Kann die Kluft zwischen den Kulturen überbrückt werden?
„Wir haben unsere Visa erhalten. Nächsten Monat wandern wir nach Kanada aus.“
„Hast du schon gehört? Mein Mann wird in die Golfstaaten versetzt. Wir ziehen bald um.“
„Ich habe mich verlobt. Ja, er kommt aus dem Nahen Osten. Wir haben vor, nach der Hochzeit in seiner Heimat zu leben.“
IST dir aufgefallen, was alle drei Paare gemein haben? Ihnen allen steht bevor, sich mit einer großen Kluft zwischen den Kulturen auseinanderzusetzen.
Zur Zeit unserer Großeltern gab es dieses Problem so gut wie nicht, da nur ein geringer Teil der Weltbevölkerung große Entfernungen zurücklegte. Heute hingegen überqueren viele in regelmäßigen Abständen Kontinente und Ozeane, was nur eine Sache von Stunden ist. Immer mehr Menschen verlassen ihre Heimat für immer.
Die Gründe sind zahlreich: Viele westliche Firmen senden Fachleute in Entwicklungsländer, wobei wegen der langfristigen Verträge oft die ganze Familie umzieht. Studenten aus Entwicklungsländern wollen an einer europäischen oder einer amerikanischen Universität eine spezialisierte Ausbildung erhalten. Und in den letzten Jahren sind durch Bürgerkriege, nationale Konflikte und rassische oder religiöse Verfolgung viele veranlaßt worden, in Ländern wie Australien, Kanada und den Vereinigten Staaten Zuflucht zu suchen.
Was auch immer der Grund für den Wohnortwechsel ist, der Neuankömmling wird sich anstrengen müssen, die Kluft zwischen der Kultur seines Heimatlandes und der seiner Wahlheimat zu überbrücken.
Ehen zwischen Ost und West
Viele lernen während ihrer Ausbildung außerhalb des Heimatlandes ihren Ehepartner kennen und nehmen ihn nach der Hochzeit mit in ihre Heimat. Eine gute Ehe zu führen erfordert selbst bei den besten Voraussetzungen Verständnis, Geduld, Opferbereitschaft und bewußte Anstrengungen. Stammen die Ehepartner aus verschiedenen Kulturkreisen, so müssen sie diese Eigenschaften in noch größerem Maße entwickeln, wenn ihre Ehe von Dauer sein soll. Doch viele Mischehen sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Warum? Ein typisches Beispiel ist folgendes:
Die romantisch veranlagte amerikanische Studentin verliebt sich auf den ersten Blick in Sami. Er ist sehr zuvorkommend und behandelt sie wie eine Prinzessin. Kein junger Mann in ihrer Gegend hat sich je so höflich verhalten. Und diese dunklen Augen — wie sie in ihr Gefühle wecken! Es erscheint ihr verlockend, seinen Heiratsantrag anzunehmen und mit ihm in den geheimnisvollen Orient zu ziehen.
Wie stehen die Chancen, daß eine solche Ehe glücklich wird? Obwohl er ihr sicher von seinem Land erzählt hat, macht sie sich womöglich keinen Begriff von der tatsächlichen Situation in seiner Heimat. Sie hat ihn nie in seiner Umgebung oder unter seinen Angehörigen beobachtet. Auch wenn sie schon ein oder zwei Reisen in ein fernes Land unternommen hat, ist es doch etwas anderes, ständig in einem fremden Land zu leben.
