Dunkle Wolken über dem Regenwald
VOM Flugzeug aus gesehen, erinnert der Amazonas-Regenwald an einen kontinentgroßen flauschigen Teppich und sieht heute noch so grün und urwüchsig aus wie damals, als Orellana ihn auf der Karte einzeichnete. Während man sich mühsam seinen Weg durch den feuchtheißen Wald bahnt und um Insekten, die so groß sind wie kleine Säugetiere, einen Bogen macht, fällt es einem schwer, zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Blätter entpuppen sich als Schmetterlinge, Lianen als Schlangen und ein dürres Stück Holz als ein aufgeschrecktes Nagetier, das flink davonhuscht. Im Amazonaswald verwischen sich die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit auch heute noch.
„Das größte Paradoxon ist, daß die Wirklichkeit des Amazonaswaldes so phantastisch ist wie seine Legenden“, meinte jemand, der den Regenwald bereiste. Und der Regenwald ist wirklich phantastisch! Man muß sich einmal einen Wald von der Größe Westeuropas vorstellen, sich in diesen Wald über 4 000 verschiedene Baumarten hineindenken, sich die Schönheit der mehr als 60 000 Blütenpflanzenarten ausmalen, die den Wald zieren, sich 300 Säugetierarten dazudenken und im Geist die leuchtenden Farben der 1 000 Vogelarten sehen sowie das Summen von vielleicht zwei Millionen Insektenarten hören. Dann begreift man, warum jeder, der den Amazonas-Regenwald beschreibt, am Ende von ihm nur noch in Superlativen spricht. Weniger würde der enormen biologischen Vielfalt des größten tropischen Regenwaldes der Erde auch nicht gerecht werden.
Isolierte „lebende Tote“
Vor neunzig Jahren beschrieb der amerikanische Schriftsteller und Humorist Mark Twain diesen faszinierenden Wald als „ein verzaubertes Land, ein Land, verschwenderisch reich an tropischen Wundern, ein malerisches Land, wo alle Vögel, Blumen und Tiere in ein Museum gehören und wo sich der Alligator, das Krokodil und der Affe anscheinend so zu Hause fühlen wie im Zoo“. Heute hat Mark Twains humoristische Bemerkung eine ernüchternde Bedeutung angenommen. Museen und Zoos sind möglicherweise bald das einzige Zuhause, das immer mehr Tieren und Pflanzen der tropischen Wunderwelt des Amazonaswaldes noch bleibt. Wieso?
Die Hauptursache dafür ist offensichtlich, daß der Mensch den Amazonas-Regenwald nach und nach kahlschlägt und damit das natürliche Zuhause der heimischen Flora und Fauna zerstört. Doch neben der großflächigen Zerstörung der Lebensräume gibt es weitere, schleichende Ursachen dafür, daß sich manche Pflanzen- und Tierarten langsam in „lebende Tote“ verwandeln, auch wenn sie augenblicklich noch existieren. Mit anderen Worten, Fachleute sind der Ansicht, das Aussterben dieser Arten könne nicht aufgehalten werden.
Ein Grund dafür ist Isolierung. Regierungsvertreter, die sich für den Naturschutz einsetzen, verbannen die Kettensäge vielleicht aus einem bestimmten Waldstück, um das Überleben der heimischen Arten dort zu sichern. Eine kleine Waldinsel bedeutet für die Arten jedoch langfristig das Aussterben. Das Buch Schutz der tropischen Wälder. Eine internationale Schwerpunktaufgabe verdeutlicht durch ein Beispiel, wieso kleine Waldinseln die Lebensformen nicht auf Dauer erhalten können.
Tropische Baumarten bestehen oftmals aus männlichen und weiblichen Bäumen. Bei der Fortpflanzung sind ihnen Fledermäuse behilflich, die den Pollen von männlichen zu weiblichen Blüten tragen. Natürlich funktioniert dieser Bestäubungsservice nur, wenn die Bäume im Flugbereich der Fledermäuse wachsen. Wird der Abstand zwischen dem weiblichen und dem männlichen Baum zu groß — wie es häufig der Fall ist, wenn Waldinseln schließlich weiträumig von verbrannter Erde umgeben sind —, kann die Fledermaus die Distanz nicht überbrücken. Die Bäume, heißt es in dem Bericht, könnten dann „als ‚lebende Tote‘ bezeichnet werden, da ihre dauerhafte Fortpflanzung nicht gesichert ist“.
