Mit einer Lernbehinderung leben
Der sechsjährige David hört gern Geschichten, und es ist für ihn die schönste Zeit am Tag, wenn ihm seine Mutter etwas vorliest. Er hat auch keinerlei Schwierigkeiten, sich das, was er hört, zu merken. Aber David hat ein Problem. Er kann nicht lesen. Ja jede Aufgabe, die visuelle Fertigkeiten erfordert, frustriert ihn.
Sarah ist in der dritten Klasse, doch ihre Schrift ist ungewöhnlich schludrig. Die Buchstaben sind nicht klar ausgeschrieben, manche sind sogar seitenverkehrt. Sorgen macht den Eltern auch, daß Sarah nicht einmal ihren Namen ohne Schwierigkeiten schreiben kann.
Josh, bereits ein Teenager, ist in der Schule in jedem Fach gut, außer in Mathematik. Das Konzept von numerischen Werten ist ihm ein einziges Rätsel. Er wird ärgerlich, wenn er Zahlen nur sieht, und sowie er sich an seine Mathematikhausaufgaben macht, ist seine gute Laune dahin.
WAS ist mit David, Sarah und Josh los? Sind sie einfach faul, dickköpfig oder vielleicht begriffsstutzig? Keineswegs! Jedes dieser Kinder ist normal bis überdurchschnittlich intelligent. Doch alle haben mit einer Lernbehinderung zu kämpfen. David hat Dyslexie, ein Begriff, der eine Reihe von Leseschwierigkeiten bezeichnet. Sarahs extreme Schwierigkeiten beim Schreiben nennt man Dysgraphie. Und Joshs Unvermögen, die grundlegenden Begriffe der Mathematik zu erfassen, bezeichnet man als Dyskalkulie. Das sind lediglich drei Formen von Lernbehinderungen. Es gibt noch viele weitere, und nach Schätzungen etlicher Experten sind in den Vereinigten Staaten insgesamt mindestens 10 Prozent der Kinder davon betroffen.
Definition des Begriffs „Lernbehinderung“
Natürlich haben die meisten Kinder und Jugendlichen hin und wieder Probleme mit dem Lernen. Gewöhnlich ist das jedoch kein Hinweis auf eine Lernbehinderung. Es zeigt nur, daß alle Kinder Stärken und Schwächen haben, was das Lernen angeht. Manche lernen enorm gut über das Gehör; sie können einfach über das Hören Informationen aufnehmen. Andere sind eher visuelle Typen; sie lernen besser durch Lesen. In der Schule werden diese Schüler jedoch in ein und dasselbe Klassenzimmer gesetzt, und man erwartet von allen, daß sie ungeachtet der verwendeten Lehrmethode etwas lernen. Da läßt es sich nicht verhindern, daß einige Kinder Lernschwierigkeiten haben.
Manche Experten sind allerdings der Meinung, daß zwischen einfachen Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen ein Unterschied besteht. Lernschwierigkeiten könnten mit Geduld und Anstrengungen überwunden werden, erklären sie. Lernbehinderungen sollen jedoch tiefere Ursachen haben. „Das Gehirn des ls [lerngestörten] Kindes [scheint] bei gewissen Aufgaben mangelhaft wahrzunehmen, zu verarbeiten und sich zu erinnern“, schreiben Dr. Paul Wender und Dr. Esther Wender.a
Eine Lernbehinderung bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, daß das Kind geistig behindert ist. Als Erklärung zieht das Ehepaar Wender eine Parallele zu Menschen mit Tontaubheit, also Menschen, die nicht in der Lage sind, Töne verschiedener Höhe zu unterscheiden. „Tontaube sind weder hirngeschädigt, noch ist etwas falsch mit ihrem Hörvermögen“, schreiben Paul und Esther Wender. „Niemand würde auf die Idee kommen, Tontaubheit sei die Folge von Faulheit, schlechtem Schulunterricht oder ungenügender Motivation.“ Ebenso sei es mit Lernbehinderten. Oftmals konzentriere sich die Schwierigkeit auf einen speziellen Aspekt des Lernens.
Das erklärt, warum viele lernbehinderte Kinder durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent sind; manche von ihnen sind sogar hochintelligent. Oftmals ist es gerade dieses Paradoxon, das Ärzte auf eine möglicherweise bestehende Lernbehinderung aufmerksam werden läßt. In dem Buch Why Is My Child Having Trouble at School? liest man die Erklärung: „Ein lernbehindertes Kind ist mindestens zwei Jahre hinter dem für sein Alter üblichen Entwicklungsstand und seinem geschätzten IQ zurück.“ Die Schwierigkeit besteht mit anderen Worten nicht nur darin, daß das Kind Mühe hat, mit Gleichaltrigen Schritt zu halten, sondern auch, daß es hinter seiner eigenen Leistungsfähigkeit zurückbleibt.
