Unduldsamkeit ist ein Zeichen von Schwäche
DIE Unduldsamkeit ist eine leider weitverbreitete moralische Krankheit. Sie ist nicht nur weit verbreitet, sondern macht sich auch ganz verschieden bemerkbar. Der sündige Mensch kann davon befallen sein, ohne es zu merken. Webster definiert das Wort „Intoleranz“ als „die Weigerung, die Meinungen, Rechte oder die Anbetungsform anderer gelten zu lassen“. Sinnverwandt mit dem Wort Unduldsamkeit sind die Wörter Engherzigkeit, Voreingenommenheit und Dogmatismus.
Unduldsamkeit kommt demnach offensichtlich der Weigerung gleich, die gerechte, logische und der Liebe entsprechende „goldene Regel“ einzuhalten, wonach ‚wir alles, was wir wollen, daß uns Menschen tun, auch ihnen gleicherweise tun sollen‘. (Matth. 7:12, NW) Natürlich kann man nicht von Unduldsamkeit sprechen, wenn eine Regierung Gesetzesübertretungen und Verbrechen nicht duldet. Auch kann eine Religions- oder Brüderschaftsorganisation nicht als unduldsam bezeichnet werden, wenn sie unter ihren Mitgliedern niemanden duldet, der Ansichten vertritt oder Bräuche pflegt, die mit ihren Grundsätzen in Widerspruch stehen. Die Mitgliedschaft in einer solchen Organisation beruht auf Freiwilligkeit, und wenn jemand mit den Grundsätzen und Bräuchen der betreffenden Organisation nicht einverstanden ist, sollte er kein Mitglied derselben sein wollen.
Deshalb sagt uns die Bibel auch, daß Gott die Bösen schließlich alle vertilgen wird. (Ps. 145:20) Er duldet sie nicht in seinem Universum; doch das heißt nicht, daß Gott unduldsam wäre. Weshalb nicht? Weil Gott, der alle Dinge erschaffen hat, vermöge seiner Oberhoheit und seiner vollkommenen Eigenschaften, seiner Macht, Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe, das vorschreiben kann, was für das Universum das Richtige und Beste ist.
Obwohl Unduldsamkeit stets mit Gefühlen der Überlegenheit verbunden ist, mögen diese Gefühle — und zwar eher als nicht — nur oberflächlich sein; es liegt ihnen ein Gefühl der Unsicherheit, der Minderwertigkeit zugrunde, ja eine Furcht, hervorgerufen durch Schwäche. Aus diesem Grunde waren auch die Nazis in ihrem Kampf gegen die Juden so erfolgreich; denn viele deutsche „Arier“ fürchteten die Juden wegen ihrer Leistungen im Geschäftsleben, in der Wissenschaft und in der Kunst. Dasselbe mag auch von der Unduldsamkeit gesagt werden, die gegenwärtig in der ganzen Welt gewissen Rassen gegenüber an den Tag gelegt wird; auch sie ist gepaart mit Furcht vor Schaden. Doch in diesem Falle ist es nicht die Furcht vor den Leistungen dieser Rassen, sondern vor ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit.
Aber wahrscheinlich ist die Unduldsamkeit auf keinem Gebiet ein so ausgeprägtes Zeichen von Schwäche wie auf dem Gebiet der Religion. Religiöse Unduldsamkeit wurde von den Tagen Kains und Abels an bis auf den heutigen Tag geübt. Auch die Schriftgelehrten und Pharisäer, die religiösen Führer der Tage Jesu, waren hierfür ein Beispiel. Deshalb sagten sie auch: „Ihr sehet, daß ihr gar nichts ausrichtet; siehe, die Welt ist ihm nachgegangen.“ Aus Furcht, sie würden ihren Einfluß, ihr Ansehen und ihre materiellen Einkünfte verlieren, verschworen sie sich miteinander und gaben Anlaß zur abscheulichsten Tat der Unduldsamkeit, die je begangen wurde — zur Ermordung Christi Jesu. — Joh. 12:10, 11, 19.
Konstantin, der von manchen als der erste christliche Kaiser bezeichnet wird, übte Unduldsamkeit im Namen des Christentums. Obwohl sich zu seinem Konzil zu Nizäa nur der sechste Teil der Bischöfe der Christenheit einfand und diese sich selbst nach monatelangen Debatten nicht einig wurden, ob Arius oder Athanasius recht hatte, sprach sich Konstantin — damals noch ein ungetaufter Heide — zugunsten der Dreieinigkeit aus und erklärte alle religiösen Ansichten, die mit jenem Dogma nicht übereinstimmten, als ungesetzlich.
