Der Storch — ein treuer Gefährte
Von unserem Korrespondenten in Spanien
DER Storch — traditioneller Vorbote des Frühlings, der Neugeborenen und des Glücks — hat seit langem eine Sonderstellung in Erzählungen und in der Zuneigung des Menschen. Sein anmutiger Flug, seine Vorliebe für menschliche Siedlungen und sein nützlicher Beitrag zur Schädlingsbekämpfung haben zu seiner Beliebtheit beigetragen.
Doch seine vielleicht liebenswerteste Eigenschaft ist die Treue — die Treue zu seinem Nest, zu dem er jedes Jahr zurückkehrt, und die lebenslange Treue zu seinem Partner. Nicht umsonst bedeutet sein hebräischer Name „Loyalgesinnter“ oder „jemand von liebender Güte“. Gemäß dem Talmud ist er ein Geschöpf, das sich durch die liebevolle Behandlung seines Partners auszeichnet.
Dank seines guten Rufes stand er vor zweihundert Jahren in den Niederlanden unter Schutz, und man soll zahme Störche über den Fischmarkt von Den Haag stolzieren gesehen haben. Später wurde er zum Nationalvogel Deutschlands. Heute werden in vielen europäischen Städten auf Dächern Plattformen errichtet als Einladung an den freundlichen Vogel, dort zu nisten. Störche sind willkommene Nachbarn.
Kommen und Gehen
Einige europäische Störche überwintern südlich der Sahara in Westafrika, während andere sogar bis nach Südafrika weiterziehen. Ihre lange Reise gen Süden beginnt im August. Da sie keine kräftigen Flieger sind, wird die Reise in Etappen bewältigt. Sie ziehen es vor, in Gruppen zu fliegen, und oft versammeln sich alle Störche einer Gegend, bevor sie aufbrechen. Im Februar oder März kommen sie zu ihrem Nest zurück und gehören damit zu den ersten heimkehrenden Zugvögeln.
Wegen ihrer Größe — ihre Flügelspannweite beträgt etwa zwei Meter — und ihrer Verläßlichkeit haben ziehende Störche immer Aufmerksamkeit erregt. Pünktlich im Frühjahr und Herbst erscheinen große Scharen in Palästina. Vor mehr als 2 500 Jahren wies der Prophet Jeremia darauf hin, indem er den Storch treffend als einen Vogel beschrieb, der ‘seine bestimmten Zeiten kennt’ (Jeremia 8:7).
Die Strecke, die die Störche jedes Jahr zurücklegen — in manchen Fällen insgesamt fast 20 000 Kilometer —, ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß sie den größten Teil davon gleiten. Wie die großen Greifvögel nutzen sie die Thermik (aufsteigende warme Luftmassen), um Höhe zu gewinnen. Dann lassen sie sich von ihren breiten Schwingen mühelos über lange Strecken tragen, wobei sie nur selten mit den Flügeln schlagen.
Eine Besonderheit der Storchenwanderung ist die Passage des Mittelmeers. Sie fliegen ungern über Wasser, weil dort die Thermik fehlt. So versammeln sich jeden August Tausende von Störchen an den zwei Punkten, wo die Entfernung am geringsten ist (an der Straße von Gibraltar und am Bosporus). Überraschenderweise schreckt sie der lange Weg über die Sahara weniger als die 14 Kilometer über die Meerenge zwischen Spanien und Afrika, für die sie bis zu fünf Stunden benötigen.
Ein außergewöhnliches Nest
Störche bevorzugen ein Nest an einem hochgelegenen Platz, wie z. B. die Spitze eines hohen Baumes. Manchmal nehmen sie auch mit dessen modernem Bruder, einem Strommast, vorlieb. In biblischen Zeiten bauten sie ihr „Haus“ gern in Wacholderbäumen (Psalm 104:17).
Doch jahrhundertelang waren in ganz Europa Dachfirste, Kirchtürme und Schornsteine ihre bevorzugten Nistplätze. Sowohl das Männchen als auch das Weibchen bauen geduldig an dem Nest, einer außergewöhnlichen Konstruktion, die oft so aussieht, als würde sie jeden Moment von ihrem erhöhten Platz kippen. Aber der Schein trügt; selbst die heftigsten Stürme blasen selten eines der großen Nester von ihrem Platz. Sie sind so haltbar, daß die jedes Jahr wiederkehrenden Störche für die anfallenden kleineren Reparaturen normalerweise nur etwa eine Woche benötigen.
