Fragen von Lesern
● In Matthäus 5:22 heißt es: „Ich sage euch: Wer mit seinem Bruder [ohne Grund] zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig.“ (Lu) Vor welchen drei Gefahren werden hier Missetäter gewarnt? — T. C., Pennsylvanien.
Die Neue-Welt-Übersetzung zeigt, daß „Gericht“ und „Rat“ sich auf Gerichtshöfe beziehen und „höllisches Feuer“ oder „Höllenfeuer“ auf das Tal Hinnom oder die Gehenna: „Jeder, der im Zorn über seinen Bruder verharrt, wird dem Gerichtshof Rechenschaft geben müssen, doch wer immer ein unsägliches Wort der Geringschätzung an seinen Bruder richtet, wird dem höchsten Gericht Rechenschaft geben müssen, während irgendwer, der sagt ‚du verächtlicher Tor!‘ der feurigen Gehenna verfallen sein wird.“ Die Vergehungen nehmen an Ernst in der genannten Reihenfolge zu, und logischerweise nimmt auch die Autorität jener, denen die Missetäter Rechenschaft geben müssen, oder die Behandlung, der sie sich aussetzen, im selben Maße an Ernst zu.
Der Gerichtshof scheint derselbe zu sein wie die Ortsgerichte, von denen in Matthäus 10:17 und Markus 13:9 die Rede ist, und die Fußnote, die zu dem Ausdruck „Ortsgerichte“ in diesen Texten der Neuen-Welt-Übersetzung erscheint, kennzeichnet sie als „Geringere Sánhedrins“. Sánhedrin [Synedrium] bedeutet eine Versammlung oder einen Rat. Das Mosaische Gesetz traf Vorkehrung für Ortsgerichte, wo geeignete Männer Rechtsfälle in den Toren der Städte untersuchten. Laut 5. Mose 16:18 war angeordnet: „Richter und Vorsteher sollst du dir einsetzen, nach deinen Stämmen, in allen deinen Toren, die Jehova, dein Gott, dir gibt, damit sie das Volk richten mit gerechtem Gericht.“ Diese Ortsgerichte hatten die Rechtsgewalt sogar für Mordtaten inne und konnten das Todesurteil fällen. Sie wurden nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft von Esra wieder eingeführt, und es scheint, daß die Leviten in großem Maße dazu gebraucht wurden, die Dienstposten an diesen Gerichten auszufüllen. — 5. Mose 19:12; 21:1, 2; 1. Chron. 23:4; 26:29; Esra 7:25, 26.
Während der Zeit Jesu und der Apostel waren diese Ortsgerichte oder Geringeren Sanhedrins [Synedrien] in Funktion, standen aber zufolge der römischen Herrschaft über Palästina unter bestimmten Einschränkungen. Gemäß den Rabbinern bestanden diese niedrigeren Gerichte aus 23 Richtern in Städten, wo es 120 Volksvertreter für verschiedene Verwendungen und Dienste bei Gerichten gab; doch in kleinen Städten, wo diese Zahl nicht zur Verfügung stand, wurden nur 3 Richter verwendet. Von Jerusalem wird gesagt, es habe zwei Gerichtshöfe von je 23 Richtern gehabt und dazu 390 Gerichtshöfe von je 3 Richtern, um unbedeutendere Klagen zu untersuchen. Die von Josephus angegebenen Zahlen sind verschieden, denn er erklärt, diese Ortsgerichte hätten aus höchstens 7 Richtern bestanden, denen je 2 Beamte zugeteilt wurden, die Leviten gewesen seien. Fälle, deren Entscheidung für diese Ortsgerichte zu schwer waren, gingen an den Großen Sanhedrin in Jerusalem. — Josephus, Jüdische Altertümer, Buch 4, Kap. 8, Abschn. 14.
In Matthäus 5:22 nun wird auf den Großen Sanhedrin als den „Rat“ oder das „höchste Gericht“ Bezug genommen, wie dies aus der Fußnote der Neuen-Welt-Übersetzung hervorgeht. Er wurde im allgemeinen lediglich als der Sanhedrin bezeichnet. Man versteht gewöhnlich, daß die Bibel auf den Sanhedrin Bezug nimmt, wenn sie Oberpriester und Schriftgelehrte und Älteste in Zusammenhang bringt, wie zum Beispiel in Matthäus 16:21 (NW): „Von dieser Zeit an begann Jesus Christus seinen Jüngern zu zeigen, daß er nach Jerusalem hinaufgehen müsse und von den älteren Männern von Einfluß und Oberpriestern und Schriftgelehrten vieles leiden und getötet und am dritten Tage auferweckt werden müsse.“ Es wird die Behauptung erhoben, daß die 71 Glieder des Sanhedrins sich wie folgt zusammensetzten: 24 waren Oberpriester, 24 waren Älteste oder ältere Männer von Einfluß, 22 waren Schriftgelehrte oder Gesetzesgelehrte, und der Hohepriester brachte die Zahl auf 71. Ein Präsident und ein Vizepräsident wurden gewählt. Dieses jüdische höchste Gericht behandelte nur Fälle, welche die unteren Gerichte nicht entscheiden konnten und ihm überwiesen, sowie Fälle, welche die höchsten Vergehen betrafen und daher direkt an den Sanhedrin gingen. Dies traf besonders auf Fälle von Gotteslästerung oder Glaubensabfall zu. — Matth. 26:57, 59-68; Joh. 19:7; Apg. 5:27-29; 6:11-15; 7:1, 54-60.