Die nötige Hilfe bieten
Nicht selten wird die Situation durch die emotionellen Auswirkungen der Lernbehinderung noch verschlimmert. Lernbehinderte Kinder werden vielleicht wegen ihrer schwachen Leistungen in der Schule von Lehrern und Mitschülern und möglicherweise sogar von ihren eigenen Angehörigen für Versager gehalten. Leider entwickeln viele dieser Kinder ein negatives Selbstbild, das sie auch als Heranwachsende unter Umständen nicht ablegen. Das ist mit Recht besorgniserregend, denn Lernbehinderungen verschwinden im allgemeinen nicht.b „Lernbehinderungen sind Behinderungen fürs Leben“, schreibt Dr. Larry B. Silver. „Dieselben Behinderungen, die die Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeit hemmen, werden auch sportliche und andere Aktivitäten, das Familienleben und den Umgang mit Freunden beeinträchtigen.“
Daher ist es wichtig, daß lernbehinderte Kinder von ihren Eltern unterstützt werden. „Kinder, die wissen, daß ihre Eltern entschieden für sie eintreten, können, von dieser Basis ausgehend, ein Gefühl der Kompetenz und der Selbstachtung entwickeln“, heißt es in dem Buch Parenting a Child With a Learning Disability.
Aber um für ihre Kinder eintreten zu können, müssen die Eltern zuerst ihre eigenen Gefühle analysieren. Manche Eltern fühlen sich schuldig, so als ob sie für den Zustand ihres Kindes irgendwie verantwortlich seien. Andere reagieren panisch, weil sie sich mit der vor ihnen liegenden Aufgabe überfordert sehen. Beide Reaktionen helfen nicht gerade weiter. Sie lähmen die Eltern förmlich und verhindern, daß das Kind die nötige Hilfe erhält.
Stellt ein Spezialist daher fest, daß ein Kind lernbehindert ist, sollten die Eltern nicht den Kopf hängen lassen. Lernbehinderte Kinder benötigen einfach nur besondere Unterstützung in einem bestimmten Lernbereich. Eltern sollten sich die Zeit nehmen und sich mit allen Programmen vertraut machen, die in ihrer Gegend für lernbehinderte Kinder angeboten werden. Viele Schulen sind heute auf solche Situationen besser eingestellt als noch vor Jahren.
Experten betonen, daß man sein Kind für jede noch so geringe Leistung loben sollte. Eltern sollten nicht mit Lob sparen. Gleichzeitig dürfen sie Erziehungsmaßnahmen nicht vernachlässigen. Kinder brauchen eine gewisse Ordnung, und das trifft auf lernbehinderte Kinder noch viel mehr zu. Eltern sollten ihr Kind daher wissen lassen, was sie von ihm erwarten, und sich an feste Regeln halten.
Schließlich sollten sie lernen, ihre Situation realistisch zu sehen. In dem Buch Parenting a Child With a Learning Disability wird das auf folgende Weise verdeutlicht: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen in Ihr Lieblingsrestaurant und bestellen Kalbsfilet. Als Ihnen der Kellner das Essen serviert, bemerken Sie, daß es Lammfilet ist. Beides sind köstliche Gerichte, aber Sie waren auf Kalb eingestellt. Viele Eltern müssen in ihrem Denken umschalten. Vielleicht waren Sie nicht auf Lamm eingestellt, aber Sie finden es dann doch herrlich. So geht es Ihnen auch, wenn Sie Kinder mit besonderen Bedürfnissen großziehen.“
[Fußnoten]
a Einige Studien deuten an, daß bei Lernbehinderungen eventuell genetische Faktoren oder äußere Einflüsse, wie zum Beispiel eine Bleivergiftung oder Drogen- beziehungsweise Alkoholmißbrauch während der Schwangerschaft, eine Rolle spielen. Der oder die Gründe sind jedoch nicht genau bekannt.
b In manchen Fällen zeigen Kinder eine vorübergehende Lernbehinderung, weil ihre Entwicklung auf einem bestimmten Gebiet verzögert ist. Bei solchen Kindern legen sich die Symptome, wenn sie heranwachsen.