Ein Brief aus Nicaragua
KURZ nach dem Erdbeben, das im Dezember Managua verheerte, traf folgender Brief von Bruder Witherspoon, dem dortigen Zweigaufseher der Watch Tower Society, ein. Viele Leser des Wachtturms sind sehr um das Wohl ihrer christlichen Brüder in Managua besorgt und werden sich für diesen Bericht der das Datum vom 26. Dezember trägt, interessieren. Er war an N. H. Knorr, Präsident der Watch Tower Society, gerichtet:
„Ich konnte dich heute morgen am Telefon deutlich verstehen. Ich danke dir, Bruder Knorr, für deine Liebe und für dein Interesse an uns, und wir danken Jehova, daß er in dieser kritischen Zeit solch eine liebevolle Organisation ins Leben gerufen hat. Wir haben nach dem Erdbeben rasch Hilfe erhalten.
Der erste und schwerste Erdbebenstoß traf Managua ungefähr um 0.40 Uhr, zu Beginn eines neuen Tages, des 23. Dezembers. Alle Missionare waren im Bett. Als es ruhig wurde, liefen wir schnell nach draußen, mitten auf die Straße. Zwei weitere Stöße folgten kurze Zeit danach. Überall um uns stürzten Häuser ein. Wir wurden aber nicht im geringsten verwundet. Die Stadt hüllte sich in eine dichte Staubwolke gleich einer Decke. Nachdem sie sich gelegt hatte, so daß ein Dreiviertelmond sichtbar wurde, boten sich uns die ersten Eindrücke von unserer Nachbarschaft. Wir waren uns damals nicht bewußt, daß ganz Managua ebenso verwüstet war.
Unsere Nachbarn waren wie gelähmt und schweigsam. Dann, nach einer kurzen Zeit, hörte man Verzweiflungsschreie, und ein Wehklagen brach aus. Einen halben Block entfernt wurden in einer colonia zwölf Menschen lebendig begraben. Die Rettungsarbeiten wurden erschwert, weil es an Werkzeug fehlte. In den umliegenden Blocks war es genauso: drei hier verschüttet, einer dort, zwanzig andere drei Blocks weiter. Der Tod umgab uns. Ein rotes Glühen über dem Stadtinnern zeigte uns, daß auch Feuer dem Erdbeben auf dem Fuße folgte. Als über einer zerstörten Stadt der kühle Tag anbrach, begannen wir die entsetzlichen Auswirkungen zu sehen.
Unsere Sorge galt unseren christlichen Brüdern, und sie sorgten sich auch um uns. Die Missionare, die Aufseher waren, brachen auf, um sich um die Brüder zu kümmern. Ich blieb im Zweigbüro und wartete auf Berichte, um festzustellen, was benötigt werden würde. Die sorgenvollen Augenblicke schienen Stunden zu werden, während langsam die Berichte eintrafen. Aber — fast unglaublich — auch nicht in einem Fall wurde berichtet, daß Brüder umgekommen waren. Indes hatten einige ihre Eltern oder Verwandten verloren, und eine Person, die auf unserem Bezirkskongreß diese Woche getauft werden sollte, hatte vier ihrer Kinder verloren.
In jedem Fall erging es den Brüdern gleich: Das Haus brach einfach über ihnen zusammen, und sie mußten sich, so gut es eben ging, herausarbeiten. Viele wurden verwundet und erlitten Quetschungen, aber bis jetzt ist noch von niemandem berichtet worden, daß er einen Knochenbruch hätte. Was bewegte den Sinn dieser Brüder am meisten?
Nun, nachdem sie sich zuerst nach uns und nach den anderen Brüdern erkundigt hatten, fragten sie voller Besorgnis, wie sich das Erdbeben auf den bevorstehenden Bezirkskongreß auswirken werde, da sie fürchteten er würde nicht stattfinden — was für sie das tragischste wäre, nämlich den Kongreß nicht zu erleben. Kein Gedanke an den Verlust ihrer Wohnung oder materiellen Besitztümer! Glaube mir, Bruder Knorr das hat einem die Kehle zugeschnürt!