Reibungspunkte
Der größte Reibungspunkt für die jungverheiratete Frau wird wahrscheinlich darin bestehen, daß sie die Privatsphäre vermißt, auf die in ihrer Heimat großer Wert gelegt wird. Einen Mann aus dem Nahen Osten zu heiraten, so wird sie feststellen, bedeutet, einen umfangreichen Kreis von Verwandten zu übernehmen, die sehr an ihr interessiert sind — darunter Tanten, Onkel sowie näher und entfernter verwandte Cousins und Cousinen. Diese Verwandten oder die nächsten Nachbarn stellen häufig sehr direkte und persönliche Fragen, die in anderen Ländern als unhöflich gelten würden. Doch Bewohner von Mittelmeerländern geraten durch solche Fragen nicht in Verlegenheit, sondern fühlen sich vielleicht in ihren Gefühlen verletzt, wenn man ihnen nicht ebenso persönliche Fragen stellt. Da sie von einer Ehe reichen Kindersegen erwarten, muß man damit rechnen, daß sie ständig prüfend nach Anzeichen für eine Schwangerschaft Ausschau halten.
Man sagt vom Engländer, sein Haus sei seine Burg, doch im Orient mutet ein Haus mitunter eher wie ein Hotel an. Freunde oder Verwandte kommen jederzeit, ohne ihren Besuch vorher anzukündigen, und bleiben oft über Nacht. Wenn die Speisekammer nicht ausreichend gefüllt ist, gehört einige Erfindungsgabe dazu, die Mahlzeiten zu strecken.
Im Nahen Osten gehört die Frau ins Haus. In einigen nahöstlichen Ländern sind Frauen vielleicht berufstätig, aber man erwartet dennoch von ihnen, daß sie die ganze Hausarbeit erledigen. Der Mann ist das absolute Haupt der Familie, und sein Wort ist Gesetz. In manchen Staaten des Persischen Golfes darf eine Frau nicht einmal allein das Haus verlassen. Wenn sie nach draußen geht, muß sie sich von Kopf bis Fuß bedecken — auch ihr Gesicht.
Wer mit der nahöstlichen Lebensweise nicht vertraut ist, wird wahrscheinlich an der fehlenden Organisation Anstoß nehmen sowie an der Drängelei an Bushaltestellen, an Kassen, im Verkehr und bei Behörden. Wenn man an die Regel gewöhnt ist „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, wird man von einem System tief enttäuscht sein, in dem es vor allem auf Beziehungen ankommt.
Andere mögliche Reibungspunkte sind der unterschiedliche Sinn für Humor, die spontanen Gefühlsäußerungen — sei es Ärger oder Sympathie — und die allgemein größere Lautstärke bei alltäglichen Unterhaltungen.
Gib nicht zu Verärgerung Anlaß
Andererseits kann auch die jungverheiratete Ehefrau Anlaß zu Verärgerung geben, wenn sie die Bräuche des Landes nicht beachtet. Im Orient erwartet man von Frauen, daß sie sich schicklich kleiden. Rückenfreie Kleidung wird mißbilligt. Alkoholische Getränke sind in muslimischen Ländern oder Gegenden verboten.
Wenn ein Besucher einen Raum betritt, stehen alle Anwesenden auf, um ihn mit Händeschütteln zu begrüßen. Ihm nur zuzunicken wäre für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Zudem wird stets eine Erfrischung angeboten, auch einem unangemeldeten Besucher. Es wäre unhöflich, den Besucher zunächst zu fragen, ob er eine Tasse Kaffee möchte, da er grundsätzlich ablehnt, so gern er das Angebot auch annehmen würde. Selbst wenn man dem Besucher spontan eine Erfrischung anbietet, mag es sein, daß er ablehnt und überredet werden muß, weil er nicht gierig erscheinen möchte. Den Besucher nicht zu überreden gilt als Zeichen von Geiz.
Dies sind nur einige der neuen Bräuche, denen eine jungverheiratete Frau im Nahen Osten begegnet. Andere Länder haben wieder andere Bräuche.