Dieselbe religiöse Unduldsamkeit finden wir heute noch. Im Orient greifen gewisse Leute zu den Waffen, wenn jemand es wagt, Schweinefleisch zu essen; andere tun es, wenn jemand es wagt, Rindfleisch zu genießen. In vielen Ländern innerhalb der Christenheit waren jahrelang Gesetze in Kraft, die allen Bürgern, die nicht der Staatskirche (in den meisten Fällen der römisch-katholischen Kirche) angehörten, das Recht versagten, ihren Gottesdienst öffentlich auszuüben. Warum diese Unduldsamkeit, wenn doch 90 bis 99 Prozent der Bevölkerung sich zur Staatskirche bekennen? Verrät dies nicht eine gewisse Furcht vor den Folgen, die sich ergeben könnten, wenn anderen gestattet würde, ihren Gottesdienst öffentlich auszuüben? Ist dies nicht ein Zeichen von Schwäche?
Ein auffallendes Beispiel für diese Unduldsamkeit war ein Vorfall, der sich vor kurzem in Peru zutrug. Jehovas Zeugen hatten dort ein großes Sportstadion gemietet, in dem vom 8. bis 11. Januar ihr Landeskongreß stattfinden sollte. Doch am ersten Vormittag erschienen im Stadion einige Polizisten mit einem amtlich beglaubigten Dokument, das den Zeugen das Recht, diesen Kongreß abzuhalten, verweigerte. Weshalb? Weil das Stadion nicht als ein „geschlossener Raum“ oder als „ein Tempel“ betrachtet werden könne, in dem eine nichtkatholische Religionsorganisation Versammlungen abhalten dürfe. Somit verlegten Jehovas Zeugen ihre Versammlung in ihre beiden Königreichssäle am Ort, und es erschienen am Sonntagnachmittag trotz dieses Eingriffs von gegnerischer Seite insgesamt 1350 Personen zu dem öffentlichen Vortrag „Gottes Königreich herrscht — ist das Ende der Welt nahe?“.
Unduldsamkeit braucht jedoch nicht immer unbedingt durch Gewalt zum Ausdruck zu kommen. Wir mögen gar nicht daran denken, rohe Gewalt anzuwenden, wie gewisse religiöse Fanatiker es manchmal tun, lassen uns aber, wenn wir nicht aufpassen, gefühlsmäßig erregen und aus der Fassung bringen, so daß wir schreien oder zu boshaften Schimpf- und Schmähworten Zuflucht nehmen, und das sind ebenfalls Äußerungen der Unduldsamkeit. Auch ist dies ein Zeichen von Schwäche; wir suchen auf diese Weise, ob bewußt oder unbewußt, durch ein herrisches Benehmen, einen Mangel an Beweisen, Logik oder biblischer Autorität wettzumachen.
Gottes Wort sagt Christen, wie sie ihren geistigen Kampf führen und welche Waffen sie gebrauchen sollten: „Die Waffen unserer Kriegführung sind nicht fleischlich, sondern durch Gott mächtig, um starke Verschanzungen niederzureißen. Denn wir stoßen Vernunftschlüsse um und jede Höhe, die sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und führen jeden Gedanken im Gehorsam gegenüber dem Christus gefangen.“ Die Hauptwaffe, die wir benutzen, um dieses Ergebnis zu erzielen, ist „das Schwert des Geistes, welches Gottes Wort ist“ und das „schärfer ist als irgendein zweischneidiges [stählernes] Schwert“. Dieses Schwert wird nicht im Zorn und nicht aus Haß oder in unbarmherziger Weise geschwungen, sondern „mit Milde und tiefen Respekt“. Die Wahrheit ist machtvoll, unbezwingbar. Alle, die die Wahrheit wirklich besitzen, können sie ohne weiteres auf diese Weise verkündigen, denn sie wissen, daß sie auf Gottes Seite stehen und daß er der Wahrheit den Sieg verleihen wird. — 2. Kor. 10:4, 5; Eph. 6:17; Heb. 4:12; 1. Pet. 3:15, NW.