Der Waldkauz beim Hadrianswall
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN GROSSBRITANNIEN
FEINER Nebel hing über den Baumwipfeln, als eine herrliche Melodie, die immer lauter wurde, die Stille der Morgendämmerung unterbrach. Das Gezwitscher der seßhaften Amseln und Drosseln wurde durch die Lieder der Sommervögel bereichert, die gerade erst im Norden Englands angekommen waren.
Ich lief einen vom Torf braun gefärbten Bach entlang, der sich, an vielen Stellen von Schlüsselblumen und Waldveilchen gesäumt, zu dem angestammten Zuhause eines Waldkauzes beim Hadrianswalla schlängelte. Ich wußte, gut einen Kilometer bachaufwärts würde sich Mutter Kauz in der Nähe des Stammes einer alten Ulme aufhalten und über ihre vier jungen Küken wachen. Die Jungen würden in der behaglichen Baumstumpfhöhle einer abgestorbenen Esche geborgen sein.
Eulen sind wahre Wunder der Schöpfung. Ihre Sehkraft ist in der Nacht hundertmal stärker als die des Menschen. Selbst im fahlen Mondlicht können Eulen ihre Beute fangen. Im menschlichen Auge befinden sich Zapfen, Sinneszellen, die Farben wahrnehmen, und Stäbchen, Sinneszellen, die das Licht sammeln. Sie enthalten einen Farbstoff, den Sehpurpur, und die Augen der Eulen sind überreichlich mit diesen Stäbchen versehen. Dadurch wird selbst der schwächste Lichtschimmer in ein chemisches Signal umgewandelt, das dem Vogel eine Bildwahrnehmung vermittelt, wohingegen das menschliche Auge nur wahrnimmt, daß Licht vorhanden ist.
Anders als bei den meisten Tieren, liegt das Eulenauge starr in seiner Höhle. Wie beim Autoscheinwerfer sitzt jedes Auge fest an seinem Platz. Zum Ausgleich kann die Eule dank eines erstaunlich flexiblen Halses den Kopf um mindestens 270 Grad drehen und so in jede Richtung sehen.
Man sagt, daß eine Eule, die auf einem 15 Meter hohen Baum sitzt, nicht nur in der Lage ist, eine Maus zu sehen, sondern auch ihr Rascheln im Gras zu hören. Das ganz erstaunliche Hörvermögen ist auf die Beschaffenheit der Ohren zurückzuführen. Sieht man sich das Gesicht einer Eule an, erkennt man, daß es von steifen, geschwungenen Federn umgeben ist, die die Schallwellen aufnehmen und an die Ohren weiterleiten, wobei der Schall auf das größte Trommelfell trifft, das es in der Vogelwelt gibt. Die Ohren sind asymmetrisch angeordnet, so daß die Eule den Ursprung eines Geräusches genau bestimmen kann.
Hat eine Eule ihre Beute erst einmal geortet — ob über das Auge oder über das Ohr —, stößt sie lautlos auf sie herab. Eulen sind mit derart weichen Federn bedeckt, daß der Schall stark gedämpft wird. Auch haben die Schwungfedern flaumige Ränder, so daß beim Flug kein Surren entsteht. Die Leute auf dem Lande bekommen manchmal einen Schreck, wenn in finsterer Nacht an der Straße die leuchtenden Umrisse einer Eule im Tiefflug auftauchen. Sie wissen nicht, daß Eulen leuchten können, wenn ihr Gefieder mit lumineszierenden Pilzen, die am vermodernden Holz des Horstplatzes wachsen, in Berührung gekommen ist.
Ich ging weiter bachaufwärts und gelangte schon bald zu dem knorrigen alten Baumstumpf. Die Wärme des Morgens hatte eines der Jungen dazu gebracht, sich am Höhleneingang von den schräg durch das Blätterdach einfallenden Sonnenstrahlen bescheinen zu lassen. Da saß es nun und blinzelte im diffusen Sonnenlicht — ein reizendes Bild.
Irgendwo in den Ästen darüber versteckt, thronte die alte Mutter Kauz nebst ihrem Gatten und hatte aus halb geschlossenen Augen alles genau im Visier. Ich wußte, daß sie über ihre Jungen wachen würde, bis diese für sich selbst sorgen könnten — dank der instinktiven Weisheit, die ihnen ihr großer Schöpfer verliehen hat.
[Fußnote]
a Im Auftrag Kaiser Hadrians wurde der Hadrianswall zwischen 120 und 130 u. Z. als Schutz der Nordgrenze Englands gegen die nicht unterworfenen kaledonischen Stämme errichtet. Er ist etwas mehr als 117 Kilometer lang und verläuft von Solway Firth im Westen Englands bis zur Tynemündung an der Ostküste.
[Bildnachweis auf Seite 15]
Mit frdl. Gen.: English Heritage