„Eine Zeit zum Reden“ — Wann?
MARIA arbeitet als medizinisch-technische Assistentin in einem Krankenhaus. Sie ist verpflichtet, was sie beruflich erfährt oder beobachtet, als Berufsgeheimnis zu wahren. Auch muß sie dafür sorgen, daß schriftliche Unterlagen und andere Informationen über Patienten nicht an unbefugte Personen weitergegeben werden. In dem Land, in dem sie wohnt, gibt es ein Gesetz, das die Weitergabe von vertraulichen Informationen über Patienten regelt.
Eines Tages saß Maria in einer Zwickmühle. Als sie Krankenberichte bearbeitete, stieß sie auf eine Information, die besagte, daß eine Patientin, eine Mitchristin, eine Abtreibung vornehmen ließ. Hatte sie die biblische Verpflichtung, diese Information an die Ältesten ihrer Versammlung weiterzugeben, obwohl sie dadurch in die Gefahr geriet, ihre Stelle zu verlieren, gerichtlich belangt zu werden oder ihrem Arbeitgeber rechtliche Schwierigkeiten zu bereiten? Oder würde Sprüche 11:13 es rechtfertigen, die Sache geheimzuhalten? Dieser Text lautet: „Wer als Verleumder umhergeht, deckt vertraulich Gesprochenes auf, wer aber treuen Geistes ist, deckt eine Sache zu.“ (Vergleiche Sprüche 25:9, 10.)
In einer solchen Lage sehen sich Zeugen Jehovas hin und wieder. Dann wird ihnen die Wahrhaftigkeit der Worte Salomos so recht bewußt: „Für alles gibt es eine bestimmte Zeit, ja eine Zeit für jede Angelegenheit unter den Himmeln: ... eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden“ (Prediger 3:1, 7). War das für Maria eine Zeit zum Schweigen, oder war es eine Zeit zum Reden über das, wovon sie Kenntnis erlangt hatte?a
Die Umstände können ganz verschieden sein. Es ist daher unmöglich, eine feste Regel aufzustellen, an die es sich in jedem Fall zu halten gilt, so als müßte jeder ein solches Problem in der Weise lösen, wie Maria es getan hat. Jeder Christ, der sich je in einer derartigen Situation befindet, muß alle damit zusammenhängenden Faktoren erwägen und eine Entscheidung treffen, bei der er biblische Grundsätze sowie eventuelle rechtliche Konsequenzen berücksichtigt und bei der er ein gutes Gewissen vor Jehova hat (1. Timotheus 1:5, 19). Handelt es sich um unbedeutende Sünden, um Sünden, die mit der menschlichen Unvollkommenheit zusammenhängen, dann gilt der Grundsatz: „Liebe deckt eine Menge von Sünden zu“ (1. Petrus 4:8). Sieht es jedoch so aus, als ob eine schwerwiegende Verfehlung vorliege, sollte dann ein loyaler Christ aus Liebe zu Gott und zu seinem Mitchristen die Verfehlung aufdecken, so daß dem eventuellen Sünder geholfen werden kann und die Versammlung rein bleibt?
Anwendung biblischer Grundsätze
Wie lauten einige der biblischen Grundsätze, die in einem solchen Fall Anwendung finden? Vor allem sollte jemand, der sich einer schwerwiegenden Verfehlung schuldig gemacht hat, nicht versuchen, diese zu verheimlichen. „Wer seine Übertretungen zudeckt, wird kein Gelingen haben, doch dem, der sie bekennt und läßt, wird Barmherzigkeit erwiesen werden“ (Sprüche 28:13). Jehova entgeht nichts. Für im Verborgenen begangene Übertretungen muß man sich schließlich verantworten (Sprüche 15:3; 1. Timotheus 5:24, 25). Gelegentlich macht Jehova ein Versammlungsglied auf eine geheimgehaltene Verfehlung aufmerksam, damit die Sache bereinigt werden kann (Josua 7:1-26).