Gewöhnlich machen sich beide Störche, sobald sie aus ihrem Winterquartier eintreffen, an die Reparaturarbeit, für die sie Zweige und anderes Material verwenden. Schließlich sind es diese Reparaturen, die dem Nest den Garaus machen. Es bricht einfach unter dem eigenen Gewicht zusammen, wobei es gut zwei Meter hoch sein und einen Durchmesser von einem Meter oder mehr haben kann.
So, wie die Eltern in jedem Frühjahr zu ihrem Nest zurückkehren, so versuchen die Jungen, einen Platz möglichst nahe bei ihrer Kinderstube zu finden. Einige alte Gebäude beherbergen daher ein Dutzend oder mehr riesige Nester, die alle von den Nachkommen eines Paares bewohnt werden.
Störche in Not
Trotz der Bemühungen vieler europäischer Städte, dafür zu sorgen, daß der Storch sich wohl fühlt, sieht seine Zukunft düster aus. Im letzten Jahrhundert gab es etwa 500 Nester in der Schweiz, doch jetzt ist nur noch eine Handvoll davon übriggeblieben. Das gleiche traurige Bild bietet sich in Deutschland, Schweden, den Niederlanden und in Dänemark. Die Bestände nehmen hier in erschreckendem Ausmaß ab. In Spanien, wo Störche immer noch ein üblicher Anblick sind, hat sich die Zahl der benutzten Nester in nur zehn Jahren um die Hälfte verringert. Die gesamte europäische Population wird bloß noch auf 10 000 bis 20 000 Paare geschätzt. Was geschieht mit einem der beliebtesten Vögel?
Offensichtlich spielen viele Faktoren eine Rolle, von denen die meisten mit der Umweltzerstörung zusammenhängen. In ihren Winterquartieren in Afrika werden die Störche oft zu Nahrungszwecken gejagt — eine ökologische Katastrophe, denn die Störche verbringen die Wintermonate damit, sich an den Heuschreckenschwärmen gütlich zu tun, die die so wichtigen Ernten in Afrika schwer schädigen. Währenddessen werden in Europa jedes Jahr weniger Junge aufgezogen, weil Eier infolge des weitverbreiteten Einsatzes von Pestiziden unfruchtbar sind und Nahrungsbiotope verlorengehen. Außerdem sind Stromleitungen für eine Menge großer Vögel eine tödliche Falle. Der Tod vieler weiterer geht auf das Konto schießwütiger Jäger.
Naturschützer bemühen sich zwar, den Storch zu schützen, doch ist ein erfolgreiches Programm von der Zusammenarbeit vieler Länder abhängig. Und das ist nicht leicht zu erreichen. Diejenigen, die Gottes Schöpfung lieben, hoffen zuversichtlich, daß nie die Zeit kommen wird, in der die majestätischen Schwingen der Störche von unserem Himmel verschwunden sein werden und in der der Frühling nicht mehr von diesem geselligen und treuen Vogel angekündigt wird.
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Klapperstorch und kleine Kinder
Jahrhundertelang wurde Kindern weisgemacht, der Klapperstorch bringe die kleinen Kinder, und noch heute ist der Storch auf vielen Glückwunschkarten zur Geburt eines Kindes zu sehen. Woher kommt diese Geschichte?
Offensichtlich basiert sie auf zwei Legenden. Vor langer Zeit beobachtete man, daß die Störche auf geheimnisvolle Weise jedes Jahr zur gleichen Zeit erschienen. Einige glaubten, die Störche hielten sich im Winter in Ägypten auf, verwandelten sich dort in Menschen und würden im Frühjahr wieder zu Vögeln. (Das erklärte die Anhänglichkeit an menschliche Siedlungen.)
Man sah auch, daß die Störche den größten Teil des Tages mit der Nahrungssuche in Feuchtgebieten verbrachten, wo angeblich die Seelen der ungeborenen Kinder weilten. Da die Störche sehr besorgte Eltern sind, gehörte nicht viel Phantasie dazu, Tatsachen und frei Erfundenes zu der Geschichte zu verbinden, der Storch bringe die kleinen Kinder.
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