Die Juden neigen zu dem Glauben, der Sanhedrin habe mit Mose und den 70 begonnen, die er ausgewählt hatte, um ihm in Dingen, Israel betreffend, in der Wüste richten zu helfen. (4. Mose 11:16, 17) Einige haben sogar den Gedanken geäußert, Jesus habe diese jüdische Körperschaft ersetzt, als er 70 Jünger zum Predigen aussandte, da Jesus als ihr Haupt mit ihnen zusammen die Zahl 71 ausmache. (Luk. 10:1) Die Tatsachen zeigen jedoch, daß der Sanhedrin aus der griechischen Herrschaft über Judäa stammte. Während römischer Herrschaft fällte er Gericht über Dinge, die Leben und Tod betrafen, doch konnte er seine Todesurteile nicht ausführen, sondern mußte seine Maßnahmen den römischen Behörden zur Begutachtung unterbreiten. — Joh. 18:28-40; 19:1-16.
Schließlich ist in Matthäus 5:22 von denen die Rede, die dem „höllischen Feuer“ oder der „Gehenna“ verfallen sind. Den Ausdruck „höllisches Feuer“ oder „Höllenfeuer“ zu gebrauchen, gibt einen falschen Gedanken wieder, denn im Originalgriechischen heißt es Gehenna des Feuers. Gehenna ist das griechische Wort für das hebräische Wort ge’i-Hinnom, was „Tal Hinnom“ bedeutet. Dieses Tal lag südwestlich vom alten Jerusalem. Während der Zeit der späteren Könige Judas wurde es zur götzendienerischen Anbetung des Molech benutzt, indem diesem Gott menschliche Brandopfer dargebracht wurden. (Jos. 15:8; 2. Chron. 28:3; 33:6; Jer. 7:31, 32; 32:35) Um seine erneute Verwendung für solch entsetzliche religiöse Zwecke zu verhindern, hatte der treue König Josia dieses Tal entweiht, und es wurde zum Ablagerungs- und Verbrennungsplatz für den Kehricht von Jerusalem. (2. Kön. 23:10) Tierleichen wurden hineingeworfen, um vom Feuer verzehrt zu werden, das dort brennend erhalten wurde und dem man Schwefel beifügte, um die Verbrennung zu fördern. Auch Leichname von hingerichteten Verbrechern, die man für eine Auferstehung als zu gemein erachtete, wurden dort hineingeworfen. Wenn die Leichen das Feuer nicht erreichten, sondern mehr am Rande der tiefen Schlucht hängenblieben, so wurden sie von Schluchtwürmern verzehrt. Der letzte Abschnitt über dieses Tal im Anhang der Neuen-Welt-Übersetzung auf Seite 767 lautet:
„Keine lebenden Tiere oder Menschengeschöpfe wurden in die Gehenna geworfen, damit sie lebendig verbrannten oder gequält würden. Folglich kann der Ort niemals ein unsichtbares Reich darstellen, wo Menschenseelen in buchstäblichem Feuer gequält und von unsterblichen Würmern immer und ewiglich angefressen würden. (Jes. 66:24) Weil man toten Verbrechern, die dort hineingeworfen wurden, ein anständiges Begräbnis in einer Gedächtnisgruft, welche die Auferstehungshoffnung darstellt, versagte, wurde die Gehenna von Jesus und seinen Jüngern als Sinnbild ewiger Vernichtung und Ausrottung aus Gottes Universum oder des ‚zweiten Todes‘, einer ewigen Strafe, gebraucht. Wenn also über jemand das Urteil gesprochen wurde, daß sein Leichnam in die Gehenna geworfen werden solle, so wurde dies als die schlimmste Art einer Strafe betrachtet. Von der buchstäblichen Gehenna und ihrer Bedeutung wurde das Sinnbild des Sees abgeleitet, „der mit Feuer und Schwefel brennt“, von dem in Offenbarung 19:20; 20:10, 14, 15; 21:8 die Rede ist.“
Im vorausgegangenen Verse (Matth. 5:21) lenkte Jesus die Aufmerksamkeit auf die wohlbekannte Tatsache, daß, wer immer einen Mord beging, dem Gerichtshof Rechenschaft schuldete, und zu diesem gewohnten Verständnis fügte er die Worte in Vers 22 bei, um zu zeigen, wieviel strenger die neuen Vorschriften seien, die er aussprach. Man könnte wohl über etwas zornig werden, aber in diesem gereizten Zustande zu verharren, würde dem Teufel das Tor öffnen und könnte zum Sündigen führen. (Eph. 4:26, 27) Wer so in einem Zustande des Zornes gegen einen Bruder verharrt, benötigt eine Zurechtweisung, wie dies durch den Gerichtshof dargestellt wird. Wenn sich dieser Zorn in „einem unsäglichen Wort der Geringschätzung“ kundtäte, wäre er noch verwerflicher und würde noch strengere Zurechtweisung oder Strafe erfordern, wie diese durch den höheren Gerichtshof oder jüdischen höchsten Gerichtshof, den Sanhedrin, dargestellt wird. Indes zu beginnen, einen Bruder als „verächtlichen Toren“ zu richten, was gemäß der Schrift bedeuten könnte, daß er Jehova Gott lästert und verleugnet (Ps. 14:1), ist äußerst ernst, und dadurch könnte sich jemand der ewigen Vernichtung oder in anderen Worten „der feurigen Gehenna“ schuldig machen. Somit gebrauchte Jesus Dinge, womit die Juden vertraut waren — den Gerichtshof und das höchste Gericht und die feurige Gehenna —, um ihnen die Strafe in ihrer zunehmenden Schwere und ihrem Ernst vor Augen zu führen, die auf Sünden von zunehmender Schwere folgt.