Ein Opernabend
Von unserem Korrespondenten in Italien
DAS typische Klanggewirr des sich einspielenden Orchesters verstummt plötzlich, und im Zuschauerraum geht allmählich das Licht aus. Während der Dirigent auf das Podium zugeht, begrüßt ihn das Publikum mit einem kurzen Applaus, für den er sich mit einer Verbeugung bedankt. Dann herrscht völlige Stille. Der Dirigent hebt die Arme, und mit einer gebietenden Geste gibt er dem Orchester den Einsatz für den Beginn der Ouvertüre. Haben wir schon einmal einen solch spannenden Augenblick — den Beginn einer Oper — erlebt? Wären wir daran interessiert? Was genau ist eine Oper? Woher kam die Oper ursprünglich?
Eine Oper ist die als Bühnenwerk aufgeführte Vertonung eines Dramas (Opera seria) oder einer Komödie (Opera buffa) in einem oder mehreren Teilen oder Akten; die Rollen werden singend dargeboten. Zur Oper gehören folgende Elemente: der Text des Dramas oder das Libretto (das Werk eines Schriftstellers oder Dichters), die von einem Komponisten geschriebene Musik, Gesang, Tanz, Bühnenbilder und Kostüme. Musicals und Filmmusicals haben Ähnlichkeit mit der Oper, sind aber in einem viel leichteren Stil geschrieben. Möglicherweise haben wir Filme wie West Side Story oder Oklahoma gesehen, in denen die Schauspieler manchmal singen, statt zu sprechen.
Es gibt eine beachtliche Vielfalt an Opern: Die Opern von Wolfgang Amadeus Mozart und Gioacchino Rossini hat man als brillant bezeichnet, die von Giuseppe Verdi als kraftvoll und ergreifend, die von Richard Wagner als kompliziert, langsam und ernst, die von Georges Bizet als farbig und vital und die von Giacomo Puccini als gefühlvoll.
Die Geschichte der Musik und des Gesangs reicht mehr oder weniger bis zum Anfang der Menschheit zurück (1. Mose 4:21; 31:27). Seit Menschengedenken hat man Musikinstrumente unterschiedlicher Art gebaut, und um das 11. Jahrhundert wurde ein musikalisches Notationssystem eingeführt. In Nachschlagewerken wird erklärt, die Oper sei Ende des 16. Jahrhunderts in Florenz (Italien) aufgekommen. Zahlreiche italienische Wörter aus dem Bereich dieser Kunstform sind auch in vielen anderen Sprachen üblich (Oper, Libretto, Sopran, Tenor), was den italienischen Ursprung der Oper bestätigt. Während sich die Oper in verschiedenen Ländern Europas einbürgerte, erfuhr sie viele Veränderungen. Heute sind Opernhäuser in der ganzen Welt zu finden.
Um mehr zu erfahren, möchten wir nun eine Unterhaltung mitverfolgen zwischen Antonello, der in Mailand wohnt, und seinem Freund Max, der aus der Schweiz zu ihm auf Besuch gekommen ist. Antonello und Max erleben zusammen einen ungewöhnlichen und begeisternden Abend in der Mailänder Scala, einem der berühmtesten Opernhäuser überhaupt.
Im Opernhaus
Max: Ich habe in dem Handbuch, das du mir gegeben hast, gelesen, daß die Scala im Jahre 1778 eröffnet wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie durch Bomben fast völlig zerstört, dann wieder aufgebaut und 1946 neu eröffnet. Weiter heißt es, daß sie mehr als 2 000 Besucher faßt.
Antonello: Richtig. Wie du siehst, hat die Scala die klassische Hufeisenform, so wie die meisten Opernhäuser aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Die sechs Ränge mit den Logen verlaufen ringsherum; vor der Bühne befindet sich der Orchestergraben. Die Scala ist weder das älteste noch das größte Opernhaus der Welt. Sie ist deswegen so bekannt, weil hier mehrere Opern uraufgeführt wurden und viele namhafte Dirigenten, Sänger und Sängerinnen aufgetreten sind — unter anderem der berühmte Dirigent Arturo Toscanini, der ohne Partitur dirigieren konnte. Man sagt, die Scala habe eine perfekte Akustik. Das ist sehr wichtig für ein Opernhaus, da die Musik und die Stimmen nicht mit Hilfe von Mikrofonen und Lautsprechern verstärkt werden.
Max: Kannst du mir etwas über Opernsänger sagen?
