Mein Leben mit Muskeldystrophie
DER Film war zu Ende, und ich erhob mich langsam und wackelig von meinem Sitz. Auf steifen Beinen versuchte ich, das Gleichgewicht zu halten, und machte den ersten Schritt. Als ich zittrig und wankend den Gang erreicht hatte, gaben plötzlich meine Knie nach, und ich fiel hin. Es hätte mich all meine Kräfte gekostet, allein wieder hochzukommen. Wie erleichtert war ich daher, als ein großer, blonder Fremder dazukam. „Kann ich helfen?“ fragte er mit einem freundlichen Lächeln. Dieses zufällige Zusammentreffen Anfang 1978 in Helena (Montana, Vereinigte Staaten) war für mich der Beginn eines neuen Lebens.
Warum ich hinfiel? Es begann schon alles vor meiner Geburt. Ohne es zu wissen, hatte meine Mutter ein defektes Gen, das sie an mich weitergab. So kam ich am 16. Januar 1948 mit einer Muskelkrankheit zur Welt.
Meine Mutter bemerkte zum erstenmal, daß etwas nicht stimmte, als ich sechs Jahre alt war. Ich fing an, über meine eigenen Füße zu stolpern, und fiel häufig hin. Zu dieser Zeit standen selbst die Ärzte vor einem Rätsel. Sie legten mir zur Korrektur der Beinstellung Schienen an in der Hoffnung, daß sich der Fehler von selbst auswachsen würde. Das half jedoch nichts. Meine Beine verbogen die Schienen und machten sie nutzlos. Man richtete mir operativ die Beine, doch das heilte nicht die Krankheit. Im Alter von 13 Jahren — nach insgesamt sieben Jahren mit Schienen, Operationen und einsamen Fahrten zu einem 300 Kilometer entfernten Krankenhaus — erlösten mich die Ärzte schließlich. Sie sagten meiner Mutter und mir, daß ich Muskeldystrophie, einen fortschreitenden Muskelschwund, hätte und mit 20 im Rollstuhl sitzen würde. Meine Reaktion darauf: „Das haben sie sich so gedacht! Ich werd’s ihnen zeigen!“
Auf mich allein gestellt
Mein Vater war bei einer Flugzeugkatastrophe umgekommen, als ich fünf Jahre alt war. Er hinterließ meine Mutter mit sechs Kindern im Alter zwischen einem und zwölf Jahren. Sie arbeitete sehr hart, um für uns zu sorgen, aber sie konnte sich nicht intensiv um jeden einzelnen kümmern. Daher wurde von mir erwartet, soviel wie möglich selbst zu tun.
Ich versuchte trotzdem, Freude und einen Sinn im Leben zu finden, obwohl ich mit der Zeit sehr schüchtern wurde, was wahrscheinlich an diesen auffallenden Schienen lag, die ich tragen mußte. So nahm ich mir vor, mich nur auf mich selbst zu verlassen. Da es mir schwerfiel, mich mit anderen zu unterhalten, hatte ich wenig Freunde. Ja, bis zu meinem letzten Schuljahr hatte ich keinen wirklichen Freund. Damals lernte ich Wayne kennen, einen schwarzhaarigen, muskulösen Jugendlichen, der Epileptiker war. Wir hatten Mitgefühl für die jeweilige Lage des anderen und sprachen offen miteinander. Er wurde mein bester Freund.
Trost in der Religion gesucht
Wayne machte mich mit seiner Religion bekannt, der Christlichen Wissenschaft. Besonders zog mich die Sache mit den Heilungen an. Meine körperliche Behinderung quälte mich; verzweifelt suchte ich Trost und Erleichterung. In den folgenden zwei Jahren, in denen ich aufs College ging, untersuchte ich deshalb diese Religion, fand, daß sie mir zusagte, und ging völlig darin auf.