Ein weiterer biblischer Grundsatz steht in 3. Mose 5:1: „Falls nun eine Seele sündigt, indem sie eine öffentliche Verfluchung gehört hat, und der Betreffende ist Zeuge, oder er hat es gesehen oder hat es erfahren, dann soll er sich, wenn er es nicht berichtet, für sein Vergehen verantworten.“ Bei dieser „öffentlichen Verfluchung“ handelte es sich nicht um Gottlosigkeit oder Gotteslästerung. Vielmehr kam so etwas vor, wenn jemandem ein Unrecht zugefügt worden war und dieser forderte, daß irgendwelche potentielle Zeugen ihm helfen sollten, zu seinem Recht zu kommen; dabei rief er auf den, der ihm das Unrecht getan hatte und der ihm vielleicht noch unbekannt war, einen Fluch herab — vermutlich von Jehova. Auf diese Weise stellte man andere unter Eid. Irgendwelche Zeugen des Unrechts hätten dann gewußt, wer das Unrecht erlitten hatte, und somit die Pflicht gehabt, sich zu melden, damit die Schuld nachgewiesen werden konnte. Hätten sie das nicht getan, so hätten sie sich vor Jehova ‘für ihr Vergehen verantworten’ müssen.b
Dieses Gebot der höchsten Instanz im Universum verpflichtete jeden Israeliten, irgendeine schwerwiegende Verfehlung, die er beobachtet hatte, den Richtern zu melden, so daß die Sache behandelt werden konnte. Christen sind zwar nicht verpflichtet, das mosaische Gesetz zu halten, doch seine Grundsätze finden in der Christenversammlung immer noch Anwendung. Es gibt daher Fälle, in denen ein Christ verpflichtet ist, die Ältesten von einer Sache zu unterrichten. Allerdings ist es in manchen Ländern verboten, Unbefugten mitzuteilen, was in privaten Unterlagen steht. Aber wenn ein Christ nach gebetsvoller Überlegung zu dem Schluß kommt, es handle sich um einen Fall, den er nach dem Gesetz Gottes melden müsse, auch wenn die weltliche Obrigkeit Schweigepflicht fordere, dann ist das eine Verantwortung, die er vor Jehova trägt. Es gibt Situationen, in denen ein Christ „Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen [muß] als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5:29).
Einen Eid oder ein feierliches Versprechen sollte man nie leichtnehmen, aber manchmal mag ein von Menschen gefordertes Versprechen im Widerspruch zu der Forderung stehen, Gott ausschließlich ergeben zu sein. Wer eine schwere Sünde begeht, kommt sozusagen unter eine „öffentliche Verfluchung“ durch den, dem Unrecht geschehen ist, Jehova Gott (5. Mose 27:26; Sprüche 3:33). Alle, die ein Glied der Christenversammlung werden, stellen sich unter „Eid“, die Versammlung rein zu erhalten, sei es durch ihr eigenes Verhalten, sei es, daß sie anderen helfen, rein zu bleiben.
Persönliche Verantwortung
Das sind einige der biblischen Grundsätze, die Maria höchstwahrscheinlich erwog, als sie ihre Entscheidung traf. Die Klugheit gebot, nicht voreilig zu handeln, nicht ohne die Sache sorgfältig zu erwägen. Die Bibel gibt den Rat: „Werde nicht ohne Gründe Zeuge gegen deinen Mitmenschen. Dann würdest du töricht reden mit deinen Lippen“ (Sprüche 24:28). Um eine Sache endgültig zu entscheiden, sind die Aussagen von mindestens zwei Zeugen erforderlich (5. Mose 19:15). Hätte Maria nur eine beiläufige kurze Erwähnung von Abtreibung gefunden, hätte sie vielleicht mit gutem Gewissen entschieden, daß die Beweise einer Schuld nicht schlüssig genug seien, um die Sache weiterzuverfolgen. Es konnte sich ein Fehler in die Rechnung eingeschlichen haben, oder die Unterlagen mochten in anderer Weise die Situation nicht richtig widerspiegeln.
