nicht ein selbständiges Leben führen und trotzdem in unserer Nähe wohnen?“
Es kann weh tun, wenn die Kinder fortziehen. In dem Bibelbericht über Rebekka, die weit wegziehen sollte, um zu heiraten, heißt es zum Beispiel, daß ihre Mutter und ihr Bruder die Bitte äußerten: „Das Mädchen soll noch eine Zeitlang bei uns bleiben, etwa zehn Tage, dann mag sie sich auf die Reise begeben.“ Wie schwer fiel es ihnen, sie gehen zu lassen! Doch Rebekka sagte ja, als man sie fragte, ob sie gehen wolle, obschon sie damit rechnen mußte, ihre Familie nie mehr zu sehen (1. Mose 24:55, 58, Einheitsübersetzung).
Dein erwachsenes Kind mag aus einem berechtigten Grund — zum Beispiel wegen besserer Arbeitsmöglichkeiten — den Wohnsitz wechseln. Ungebührlicher Widerstand kann sich verheerend auswirken. So berichtete eine junge Frau: „In der ersten Zeit unserer Ehe hatten wir das Bedürfnis, viel Zeit gemeinsam zu verbringen. Aber meine Mutter begriff das nicht. Anstatt uns ein bißchen in Ruhe zu lassen und zu warten, bis wir sie besuchten, kam sie ständig zu uns.“ Das Verhältnis verschlechterte sich noch, als das junge Ehepaar wegziehen wollte. Es kam zwischen Mutter und Tochter zu einer ausgesprochenen Feindschaft. „Wo heißt es, daß die Pflicht, Vater und Mutter zu ehren, erfüllt ist, wenn man heiratet? Bin ich dir nicht immer eine gute Mutter gewesen?“ sagte die Mutter bitter zu ihrer Tochter. Wie wirkte sich ein solches Verhalten aus? Der Streit belastete nicht nur die Ehe der jungen Leute, sondern zwischen Mutter und Tochter entstand auch eine tiefe Kluft. Monatelang sprachen sie beide nicht mehr miteinander. Dabei hatte früher ein inniges Verhältnis zwischen ihnen bestanden.
In dem Buch No Strings Attached heißt es: „Wenn du eine Duldermiene aufsetzt, weil dein Kind von zu Hause weggeht (,Wie du mir weh tust!‘ ,Wie du deinem Vater [deiner Mutter] weh tust!‘ ,Wie kannst du uns das bloß antun!‘), stößt du es wahrscheinlich noch weiter von dir weg“ (Kursivschrift von uns).
Der Vater in Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn erkannte diese Gefahr. Als sein erwachsener Sohn das Elternhaus verlassen wollte, schimpfte er ihn nicht aus, noch drohte er ihm, daß es ihm in der Fremde schlechtgehen werde. Vielmehr blieb er freundlich und ließ ihn gehen. Vermutlich trug diese verständnisvolle Haltung viel dazu bei, daß der Sohn später wieder nach Hause zurückkehrte. Die erwachsenen Kinder ihr eigenes Leben leben zu lassen, auch wenn sie sich plagen müssen, mag ausschlaggebend dafür sein, daß das freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen und den Eltern bestehenbleibt (Lukas 15:11-24; siehe auch Philipper 2:4).
„Was gefällt ihm nur so an ihr?“
„Man möchte doch das Beste für seine Kinder, und wenn man sieht, daß sie sich gut verheiratet haben, ist man glücklich“, sagte Norma. Tom, ihr Mann, fügte hinzu: „Da bin ich ganz offen. Wir haben so viel Zeit in die Erziehung unserer Tochter investiert, daß ich nicht bereit war, sie dem erstbesten zu geben, der daherkam.“ Manchmal sind die Eltern über die Partnerwahl ihres Kindes bitter enttäuscht. Wie würdest du reagieren? (Vergleiche 1. Mose 26:34, 35.)
Wäre es nicht am besten, sich zu bemühen, dem neuen Familienmitglied gegenüber positiv eingestellt zu sein? Studien lassen erkennen, daß der Bestand einer Ehe zu einem großen Teil davon abhängt, ob die Eltern den Ehepartner ihres Kindes akzeptieren oder nicht.a Die Wahl deines Kindes mag dich zwar überraschen oder gar verwundern. In Gottes Augen ist die Ehe jedoch ehrbar (Hebräer 13:4).
Anstatt „Mücken zu seihen“ und nur die Fehler des Schwiegersohnes oder der Schwiegertochter zu sehen, sollte man sich bemühen, objektiv zu sein. Man sollte versuchen, den Schwiegersohn oder die Schwiegertochter mit den Augen seines Kindes zu sehen. Bestimmt hat er oder sie auch gute Seiten. Ferner darfst du nicht vergessen, daß dein Sohn oder deine Tochter ebenfalls nicht vollkommen ist. Ein Vater, der mit der Partnerwahl seines Kindes nicht ganz einverstanden war, räumte ein: „Um mit dem Problem fertig zu werden, braucht man eine gewisse Portion Demut. Mir fiel dann ein, daß das Mädchen, das ich gewählt hatte, meinen Eltern auch nicht gefiel, doch wie sehr hatten sie sich getäuscht!“
Die Abneigung, die Eltern gegen den Partner haben mögen, den ihr Kind sich ausgesucht hat, mag in Wirklichkeit nicht mit der Person des Partners zusammenhängen, sondern die Folge einer gewissen Eifersucht sein — sie befürchten, die Liebe ihres Kindes zu verlieren. Eifersucht aber kann ein gutes Verhältnis zerstören (Sprüche 14:30). Bemühe dich daher, gute Beziehungen zu deinem Schwiegersohn oder deiner Schwiegertochter herzustellen. Lerne ihn oder sie kennen. Übe keine ungerechte Kritik, vermeide es, Streitgespräche zu führen oder unbedingt auf deinem Standpunkt zu beharren. Sei nachgiebig und ‘halte, soweit es von dir abhängt, Frieden’ (Römer 12:18).
[Fußnote]
a In einem einschlägigen Werk heißt es: „Wenn Vater und Mutter mit der Wahl des Ehepartners nicht einverstanden sind, ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Ehe scheitert, um das Doppelte höher, als wenn die Eltern sie gutheißen.“
[Herausgestellter Text auf Seite 4]
Bedeutet es, daß Eltern ihre Kinder verlieren, wenn sie aus dem Haus gehen?
[Bild auf Seite 5]
Wir hatten das Bedürfnis, viel Zeit gemeinsam zu verbringen. Aber anstatt uns ein bißchen in Ruhe zu lassen, kam Mutter ständig zu uns.
[Bild auf Seite 6]
Eltern sind mit der Partnerwahl ihres Kindes nicht immer einverstanden