Dieses Zusammenspiel zwischen Bäumen und Fledermäusen ist nur e i n Beispiel für die natürliche Lebensgemeinschaft im Amazonaswald. Einfach ausgedrückt, gleicht der Amazonaswald einem riesigen Haus, das einer Vielfalt an Lebensformen, die in enger Wechselbeziehung zueinander stehen, Kost und Logis bietet. Um Übervölkerung zu verhindern, leben die Bewohner des Regenwaldes in verschiedenen Stockwerken, manche am Boden, andere hoch oben im Dach. Alle Bewohner haben eine bestimmte Aufgabe; sie arbeiten rund um die Uhr — einige tagsüber, andere nachts. Ermöglicht man allen Arten, ihren Arbeitsbeitrag zu leisten, dann funktioniert diese komplexe Lebensgemeinschaft der Flora und Fauna im Amazonaswald mit höchster Präzision.
Das Ökosystem („öko“ leitet sich von óikos ab, dem griechischen Wort für „Haus“) im Amazonaswald ist jedoch empfindlich. Selbst wenn sich der Eingriff des Menschen in die Waldgemeinschaft auf die Ausbeutung einiger weniger Arten beschränkt, wirkt sich sein Eindringen auf alle Stockwerke des „Hauses“ aus. Der Naturschützer Norman Myers schätzt, daß das Aussterben einer einzigen Pflanzenart letztlich zur Auslöschung von 30 Tierarten führen kann. Und da die meisten tropischen Baumarten ihrerseits bei der Verbreitung von Samen auf Tiere angewiesen sind, bewirkt der Mensch durch die Ausrottung solcher Tierarten auch das Aussterben der entsprechenden Bäume. (Siehe Kasten „Wechselbeziehung zwischen Bäumen und Fischen“.) Ebenso wie die Isolation befördert der Eingriff in die Lebensgemeinschaften immer mehr Tier- und Pflanzenarten des Waldes in die Reihen der „lebenden Toten“.
Kleine Kahlschläge — Kleine Verluste?
Manche rechtfertigen die Rodung kleiner Flächen mit der Begründung, der Wald werde sich wieder erholen und auf dem kahlgeschlagenen Stück Land werde neues Grün nachwachsen, ähnlich wie sich nach einem Schnitt in den Finger wieder eine neue Hautschicht bilde. Stimmt das? Nun, nicht ganz.
Selbstverständlich ist es richtig, daß der Wald wieder nachwächst, wenn man das abgeholzte Waldstück lange genug ruhen läßt. Es ist allerdings auch richtig, daß die neue Pflanzendecke dem ursprünglichen Wald nicht viel mehr gleicht als eine schlechte Fotokopie ihrer scharfen Vorlage. Die brasilianische Botanikerin Ima Vieira stellte bei der Untersuchung eines hundert Jahre alten, nachgewachsenen Waldstreifens fest, daß von den 268 Baumarten, die im ursprünglichen Wald vorhanden waren, heute im nachgewachsenen Teilstück nur noch 65 zu finden sind. Ähnlich verhalte es sich mit den Tierarten in diesem Gebiet, sagt die Botanikerin. Die Entwaldung verwandelt grüne Wälder demnach nicht gleich in rote Wüsten, wie manche behaupten, aber sie bewirkt, daß ganze Teilstücke des Amazonas-Regenwaldes nur noch ein schwacher Abklatsch des Originals sind.
Außerdem werden bei der Abholzung kleiner Waldstücke oftmals viele Pflanzen und Tiere vernichtet, die nur in diesem Waldstück wachsen, kriechen oder klettern und nirgendwo sonst. In Ecuador fanden Forscher beispielsweise in einem 1,7 Quadratkilometer großen Tropenwaldgebiet 1 025 Pflanzenarten. Davon wuchsen über 250 Arten nirgendwo sonst auf der Erde. „Ein Beispiel aus der hiesigen Gegend“, erklärt der brasilianische Ökologe Rogério Gribel, „ist der sauim-de-coleira“ (in Deutsch: Zweifarbenäffchen) — ein liebenswerter kleiner Affe, der aussieht, als ob er ein weißes T-Shirt trage. „Die wenigen verbliebenen Tiere leben nur in einem kleinen Waldstück in der Nähe von Manaus in Zentralamazonien. Die Zerstörung dieses kleinen Habitats“, sagt Dr. Gribel, „wird diese Affenart für immer auslöschen.“ Kleine Kahlschläge bedeuten also große Verluste.