In diesem Fall besaß Maria aber noch andere bedeutsame Informationen. Sie wußte zum Beispiel, daß die Schwester die Rechnung bezahlt und damit bestätigt hatte, daß sie die darauf vermerkten Dienste empfangen hatte. Auch wußte Maria, daß die Schwester unverheiratet war, was bedeutete, daß allem Anschein nach sogar Hurerei vorlag. Maria hatte den Wunsch, jemandem, der einen Fehler gemacht haben mochte, liebevoll zu helfen und auch die Organisation Jehovas rein zu erhalten, denn sie dachte an Sprüche 14:25: „Ein wahrhaftiger Zeuge befreit Seelen, ein trügerischer aber bringt nur Lügen vor.“
Maria fürchtete erst ein bißchen die rechtlichen Konsequenzen, doch dann kam sie zu der Überzeugung, daß in diesem Fall die biblischen Grundsätze mehr Gewicht hatten als die Forderung, die ärztlichen Unterlagen vertraulich zu behandeln. Sie sagte sich, daß die Schwester ihr sicherlich nicht grollen und nicht versuchen würde, sich zu rächen, indem sie sie anzeigen würde. Nachdem Maria alle ihr zur Verfügung stehenden Tatsachen erwogen hatte, beschloß sie mit gutem Gewissen, daß das eine Zeit zum „Reden“ und nicht zum „Schweigen“ sei.
Nun stellte sich Maria weitere Fragen: Zu wem soll ich gehen? und: Wie kann ich es möglichst diskret tun? Sie konnte sich an die Ältesten wenden, aber sie beschloß, zuerst mit der Schwester allein zu reden. Das war ein liebevolles Vorgehen. Maria dachte, daß die Schwester, die sie verdächtigte, vielleicht froh wäre, wenn die Sache geklärt würde, oder sie würde, falls sie schuldig wäre, den Verdacht bestätigen. Wenn sie bereits mit den Ältesten darüber gesprochen hätte, würde sie es wahrscheinlich sagen und sie, Maria, könnte die Sache auf sich beruhen lassen. Maria nahm sich vor, die Schwester, falls diese abgetrieben und diese schwerwiegende Übertretung des Gesetzes Gottes nicht bekannt hätte, zu ermuntern, ihre Sünde zu bekennen. Dann könnten ihr die Ältesten in Übereinstimmung mit Jakobus 5:13-20 helfen. Erfreulicherweise entwickelte sich die Sache auch so. Maria stellte fest, daß die Schwester bedrängt worden war abzutreiben und daß sie geistig schwach war. Scham und Angst hatten sie veranlaßt, ihre Sünde geheimzuhalten, aber sie war froh, daß die Ältesten ihr halfen, geistig zu gesunden.
Hätte Maria es zuerst den Ältesten gesagt, dann hätten diese vor einer ähnlichen Entscheidung gestanden. Wie hätten sie vertrauliche Informationen behandeln sollen? Sie hätten, gestützt auf das, was nach ihrer Auffassung Jehova und sein Wort von ihnen als Hirten der Herde verlangten, eine Entscheidung treffen müssen. Wenn der Bericht einen getauften, aktiv mit der Versammlung verbundenen Christen betroffen hätte, hätten sie wie Maria erwägen müssen, ob das, was sie wußten, es rechtfertigen würde, der Sache nachzugehen. Hätten sie den begründeten Verdacht, daß in der Versammlung „Sauerteig“ vorhanden sei, hätten sie vielleicht ein Rechtskomitee gebildet, das sich des Falles angenommen hätte (Galater 5:9, 10). Wenn sich der Verdächtigte von der Versammlung zurückgezogen, d. h. schon seit einiger Zeit die Zusammenkünfte nicht mehr besucht und sich nicht mehr als Zeuge Jehovas zu erkennen gegeben hätte, hätten sie die Sache auf sich beruhen lassen können, bis er sich wieder als Zeuge Jehovas ausgeben würde.