Nach zehn aktiven Jahren gehörte ich zum Vorstand des örtlichen Zweiges und war Leiter der Sonntagsschule. Aber ich wurde unglücklich und war desillusioniert, da die von mir erhoffte Heilung nicht eintrat. Einer meiner Freunde wurde gekidnappt und ermordet; und Wayne war an seiner Epilepsie gestorben. Auch war ich weder ein besserer Mensch noch christusähnlicher geworden, wie ich das gehofft hatte.
Ich war dermaßen deprimiert, daß ich sogar Selbstmord begehen wollte. Ich meinte, das würde all meinem Leid ein Ende machen. Doch im tiefsten Innern dachte ich mir: „Es muß einen Sinn für unser Dasein geben. Gott muß doch für alle seine Schöpfungswerke einen Grund gehabt haben. Das muß ich herausfinden, bevor ich sterbe.“
Lebenswille erneuert
Zwar machte ich mir Gedanken über Gott und seinen Vorsatz in Verbindung mit dem Menschen, den er auf die Erde gesetzt hatte, doch wußte ich nicht, welche Rolle ich dabei spielte. Unsere Mutter hatte uns im katholischen Glauben erzogen und uns regelmäßig mit in die Kirche genommen. Dort bekam ich große Achtung vor der Bibel eingeflößt, obgleich wir nicht dazu angehalten wurden, sie zu lesen. Als Anhänger der Christlichen Wissenschaft las ich die Bibel einige Male durch und studierte sie intensiv. Jedoch verstand ich ihre Botschaft nicht, noch erreichten mich ihre Hoffnung und ihr Trost. Wo konnte ich die Wahrheit finden?
John, der große, blonde Fremde, der mir im Kino vom Boden aufhalf, hatte die Antworten auf meine Fragen. Er war ein Zeuge Jehovas, aber das wußte ich anfangs nicht. Nachdem er mir geholfen hatte, luden meine Schwester und ich John mit seiner Frau Alice zu einer Erfrischung in ein Café ein. Während unserer Unterhaltung dachte ich mir, daß dieser Mann vielleicht die Freunde, die ich verloren hatte, ersetzen könnte. Ich schöpfte neuen Mut.
Einige Zeit später war ich bei ihm zum Essen eingeladen, wo ich bemerkte, daß in der Familie bei den Gebeten der Name Jehova gebraucht wurde. Mir gefiel Gottes Name; meine Neugier war geweckt.
Beim nächsten Zusammentreffen sprachen wir über die Bibel. John, der mir schnell zum Freund wurde, räumte mit der Bibel meine Fragen und falschen Gedankengänge aus dem Weg. Ich war positiv beeindruckt und sehr ermutigt durch meine neugefundene Hoffnung. Sie stützte sich auf die biblische Verheißung einer paradiesischen Erde, die frei von allen Krankheiten und Sorgen sein wird (Offenbarung 21:1-5). Weitere Gespräche dauerten bis in die frühen Morgenstunden. Wieviel besser ich mich doch fühlte! Ich verschlang die geistige Speise geradezu. Jetzt, da ich geistig zu einem neuen Menschen wurde, wollte ich jede Erfrischung haben, die ich bekommen konnte.
In jenem Herbst begann ich, die Zusammenkünfte im Königreichssaal der Zeugen Jehovas regelmäßig zu besuchen. Die herzliche, freundliche und ermunternde Gemeinschaft mit den Gliedern der Versammlung tat mir gut. Im Frühjahr 1979 beschloß ich, mich Jehova Gott hinzugeben. Sechs Brüder halfen mir in das Becken, als ich am 23. Juni getauft wurde.
Seit meiner Taufe bin ich reich gesegnet worden. Ein Segen ist meine liebe Frau Pam. Wir lernten uns bei Freunden kennen, verliebten uns, heirateten im März 1981 und zogen danach nach Missoula (Montana). Durch Pam und die vier Kinder, die sie mit in die Ehe brachte, habe ich viel Freude erlebt, und sie sind mir immer noch eine große Hilfe.