Der „Teppich“ wird zusammengerollt
Rücksichtsloser Kahlschlag schwebt jedoch als dunkelste Wolke über dem Amazonas-Regenwald. Straßenbauarbeiter, Holzfäller, Bergarbeiter und ganze Horden sonstiger Arbeiter rollen den Wald wie einen Teppich zusammen und radieren im Handumdrehen ganze Ökosysteme aus.
Über die genauen Zahlen der jährlichen Waldvernichtungsrate Brasiliens herrschen zwar größte Meinungsverschiedenheiten — vorsichtige Schätzungen gehen von 36 000 Quadratkilometern im Jahr aus —, aber bisher sind möglicherweise insgesamt mehr als 10 Prozent des Amazonas-Regenwaldes (eine Fläche größer als Deutschland) zerstört worden. Wie das wöchentlich erscheinende führende Nachrichtenmagazin Brasiliens, Veja, meldete, haben Bauern 1995 im ganzen Land ungefähr 40 000 Rodungsfeuer gelegt — fünfmal mehr als im Jahr davor. Der Mensch setze dem Wald durch Brandrodung so sehr zu, schrieb Veja mahnend, daß Teile des Amazonaswaldes „entlang der grünen Randgebiete einem Flammenmeer“ gleichen.
Arten verschwinden — Na und?
„Aber brauchen wir denn wirklich all die Millionen von verschiedenen Arten?“ fragen manche. Ja, wir brauchen sie, erklärt der Naturschützer Edward O. Wilson von der Harvarduniversität. „Da wir auf intakte Ökosysteme angewiesen sind, die unser Wasser säubern, den Boden ertragreich machen und uns Luft zum Atmen liefern“, sagt Wilson, „liegt es auf der Hand, daß man biologische Vielfalt nicht nachlässig abtun darf.“ So heißt es in dem Buch People, Plants, and Patents: „Zugang zu einer reichen genetischen Vielfalt wird der entscheidende Faktor für das Überleben des Menschen sein. Verschwindet die Vielfalt, werden wir bald folgen.“
Ja, die Folgen der Artenvernichtung gehen weit darüber hinaus, daß Bäume gefällt werden, Tiere in ihrer Existenz bedroht sind und im Wald lebende Menschen behelligt werden. (Siehe Kasten „Der Faktor Mensch“.) Das Schwinden der Wälder könnte auch für uns Folgen haben. Zur Verdeutlichung: Ein Bauer in Mosambik, der Maniokstengel schneidet, eine Mutter in Usbekistan, die eine Antibabypille einnimmt, ein verletzter Junge in Sarajevo, dem man Morphium verabreicht, und ein Kunde in einem Geschäft in New York, der an einem exotischen Duft schnuppert — alle diese Menschen, so erklärte das Panos-Institut, gehen mit Erzeugnissen aus dem Tropenwald um. Der ungerodete Wald versorgt somit Menschen rund um den Erdball — auch uns.
Weder Überfluß noch Hungersnot
Natürlich kann der Amazonas-Regenwald nicht bewirken, daß Menschen weltweit im Überfluß leben, aber er kann verhindern helfen, daß Menschen weltweit hungern müssen. (Siehe Kasten „Der Mythos vom fruchtbaren Boden“.) Auf welche Weise? Nun, in den 70er Jahren fing man an, in großem Umfang eine Reihe Pflanzenarten zu säen, die zu Rekordernten führten. Obgleich durch diese Hochleistungspflanzen 500 weitere Millionen Menschen ernährt werden konnten, hat die ganze Sache einen Haken. Diese hochgezüchteten Pflanzen sind schwach und besonders anfällig für Krankheiten. Ein Virus kann die gesamte Rekordernte einer Nation vernichten und eine Hungersnot auslösen.
Um widerstandsfähigere Pflanzensorten zu erhalten und Hungersnöte abzuwenden, dringt die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) heute auf die „Verwendung eines breitgefächerteren Genmaterials“. Genau hier kommen der Regenwald und seine Bewohner ins Spiel.