Vorsorgliche Maßnahmen
Arbeitgeber können mit Recht erwarten, daß ihre christlichen Arbeitnehmer „volle, gute Treue an den Tag legen“, auch was die Schweigepflicht betrifft (Titus 2:9, 10). Wenn man einen Eid ablegen muß, sollte das nicht leichtgenommen werden. Durch einen Eid wird ein Versprechen noch feierlicher und bindender (Psalm 24:4). Und wenn das Berufsgeheimnis zudem gesetzlich geregelt ist, wird die Sache noch ernster. Bevor ein Christ also aus beruflichen oder anderen Gründen einen Eid ablegt oder sich zu Verschwiegenheit verpflichtet, wäre es weise, zu ermitteln, welche Probleme das mit sich bringen könnte, falls ein Konflikt zwischen der Schweigepflicht und den biblischen Verpflichtungen entstünde. Wie sollte man vorgehen, wenn der Patient oder Klient ein Bruder oder eine Schwester ist? Gewöhnlich mag sich ein solches Problem ergeben, wenn man bei einem Arzt, in einem Krankenhaus, an einem Gericht oder bei einem Rechtsanwalt arbeitet. Wir dürfen das Gesetz des Staates nicht außer acht lassen und dürfen auch nicht ignorieren, wie schwerwiegend ein Eid ist, aber Gottes Gesetz ist höchstrangig.
Um dem Problem vorzubauen, haben Brüder, die Rechtsanwälte, Ärzte oder Wirtschaftsprüfer usw. sind, schriftliche Richtlinien festgelegt und die Brüder, die zu einer Konsultation zu ihnen gekommen sind, gebeten, diese durchzulesen, ehe sie ihnen ein Geheimnis anvertrauten. So wird im voraus klargelegt, daß der Bruder oder die Schwester, wenn es sich zeigen sollte, daß eine schwerwiegende Verfehlung vorliegt, ermuntert werden wird, zu den Ältesten der Versammlung zu gehen. Auch wird in den Richtlinien zu verstehen gegeben, daß der Beratende sich verpflichtet fühlen würde, selbst zu den Ältesten zu gehen, falls er oder sie nicht gehen würde.
Manchmal wird ein treuer Diener Gottes aus Überzeugung, gestützt auf seine Kenntnisse des Wortes Gottes, die Schweigepflicht wegen der höherrangigen Forderungen des göttlichen Gesetzes teilweise oder ganz brechen. Das erfordert Mut und Urteilskraft. Das Ziel würde nicht darin bestehen, die Privatsphäre eines anderen auszuspionieren, sondern dem Irrenden zu helfen und die Christenversammlung rein zu erhalten. Über geringe Verfehlungen, die eine Folge der Sündhaftigkeit sind, sollte man hinwegsehen. In einem solchen Fall finden die Worte Anwendung: „Liebe deckt eine Menge von Sünden zu“ und daß man dem andern „bis zu siebenundsiebzigmal“ vergeben sollte (Matthäus 18:21, 22). Es ist „eine Zeit zum Schweigen“. Wird jedoch der Versuch gemacht, schwerwiegende Sünden zu verheimlichen, dann kann es „eine Zeit zum Reden“ sein.
[Fußnoten]
a Maria ist eine erdachte Person. Sie ist in einer Lage, in der sich schon etliche Christen befunden haben. Wie sie das Problem angeht, ist ein Beispiel dafür, wie einige Christen in einer solchen Lage biblische Grundsätze angewandt haben.
b In dem Werk Biblischer Commentar über das Alte Testament, herausgegeben von Carl Friedr. Keil und Franz Delitzsch (1870), heißt es, die Vergehung oder Sünde würde darin bestehen, „daß jemand der um das Verbrechen eines andern wußte, sei es daß er dasselbe gesehen oder auf andere Weise in gewisse Erfahrung gebracht hatte, mithin vor Gericht als Zeuge zur Ueberführung des Verbrechers aufzutreten befähigt war, dies nicht tat und was er gesehen oder erfahren hatte nicht anzeigte, wenn er bei der öffentlichen Verhandlung über das Verbrechen die feierliche Adjuration des Richters hörte, durch welche alle Anwesenden, die um die Sache wußten, veranlaßt werden solten, als Zeugen aufzutreten“.
[Bild auf Seite 15]
Man handelt richtig und auch liebevoll, wenn man einen Zeugen Jehovas, der in die Irre gegangen ist, ermuntert, mit den Ältesten zu sprechen, im Vertrauen darauf, daß sie beim Lösen des Problems Güte und Verständnis bekunden werden