Mit den Gegebenheiten fertig werden
Was mich am meisten ärgert und mir am stärksten zu schaffen macht, ist, daß ich so viel Zeit für die normalen Tätigkeiten benötige. Das kommt besonders an den Tagen ohne Zusammenkünfte zum Tragen, da ich an diesen Tagen selbst für mich sorge, damit Pam andere Dinge erledigen kann. Das bedeutet, daß es fast Zeit für das Mittagessen ist, wenn ich mit den Dehnübungen, dem Waschen, Rasieren und Anziehen fertig bin. Um nicht verbittert zu werden, versuche ich, all die Mühe als meine Arbeit zu betrachten, denn das ist es: harte Arbeit! Ich will hier noch erwähnen, daß die Dehnübungen die Muskeln und Sehnen vor dem Schrumpfen bewahren sollen; die Durchblutung wird gefördert, und mir bleiben viele Schmerzen und eine mögliche Operation an den Sehnen erspart. Auch wird dadurch der normale Spannungszustand der Muskeln aufrechterhalten.
Manchmal bin ich sehr niedergeschlagen. Dann bete ich zu Jehova, und er bestärkt mich in meinem Entschluß, weiterhin das zu tun, was ich tun kann, und nicht über das nachzugrübeln, was ich nicht kann. Indem ich mich auf meine Grenzen einstelle, kann ich besser mit den harten Realitäten fertig werden.
Noch bevor ich das Laufen aufgeben mußte, kaufte ich mir vorsorglich einen gebrauchten Rollstuhl. Daher war ich geistig darauf eingestellt und ausgerüstet, als ich im Frühjahr 1980 im Alter von 32 Jahren (und nicht mit 20, wie die Ärzte prophezeit hatten) den Rollstuhl brauchte.
Sinn für Humor — eine Hilfe
Ein übliches Problem für einen Rollstuhlfahrer ist: Wie komme ich in Bad oder Toilette und wieder heraus? Die Wohnungen, in die ich komme, und die Motels sind für mich normalerweise nicht sehr günstig eingerichtet. Selbst bei behindertengerechten Toiletten habe ich Schwierigkeiten, da ich im Gegensatz zu anderen Rollstuhlfahrern keine Kraft im Oberkörper habe.
In einem Motelzimmer kam ich nicht durch die Badezimmertür, und so hievte ich mich aus meinem Rollstuhl auf einen normalen Stuhl. Als ich fertig war und wieder im Rollstuhl saß, versuchte Pam, ihn nach hinten zu kippen und gleichzeitig zu wenden, wobei sie ihn und mich zwischen Bett und Badezimmertür einklemmte. Um mich aus dieser mißlichen Lage zu befreien, mußte sie mich aus dem Rollstuhl auf das Bett ziehen und ihn dann zusammenfalten, damit sie ihn freibekam. Wir mußten beide herzlich über den Anblick lachen, den wir geboten haben müssen.
Humor half mir auch, als ich einmal versuchte, auf meiner Rutsche aus dem Auto in den Rollstuhl zu gelangen. Ein Freund zog mich, wobei die Rutsche vom Autositz rutschte und ich in den Rinnstein fiel. Als meine Frau, die auf dem Fahrersitz saß, mich fallen sah, sprang sie aus dem Auto, rannte auf die andere Seite und fand mich dort, „Welcome to My World“ (Willkommen in meiner Welt) singend. Wir brachen alle in großes Gelächter aus.
Hilfe von anderen schätzen
Die Hilfe von Angehörigen und Freunden bereitwillig und dankbar anzunehmen kann unangenehme Situationen sehr mildern. Ich mußte diesen Geist der Wertschätzung über die Jahre entwickeln, denn ich übersah manchmal, was die anderen für mich taten. Da ich so oft auf Hilfe angewiesen war, geschah es leicht, daß ich sie für selbstverständlich nahm. Doch das war weder für mich gut, noch ermutigte es diejenigen, die mir halfen. Indem ich bewußt Anstrengungen unternahm, mich selbst für die kleinsten Hilfeleistungen zu bedanken, wurde ich glücklicher, und auch für die anderen wurde es leichter.