Da die tropischen Wälder über die Hälfte der Pflanzenarten der Erde beherbergen (darunter 1 650 Arten, die möglicherweise Nutzpflanzen sind), ist die „Schatzkammer“ im Amazonaswald der ideale Platz für jeden Forscher, der wilde Pflanzenarten sucht. Außerdem wissen die Bewohner des Waldes, wie man diese Pflanzen nutzt. Die Kayapo-Indianer in Brasilien züchten beispielsweise nicht nur neue Pflanzensorten, sondern legen an Abhängen regelrechte Genbanken mit Musterexemplaren an. Durch die Kreuzung solcher wilden Pflanzensorten mit den für Krankheiten anfälligen Kulturpflanzenarten werden die Nutzpflanzen kräftiger und widerstandsfähiger. Und das ist laut der FAO auch dringend nötig, denn „in den nächsten 25 Jahren muß die Nahrungsmittelproduktion um 60 Prozent steigen“. Dennoch dringen die Bulldozer immer tiefer in den Amazonas-Regenwald ein und mähen die Bäume um.
Welche Folgen hat das? Nun, wenn der Mensch den Regenwald zerstört, ist das geradeso, als ob der Bauer sein eigenes Saatkorn ißt — er stillt seinen unmittelbaren Hunger, gefährdet aber seine künftige Nahrungsmittelversorgung. Eine Gruppe Experten sagte zum Thema Biodiversität unlängst warnend: „Die Erhaltung und Weiterentwicklung der verbleibenden Pflanzenvielfalt ist ein wichtiges globales Anliegen.“
Pflanzen mit vielversprechender Wirkung
Auch bei einem Blick in die „Apotheke“ des Waldes wird einem bewußt, daß die Existenz des Menschen mit tropischen Kletterpflanzen und anderen Pflanzen eng verknüpft ist. So werden aus Kletterpflanzen des Amazonaswaldes gewonnene Alkaloide vor einer Operation zur Muskelentspannung eingesetzt; 4 von 5 leukämiekranken Kindern können dank der Wirkstoffe im Rosa Immergrün, einer Waldpflanze, länger leben. Der Wald liefert auch Chinin, mit dem Malaria bekämpft wird, Digitalis, das bei Herzversagen eingesetzt wird, und Diosgenin, das für empfängnisverhütende Mittel verwendet wird. Weitere Pflanzen zeigen sich als vielversprechend im Kampf gegen Aids und Krebs. „Allein im Amazonasraum“, hieß es in einem UN-Report, „sind 2 000 Pflanzenarten registriert worden, die von der einheimischen Bevölkerung für medizinische Zwecke genutzt werden und pharmazeutisch wertvoll sein können.“ Weltweit, so berichtet eine andere Studie, behandeln 80 Prozent aller Menschen Krankheiten mit Heilpflanzen.
Deshalb sei es vernünftig, die Pflanzen zu retten, die uns retten, meint Dr. Philip M. Fearnside. „Der Verlust des Amazonaswaldes gilt als schwerwiegender potentieller Rückschlag in dem Bemühen, Heilmittel für Krebs zu finden. ... Die Ansicht, die Glanzleistungen der modernen Medizin würden uns gestatten, auf einen Großteil dieser Bestände zu verzichten“, sagt er weiter, „stellt eine Form der Überheblichkeit dar, die tödlich sein kann.“
Dennoch vernichtet der Mensch Tiere und Pflanzen nach wie vor schneller, als sie entdeckt und identifiziert werden können. Da fragt man sich schon: „Warum werden die Wälder weiter abgeholzt? Kann die Entwicklung umgekehrt werden? Hat der Amazonas-Regenwald eine Zukunft?“
[Kasten/Bild auf Seite 7]
Der Faktor Mensch
Die Störung des ökologischen Gleichgewichts und das Abholzen der Wälder schaden nicht nur der Pflanzen- und Tierwelt, sondern auch dem Menschen selbst. Von den 5 Millionen Indianern, die einst im Einklang mit dem Wald die brasilianische Amazonasregion bewohnten, leben heute nur noch rund 300 000. Sie werden jedoch zunehmend von Holzfällern, Goldsuchern und anderen aufgeschreckt; diese betrachten die Indianer oftmals als ein „Hindernis für die Entwicklung“.