Antonello: Es gibt sechs Stimmlagen, drei bei den Männerstimmen — Baß, Bariton und Tenor — und ebenso drei bei den Frauenstimmen — Alt, Mezzosopran und Sopran. Baß und Alt bilden die tiefe Lage der jeweiligen Gruppe, Tenor und Sopran die hohe Lage und Bariton und Mezzosopran die mittlere Lage.
Damit jemand ein guter Opernsänger oder eine gute Opernsängerin werden kann, muß er zunächst einmal eine schöne Stimme haben, er muß begabt sein, und dann muß er viele Jahre an einer speziellen Schule studieren. Im Laufe seiner Ausbildung lernt er, die Vorzüge seiner Stimme voll zu entfalten; ohne diese Ausbildung könnte niemand Opernsänger werden. Du wirst die Solisten gleich sehen. Obwohl sie manchmal Idealbilder von jungen verliebten Männern und Frauen darstellen, wirst du bemerken, daß es sich fast immer um ziemlich kräftige Personen reiferen Alters handelt. Weißt du, warum?
Max: Du machst mich neugierig.
Antonello: Weil Opernsänger ihre Glanzzeit erst in ihren mittleren Jahren erreichen und weil sie eine kräftige Statur brauchen, um Opernpartien singen zu können. Es ist keine Kleinigkeit, über längere Zeit öfter durchdringende hohe Töne singen zu müssen. In den 50er Jahren trat die berühmte Sopranistin Maria Callas häufig hier in der Scala auf; nachdem sie sich einer Schlankheitskur unterzogen hatte, sollen ihre Leistungen als Sängerin schwächer geworden sein. Lassen wir uns also nicht von der äußeren Erscheinung der Solisten ablenken, sondern genießen wir ihre Stimmen. Schau, Max! Der Dirigent kommt heraus. Nimm das Opernglas, dann kannst du die Sänger und alles, was auf der Bühne vor sich geht, besser sehen. Ich würde dir allerdings empfehlen, dich auf die Musik und auf den Gesang zu konzentrieren, worum wir uns ja schon beim ersten Akt bemüht haben; so hast du am meisten von der Oper.
Was geschieht hinter den Kulissen?
Max: Was für ein langer Applaus! Die Sänger haben wirklich schöne Stimmen. Wie lange wird die Pause jetzt dauern?
Antonello: Etwa 20 Minuten. Weißt du, was unterdessen hinter dem Vorhang geschieht?
Max: Ich kann es mir nicht vorstellen.
Antonello: Dort geht es zu wie in einem Ameisennest! Unter der Leitung des Inspizienten räumen spezialisierte Bühnenarbeiter, Maschinisten, Beleuchter, Tischler und andere die Bühnendekoration ab und bauen das neue Bühnenbild auf; die Arbeitsvorgänge sind genau aufeinander abgestimmt. Das Bühnenbild in einem Opernhaus kann heute mit modernen technischen Mitteln schnell verwandelt werden, sogar während der Vorstellung. Durch hydraulische Anlagen, elektrische Aufzüge und andere Vorrichtungen lassen sich Teile der Bühne heben und senken. Alle Opernhäuser verfügen über besondere dramatische Effekte, wie Nachahmungen von Wolken oder Nebelschwaden, Rauch, das Geräusch von Regen oder Wind und das Krachen von Donnerschlägen. Ein System von unterschiedlich starken Scheinwerfern ermöglicht die Erzeugung szenischer Effekte und farbiger Lichtstrahlen, die immer wieder überraschen.
Max: Hier von den Sitzen aus sieht und hört man den Ablauf der Oper. Doch was spielt sich dabei hinter den Kulissen ab?
Antonello: Das ist eine interessante Frage, Max. Während wir behaglich die Aufführung verfolgen, ist sowohl hinter der Bühne als auch links und rechts davon eine kleine Armee im Einsatz. Stell dir einmal vor, was passieren würde, wenn ein Sänger, der Chor oder die Tänzer nicht zur rechten Zeit am vorgesehenen Platz wären. Hinter der Szene lesen ein oder mehrere Assistenten des Inspizienten den Orchesterpart in der Partitur mit und geben den Sängern Hinweise, wann genau ihre Auftritte beginnen. Der Chordirektor tut dasselbe für den Chor.
Dort in dem Kasten in der Mitte der Bühne arbeitet, für das Publikum nicht sichtbar, der Souffleur. Er (oder sie) verfolgt die Bewegungen des Dirigenten über eine interne Fernsehanlage und spricht, den Solisten immer etwas voraus, die Zeilen des Librettos mit für den Fall, daß ein Sänger eine Zeile nicht mehr weiß.