Um 10 Uhr abends am Tage des Erdbebens, also weniger als zweiundzwanzig Stunden danach, traf die erste materielle Hilfe von den Brüdern aus Honduras ein. Das war am Samstagabend. Wir alle verbrachten die Nacht auf der Straße; ja jedermann in Managua tat das. Die Stöße hielten die ganze Nacht hindurch an, einige waren schwerer, einige leichter, doch sie waren nichts im Vergleich zu der Länge und Wucht des ersten am Samstagmorgen. Wir verbrachten eine sehr unruhige Nacht. Am Sonntagmorgen um 7 Uhr traf Bruder Shepp (Zweigaufseher) aus Costa Rica mit weiterer Unterstützung ein. Er wollte auch wissen, was wir benötigten, damit er unverzüglich zurückkehren und weitere Hilfsmaßnahmen einleiten könne. Nachdem wir die hauptsächlichen Bedürfnisse festgestellt hatten, begaben wir uns auf eine zweieinhalbstündige Rundfahrt durch die Stadt. Wir waren entsetzt über das was sich unseren Blicken bot. Managua ist zerstört! Meiner Meinung nach ist das Zweigbüro der Gesellschaft das am wenigsten beschädigte Gebäude der ganzen Stadt.
Noch vor Sonntagmittag kamen weitere Hilfsgüter aus El Salvador an. Die Brüder von dort wollten ebenfalls gern wissen, was wir benötigten, und so stellten wir eine Liste auf. Die Grenzübergänge wurden offengehalten, so daß Katastropheneinsatzwagen hereinkommen konnten. Man brauchte keine Visa, und daher konnten die Brüder rasch hin- und herreisen. Gestern, am Sonntagmorgen, ließen wir die Hilfsmaßnahmen im Königreichssaal des Zweigbüros anlaufen. Die Brüder wurden davon unterrichtet, und sie begannen zu kommen. Als der gestrige Tag zu Ende ging, hatten wir 578 Brüder mit genug Nahrungsmitteln für zwei Tage versorgen können. Auch konnten wir für dieselbe Zeit genug Wasser austeilen, das wir mit Lastwagen aus Gebieten außerhalb Managuas kommen ließen. Medikamente benötigen wir nicht. Wir haben genügend, oder wir können sie uns beschaffen.
Ungefähr 80 Prozent der Brüder haben ihre Wohnung verloren. Neun Königreichssäle sind fast oder völlig zerstört worden. Managua wird evakuiert. Man arbeitet daran, das ganze Gebiet des Stadtkerns — einen Streifen von fünfzehn Blocks Breite — dem Erdboden gleichzumachen. In diesem Teil werden immer noch viele Leichname entdeckt. Der üble Geruch ist sehr stark. Wegen der Ansteckungsgefahr werden alle aufgefordert, dieses Gebiet zu meiden. Das städtische Krankenhaus wurde so schwer beschädigt, daß die Patienten in die Anlagen im Freien gebracht wurden. So konnten die Opfer des Erdbebens nicht behandelt werden; viele davon mußten abgewiesen werden. Wie wir vernommen haben, werden jetzt zur Betreuung der Pflegebedürftigen außerhalb des Krankenhauses Zelte aufgestellt. Für ein solch gewaltiges Unternehmen zu sorgen stellt für die Regierung eine schwere Belastung dar.
Wir werden einfach abwarten müssen, um zu sehen, was zu tun am praktischsten ist. Doch die Brüder verhalten sich ruhig und warten auf Anweisungen, bevor sie handeln.
Wir haben etwas Geld vorrätig, aber das meiste ist auf der Bank, und die Banken sind nicht geöffnet. Es mögen noch Tage vergehen, bis sie wieder geöffnet werden. Sollten wir finanzielle Unterstützung benötigen, um unseren Brüdern zu helfen, und sollten wir sie hier nicht erhalten, wie es der Fall zu sein scheint, werde ich Bruder Allinger (Zweigaufseher) in Honduras und Bruder Shepp in Costa Rica benachrichtigen, damit sie von ihrem Geld einiges für uns kaufen, es uns senden und unserem Zweig in Rechnung stellen, bis wir unser Geld erhalten und/oder wir die Angelegenheit auf eine befriedigendere Weise regeln können. Oder falls wir das, was wir benötigen, hier kaufen können, dann könnten sie uns vielleicht nur das Geld senden. Da es aber noch zu früh ist, um zu wissen, wie sich die Dinge entwickeln, werden wir abwarten und alles tun, was wir unter den gegenwärtigen Umständen tun können.
Wir ermuntern alle, im Predigtwerk tätig zu sein, geistig stark zu bleiben und auf Jehova zu vertrauen. Was die materielle Hilfe betrifft, die die Brüder empfangen, nun, sie können kaum die Tränen zurückhalten. Sie schätzen die Liebe und Fürsorge der Brüder in anderen Teilen der Welt wirklich sehr.“