Dann gibt es noch die Caboclos, zähe Menschen gemischter Abstammung (Indianer und Weiße), deren Vorfahren sich vor etwa 100 Jahren im Amazonasraum niederließen. Sie wohnen in Pfahlbauten entlang den Flüssen, und obwohl sie von Ökologie vielleicht noch nie etwas gehört haben, leben sie vom Wald, ohne ihn zu zerstören. Doch ihre Existenz wird tagtäglich von einer Welle neuer Einwanderer bedroht, die in ihr Zuhause, den Wald, eindringen.
Man kann sogar sagen, daß die rund 2 Millionen Nußsammler, Kautschukzapfer, Fischer und sonstigen Einheimischen, die im Einklang mit den Zyklen des Waldes und dem Rhythmus der anschwellenden und zurückgehenden Flüsse leben, eine ungewisse Zukunft erwartet. Nach dem Dafürhalten vieler sollten die Bemühungen um den Waldschutz über den Schutz der Mahagonibäume und der Rundschwanz-Seekühe hinausgehen. Auch die menschlichen Waldbewohner sollten geschützt werden.
[Kasten auf Seite 8]
Der Mythos vom fruchtbaren Boden
Die Vorstellung, daß der Boden im Amazonasgebiet fruchtbar ist, schreibt die Zeitschrift Counterpart, sei ein „Mythos, der sich schwer wieder aus der Welt schaffen läßt“. Im 19. Jahrhundert beschrieb der Forscher Alexander von Humboldt das Amazonasgebiet als „Kornkammer der Welt“. Ein Jahrhundert später fand auch der US-Präsident Theodore Roosevelt, daß das Amazonasgebiet gute Voraussetzungen für die Landwirtschaft mit sich bringt. „Ein so reiches und fruchtbares Land“, so schrieb er, „darf nicht unbearbeitet bleiben.“
Jeder Bauer, der ihre Ansicht teilt, stellt tatsächlich fest, daß der Boden in den ersten Jahren einen ansehnlichen Ertrag abwirft, denn die Asche der verbrannten Bäume und Pflanzen dient als Dünger. Danach wird das Land jedoch unfruchtbar. Das saftige Grün des Waldes scheint zwar auf einen fruchtbaren Boden hinzudeuten, aber in Wirklichkeit ist der Boden die Schwachstelle des Waldes. Wieso?
Erwachet! unterhielt sich mit Dr. Flávio J. Luizão, einem Forscher vom Nationalen Institut für Forschung im Amazonasraum und Experten zum Thema Regenwaldboden. Hier einige Auszüge aus seinen Erläuterungen:
„Im Gegensatz zu vielen anderen Waldböden holt sich ein Großteil des Bodens im Amazonasbecken die Nährstoffe nicht von unten nach oben, aus dem verwitterten Gestein, weil das Muttergestein nährstoffarm ist und zu tief unter der Oberfläche liegt. Statt dessen holt sich der ausgewaschene Boden die Nährstoffe von oben nach unten, aus dem Regen und der Waldstreu. Um jedoch echte Nährstoffspender zu werden, benötigen die Regentropfen und das heruntergefallene Laub Unterstützung. Warum?
Der Regen, der auf den Regenwald fällt, ist an und für sich nicht sehr nährstoffreich. Doch wenn das Regenwasser auf die Blätter trifft und die Stämme hinunterläuft, nimmt es aus den Blättern, den Zweigen, dem Moos, den Algen, den Ameisennestern und aus dem Staub Nährstoffe auf. Bis das Wasser in den Boden sickert, ist es mit wertvollen Nährstoffen angereichert. Um zu verhindern, daß diese flüssigen Nährstoffe einfach in die Bäche rinnen, verfügt der Boden über eine regelrechte ,Nährstoffalle‘ in Form einer verzweigten Feinwurzelmatte, die sich in den ersten Zentimetern der oberen Bodenschicht befindet. Ein Beweis für die Wirksamkeit dieser ,Falle‘ ist, daß die Bäche, die das Regenwasser aufnehmen, nährstoffärmer sind als der Waldboden. Die Wurzeln können die Nährstoffe also aufnehmen, noch bevor das Wasser in die Bäche oder Flüsse fließt.