Die Muskeldystrophie ist nicht nur für mich ein Problem, sondern auch für meine Frau und die Kinder, von denen noch zwei zu Hause sind. Neben den Anpassungsschwierigkeiten, die häufig in einer Stieffamilie auftreten, haben wir noch mit den Erschwernissen durch meine Krankheit zu kämpfen. Oft müssen Pam und die Kinder auf mich warten. Beispielsweise muß ich sonntags morgens drei oder vier Stunden im voraus anfangen, mich für die Zusammenkunft fertigzumachen. Wir können uns nicht einfach ins Auto setzen und losfahren. Ich brauche Hilfe, um meinen Mantel anzuziehen, in den Kleinbus zu kommen, den Sicherheitsgurt anzulegen usw. Das erfordert Zeit und die Geduld meiner Familie.
Meine Angehörigen müssen auch etwas von ihrer eigenen Zeit opfern und ihre Tätigkeiten einschränken, um mir zu helfen. Sie müssen z. B. Dinge für mich aufheben oder aus Schränken oder den oberen Regalen holen. Schon des öfteren bin ich wegen irgendeines Mißgeschicks auf den Boden gefallen, und Pam mußte mich dann mit meinen 1,88 Metern und meinen 75 Kilo wieder in den Rollstuhl setzen. Nur durch unser Vertrauen auf Gott haben wir die Kraft und Entschlossenheit gefunden, nicht aufzugeben.
Unsere Freunde in der Versammlung nehmen große Opfer auf sich, um mir zu helfen, bei den Zusammenkünften, bei Freizeitaktivitäten oder bei einem geselligen Beisammensein anwesend zu sein. Ihre Bereitschaft ist für mich sehr ermunternd. Ein Freund sagte mit einem Grinsen: „Das quietschende Rad wird geschmiert.“ Nachdem ich bei Schwierigkeiten alles in meinen Kräften Stehende getan habe, lasse ich daher ein „Quietschen“ hören, und dann kommt mir ganz sicher jemand von meiner Familie oder meinen Freunden zu Hilfe.
Wie man helfen kann
Die Frage mag auftauchen, wie man jemandem, der im Rollstuhl sitzt, helfen kann. Meine Empfehlung ist, den Betreffenden als erstes um Instruktionen zu bitten. Schieb nie einen Rollstuhl an, bevor der Behinderte bereit ist. Sei bitte nicht gekränkt, wenn wir der Meinung sind, wir müßten eine Aufgabe ohne Hilfe meistern. Fühl dich nie verpflichtet zu helfen, wenn dir persönlich Grenzen gesetzt sind, die dir das sehr schwer machen würden. Ich bin auf jeden Fall immer dankbar, wenn jemand etwas für mich aufhebt, meinen Mantel aufhängt oder Hindernisse aus dem Weg räumt. Schließlich: Fühl dich frei, mit uns zu reden, denn trotz unserer Behinderung haben wir ähnliche Gefühle, Wünsche und Interessen wie andere.
Muskeldystrophie und ähnliche Krankheiten stellen einen vor große Herausforderungen. Mir ist es bestimmt nicht so schlimm ergangen wie anderen, aber ich bin sicher, daß es für jeden nützlich ist, Gottes Willen bezüglich der Erde und ihrer Bewohner zu kennen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben durch Gottes Königreich kann alle stärken — diejenigen mit Muskeldystrophie eingeschlossen (2. Korinther 4:16-18). (Von Dale T. Dillon erzählt.)
[Bild auf Seite 20]
Dale, seine Frau Pam und zwei ihrer Kinder, Pamela und Richard