Die Kluft zwischen den Kulturen überbrücken
Ein guter Rat für jemanden, der vorhat, nach der Heirat in ein anderes Land zu ziehen, besteht darin, vorher die dortige Situation zu erkunden. Lies zunächst soviel wie möglich über das Land, seine Geschichte und die Bräuche. Unternimm vorher eine Reise dorthin, und beobachte deinen Verlobten unter seinen Angehörigen. Jemand, den man im eigenen Land kennengelernt hat, erscheint einem unter seinen Landsleuten vielleicht wie umgewandelt. Verhält sich dieser höfliche, zuvorkommende junge Mann gegenüber allen seinen Angehörigen so, wie man es von ihm gewohnt ist?
Es ist entscheidend, ganz offen miteinander zu sprechen. Reibungspunkte sollten zur Sprache gebracht werden, ehe sie sich aufstauen, und soweit wie möglich abgebaut werden. Einige merken, nachdem sie sich alle Mühe gegeben haben, daß ihre Lebensweise einfach zu unterschiedlich ist und daß sie die nötigen Änderungen nicht vornehmen können. Wenn das der Fall ist, wäre es besser, sich dies einzugestehen, ehe man eine lebenslange Bindung eingeht, die beide unglücklich machen wird.
Einer zur Heirat entschlossenen Frau werden folgende Anregungen hilfreich sein: Gib dir Mühe, die Sprache deiner angeheirateten Verwandten zu erlernen. Ständig die eigene Sprache in Gegenwart von Personen zu sprechen, die sie nicht verstehen, wird in ihnen den Verdacht wecken, daß über sie gesprochen wird. Es besteht kein Grund, zu warten, bis du die Grammatik perfekt beherrschst. Gebrauche das, was du weißt, und du wirst feststellen, daß andere dir gern weiterhelfen.
Vergleiche deine neue Situation nicht dauernd mit dem Leben, das du hinter dir gelassen hast. Finde dich damit ab, daß die gewohnte Art und Weise, etwas zu tun, nicht die einzig richtige ist. Sie mag für dich vertraut und bequem sein, doch alle anderen um dich herum haben nun einmal andere Gewohnheiten. Zum Beispiel wird die Hauptmahlzeit im Nahen Osten um die Mittagszeit eingenommen, wohingegen dies „zu Hause“ vielleicht abends der Fall war. Statt also mittags zu einem Sandwich zu greifen, wird von der Ehefrau erwartet, für ihren Mann eine warme Mahlzeit bereit zu haben, und er wünscht gewöhnlich, daß sie sie mit ihm gemeinsam einnimmt. Alles, was erforderlich ist, damit das Leben ruhig verläuft, ist Anpassungsfähigkeit von seiten beider Partner.
Beim Thema „Mahlzeiten“ ist noch zu bemerken, daß es von Vorteil ist, der einheimischen Küche auf den Geschmack zu kommen. „Nur einmal“ für den Mann ein neues Gericht auszuprobieren wird ihn sicher angenehm überraschen. Es zu vervollkommnen und in das Repertoire der gewohnten Gerichte aufzunehmen wird der Ehe festeren Bestand verleihen. Ähnlich verhält es sich damit, an der orientalischen Musik Gefallen zu finden.
Nimm dir außerdem Zeit, die Umgangsformen des Landes kennenzulernen. Manche sind durch bloße Beobachtung leicht zu erlernen. Im Nahen Osten gehört folgendes dazu: höfliche Unterhaltungen zu führen — auch mit den Lieferanten —, selbst einem unverhofften Besucher eine Tasse Kaffee oder ein kühles Getränk anzubieten und sich zu erheben, um Besucher mit einem herzlichen Händedruck und Verwandte mit einem Kuß auf jede Wange zu begrüßen.
Frage deinen Ehemann bei jeder neuen Situation, die auf dich zukommt, was man von dir erwartet. Ein Mann sagte seiner Frau zum Beispiel, es sei üblich, daß sogar erwachsene Söhne oder Töchter ihren Eltern und Schwiegereltern zur Begrüßung einen Handkuß geben. Dies sei ein Zeichen von Respekt. Die ersten Male war sie dabei sehr verlegen. Doch später war es ihr zur Gewohnheit geworden, und außer daß sich ihre Schwiegereltern sehr freuten, trug dies zu guten familiären Beziehungen bei.