Der Regisseur oder Spielleiter schließlich überwacht die Verwandlungen des Bühnenbilds sowie Massenszenen, bei denen zahlreiche Schauspieler zugleich auftreten. Außerdem achtet er darauf, daß das Beleuchterteam die farbigen Lichtstrahlen im rechten Augenblick auf die richtigen Stellen der Bühne richtet. Man plant, die Scala ähnlich wie andere Opernhäuser mit zwei Dreh- oder Versenkbühnen auszustatten, um das Vorbereiten der Bühnenbilder zu erleichtern und jeweils auf mehr als eine Vorstellung hinarbeiten zu können.
Max: Daß eine Opernaufführung so viele Mitwirkende und so viel Arbeit erfordert, hätte ich wirklich nicht gedacht!
Antonello: O ja! Große Opernhäuser haben ein eigenes Orchester, einen Chor und ein Tanzensemble — das sind Hunderte von Künstlern. Und Dutzende von Mitarbeitern kommen noch hinzu, wenn man die Schneider, Schuhmacher, Tischler, Maskenbildner, Beleuchter, mindestens einen Bühnenbildner und andere mitrechnet, die am Herstellen und Malen der Bühnenausstattungen einen Anteil haben. Darüber hinaus wird Personal benötigt, das sich um Bereiche wie die Sicherheit und die Verwaltung kümmert.
Opern mit biblischem Hintergrund
Max: Gibt es Opern mit einer biblischen Grundlage?
Antonello: Ja, eine ganze Reihe sogar. Bei der Auswahl von Opernstoffen wurden viele verschiedene Quellen herangezogen wie die Geschichte alter Völker, Mythen, Sagen aus dem Mittelalter und Werke von William Shakespeare oder anderen Autoren. In der Oper Nabucco von dem italienischen Komponisten Giuseppe Verdi — der Titel ist eine Kurzform des Namens Nebukadnezar — wird von den Juden berichtet, die als Sklaven von Jerusalem nach Babylon verschleppt wurden. Gioacchino Rossini, ein anderer italienischer Komponist, schrieb die Oper Mosè (Moses), und der französische Musiker Charles-Camille Saint-Saëns komponierte Samson et Dalila (Simson und Delila). Die Handlung der Dramen stimmt zwar nicht genau mit dem Bibelbericht überein, aber interessanterweise kommt in allen drei Opern der Name Gottes, Jehova, vor.
Max: Tatsächlich? Ich weiß, daß der Name Gottes in Werken von Händel und Bach erwähnt wird, aber daß er in Operntexten vorkommt, ist mir neu.
Antonello: Im Schlußteil des Nabucco besingt der Chor den „großen Jehova“; auch der Hohepriester Zacharias nennt Gottes Namen. In Rossinis Oper ruft Moses „Iehova“ an, und in Samson et Dalila erscheint der Name „Iehova“ oder „Jehova“ ebenfalls an mehreren Stellen.
Max: Sehr interessant!
Antonello: Und es gibt noch weitere Opern, die sich auf die Bibel stützen. Dazu gehören Salome von Richard Strauss, Moses und Aron von Arnold Schönberg und Debora e Jaele (Debora und Jael) von Ildebrando Pizzetti. Aber schau! Der letzte Akt beginnt gleich.
Ein faszinierender Abend
Antonello: Hat dir die Oper gefallen?
Max: Ja, besonders weil ich auf deine Anregung hin das Libretto schon gelesen hatte und so der Handlung folgen konnte — damit hätte ich sonst wahrscheinlich Probleme gehabt.
Antonello: Den Text vollständig zu verstehen, der von den Solisten und vom Chor gesungen wird, ist praktisch unmöglich, weil die Musik mitunter die Stimmen übertönt und die Worte in der hohen Lage manchmal nicht klar zu unterscheiden sind. In vielen Opernhäusern ist man dazu übergegangen, übersetzte Untertitel oder Überschriften zu zeigen, damit die Besucher die Handlung besser mitbekommen.
Max: Es war eine ausgezeichnete Vorstellung, Antonello. Erbauende Musik und schöner Gesang erfüllen uns mit Wertschätzung für den Schöpfer, der dem Menschen sowohl die Stimme gegeben hat als auch die Fähigkeit, zu komponieren, zu musizieren und sich an Musik zu erfreuen. Vielen Dank für deine Einladung zu einem so angenehmen und begeisternden Abend!
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Zuschauerraum der Scala
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Lelli & Masotti/Teatro alla Scala
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Die Mailänder Scala
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Lelli & Masotti/Teatro alla Scala
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Oben: Szene aus der Oper „Samson et Dalila“
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Winnie Klotz