Eine weitere Nährstoffquelle ist die Waldstreu — herabgefallenes Laub sowie herabgefallene Zweige und Früchte. Ungefähr acht Tonnen feine Streu landen jedes Jahr auf einem Hektar Waldboden. Doch wie gelangt die Streu unter die Erdoberfläche und zum Wurzelwerk der Pflanzen? Dabei helfen Termiten. Sie schneiden aus den Blättern scheibenförmige Stücke heraus und tragen sie in ihre unterirdischen Nester. Besonders in der Regenzeit ist dieses Völkchen emsig damit beschäftigt, 40 Prozent der gesamten Waldstreu unter die Erde zu befördern. Eine erstaunliche Leistung! Mit den Blättern legen sie Gärten für Pilzkulturen an. Die Pilze wiederum zersetzen das Pflanzenmaterial und geben Stickstoff, Phosphor, Kalzium und andere Elemente frei — wertvolle Nährstoffe für Pflanzen.
Welchen Nutzen haben die Termiten davon? Sie werden dadurch mit Nahrung versorgt, denn sie ernähren sich von den Pilzen und verschlingen mitunter auch so manches Blattstückchen. Dann werden die Mikroorganismen in den Gedärmen der Termiten aktiv und wandeln die Nahrung chemisch um, so daß die Exkremente Nährstoffe für die Pflanzenwelt liefern. Niederschläge und die Wiederverwertung organischer Substanz sind also zwei Faktoren, die den Regenwald am Leben erhalten und sein Wachstum gewährleisten.
Man kann leicht abschätzen, was es bedeutet, wenn man den Wald kahlschlägt und niederbrennt. Dann gibt es kein Kronendach mehr, das die Niederschläge auffängt, und keine Streuauflage, die wiederverwertet werden kann. Statt dessen prasselt der strömende Regen mit Macht direkt auf den Boden und verhärtet die Bodenoberfläche. Gleichzeitig fällt das Sonnenlicht auf den ungeschützten Boden, erhöht die Bodentemperatur und verdichtet den Boden. Infolgedessen läuft das Regenwasser ab und fließt in die Flüsse, statt den Boden zu versorgen. Der Nährstoffverlust durch die Entwaldung und Brandrodung kann so groß sein, daß Flüsse nahe der kahlgeschlagenen Region sogar einen Nährstoffüberschuß aufweisen, der für die Lebensformen im Wasser gefährlich ist. Wenn man den Wald unberührt läßt, kann er sich eindeutig selbst erhalten, aber sobald der Mensch eingreift, kommt es zu einer Katastrophe.“
[Kasten/Bilder auf Seite 9]
Wechselbeziehung zwischen Bäumen und Fischen
In der Regenzeit schwillt der Amazonas an und überflutet die Bäume, die in den Tieflandwäldern wachsen. Wenn die Überschwemmung den Höchststand erreicht, tragen die meisten Bäume in diesen Wäldern gerade Früchte, und ihre Samen fallen herunter; aber natürlich halten sich in ihrer Nähe unter Wasser keine Nagetiere auf, die die Samen verbreiten könnten. Hier muß der Tambaqui (Colonnonea macropomum) einspringen, ein schwimmender „Nußknacker“ mit einem feinen Geruchssinn. Der Fisch schwimmt zwischen den Zweigen der überschwemmten Bäume umher und nimmt durch den Geruch wahr, welcher Baum Samen trägt. Fallen die Samen ins Wasser, knackt der Fisch mit seinem kräftigen Kiefer die Schalen auf, schluckt die Samenkerne mitsamt dem fleischigen Nährgewebe hinunter, verdaut das Fruchtfleisch und scheidet die Samenkerne wieder aus; diese fallen auf den Waldboden und keimen, wenn das Wasser zurückgeht. Sowohl der Fisch als auch der Baum profitieren davon. Der Tambaqui speichert Fett, und der Baum vermehrt sich. Holzt man die Bäume ab, gefährdet man das Überleben sowohl des Tambaqui als auch von rund 200 weiteren früchtefressenden Fischarten.
[Bild auf Seite 5]
Fledermäuse tragen Pollen von männlichen zu weiblichen Blüten
[Bildnachweis]
Rogério Gribel
[Bild auf Seite 7]
Unsere „Schatzkammer“ und „Apotheke“
[Bild auf Seite 7]
Feuer bedroht die grünen Randgebiete
[Bildnachweis]
Philip M. Fearnside