Die richtige Einstellung ist wichtig
Das anscheinend zu große Interesse deiner Nachbarn an deinen persönlichen Angelegenheiten wird dadurch ausgeglichen, daß sie bei Notfällen stets zur Stelle sind. Als zum Beispiel eine Amerikanerin, die mit einem Libanesen verheiratet ist, eines Tages vom Einkaufen nach Hause kam, war ihr Haus voller Nachbarn. Wie sich herausstellte, war es ihrem Mann am Arbeitsplatz schlecht geworden, und er hatte es gerade noch bis zum Eingangstor geschafft, als ein Nachbar auf seinen Zustand aufmerksam wurde, ihn ins Haus brachte und ihm dann ins Bett half. Darauf alarmierte er die ganze Nachbarschaft. Während die einen den Arzt holten, umsorgten die anderen den Mann und besorgten dann die verschriebene Medizin. Wie froh war die Frau, daß sie solch aufmerksame Nachbarn hatte!
Gestehe also anderen das Recht zu, Dinge anders zu erledigen. Und vergiß nicht, daß das Anderssein an sich nichts damit zu tun hat, ob eine Handlungsweise gut oder schlecht, richtig oder falsch ist.
Die Ermahnungen der Bibel zu beachten hat sich als sehr große Hilfe erwiesen, die Kluft zwischen den Kulturen zu überbrücken. Die Frau, die ihren Mann als Haupt respektiert, und der Mann, der seine Frau wie seinen eigenen Leib liebt, werden in ihrer Verbindung Glück finden (1. Korinther 11:3; Epheser 5:21-33). Sie werden sich in der Zeit der Anpassung an die neue Lebensweise besonders bemühen, geduldig und verständnisvoll zu sein.
Es wird Zeiten geben, in denen Meinungsverschiedenheiten darüber entstehen, wessen Bräuche unter den verschiedenen Umständen beachtet werden sollten. Doch Ehepaare, die Gottes Wort, die Bibel, achten, werden darin nach dem entsprechenden Grundsatz suchen und sich dann danach ausrichten. Wenn es um eine persönliche Vorliebe geht, kann der biblische Grundsatz aus 1. Korinther 13:4, 5 angewandt werden: „Die Liebe ... blickt nicht nach ihren eigenen Interessen aus.“ (Siehe auch 1. Korinther 10:23, 24.)
Denke jedoch stets daran, daß in dem Land, in das du gezogen bist, du der Ausländer bist und die Anpassung daher zum größten Teil von dir abhängt. Du kannst nicht von allen anderen erwarten, sich nach deinen Maßstäben oder deiner Lebensweise auszurichten. Gleichzeitig kannst du deinen neuen Bekannten einiges aus der Kultur deiner Heimat vermitteln.
Kann die Kluft zwischen den Kulturen also überbrückt werden? Das Beispiel vieler, denen dies gelungen ist und die ihr Leben dadurch bereichert haben, daß sie die Vorteile der beiden Kulturen miteinander verschmolzen haben, spricht dafür.
[Kasten auf Seite 19]
Wie du dich anpassen kannst
✔ Sprich die Sprache des Landes
✔ Lerne die dortigen Bräuche kennen
✔ Probiere neue Gerichte aus
✔ Ziehe keine Vergleiche zu deiner früheren Lebensweise
✔ Überdenke deine Einstellung, und sei positiv
✔ Beachte biblische Grundsätze
[Bild auf Seite 17]
Wenn die Ehepartner aus verschiedenen Kulturkreisen stammen, sind besondere Anstrengungen nötig, um eine glückliche Ehe zu führen
[Bild auf Seite 18]
In nahöstlichen Ländern wird auch dem unangemeldeten Besucher stets eine Erfrischung angeboten