Babylons Sturz — ein Wendepunkt in der Geschichte
DU MAGST dich schon gefragt haben, warum die Bibel soviel über den Sturz Babylons, besonders über seine Niederwerfung durch Kores im Jahre 539 v. Chr. berichtet. Die Stadt selbst wurde damals nicht zerstört, sondern blieb noch Jahrhunderte bestehen. Auch Freunde der Geschichte haben sich gefragt, warum die Geschichtsschreiber gerade über diese Eroberung Babylons soviel berichten. Folgender Auszug aus einem Geschichtsbericht gibt uns die Antwort:
Militärische Niederlagen beeinträchtigten das Schicksal Babylons und führten zu vielen kritischen Etappen seiner Geschichte. Es ist daher um so auffallender, daß seine Kapitulation vor Kores im Jahre 539 v. Chr. als „der Sturz Babylons“ bezeichnet werden sollte, als ob es in der Geschichte dieser Stadt ein Ereignis ohnegleichen gewesen wäre. Selbst seine Unterwerfung durch Alexander [den Großen] im Jahre 331 v. Chr. verblaßt an Wichtigkeit, wenn diesem Ereignis die Katastrophe gegenübergestellt wird, die das neubabylonische Reich zu Ende brachte.
Dieses Phänomen selbst gibt dem Nachforschenden eine vernünftige Erklärung. Die Einnahme Babylons durch Kores hatte weitreichende Folgen. Seine Niederwerfung durch Sanherib und Assurbanipal bedeutete nicht die Beseitigung semitischer Gewalt über das Gleichgewicht der Kräfte. Erst der Sieg Persiens im Jahre 539 v. Chr. brachte neue beherrschende Impulse in die Entwicklung der alten östlichen Welt. Dieses Datum kennzeichnet einen Umschwung zugunsten der arischen Vorherrschaft, einer steuernden Kraft, die sich bis in unsere Tage hinein in den ersten Reihen der Zivilisation gehalten hat. — Nabonidus and Belshazzar (Seite 167) von R. P. Dougherty.
Auf Seite 441b des zweiten Bandes der Encyclopedia Americana lesen wir: „Der Sturz Babylons unter dem vorrückenden Kores bedeutete den Sturz semitischer Herrschaft in Babylon und den Aufstieg arischer Macht.“ — Ausgabe 1929.a
Da der Sturz Babylons ein solch wichtiges Ereignis ist und ein solch hervorragendes biblisches Thema darstellt, ist es gut, zu wissen, was in jener unheilvollen Nacht in Babylon geschah. Das wird uns erkennen lassen, von welch großer Bedeutung der biblische Bericht ist, und uns helfen, darin ein prophetisches Bild von etwas Größerem zu sehen, was in unserer Zeit in Verbindung mit Babylon der Großen geschehen wird und was wir in späteren Wachtturm-Ausgaben noch behandeln werden.
Es ist interessant, festzustellen, mit welcher Leichtigkeit es Kores, dem Perser, gelang, diese große Stadt in der denkwürdigen Nacht des 16. Tischri des Jahres 539 v. Chr. einzunehmen. Die Propheten Jehovas hatten vorhergesagt, daß es so geschehen werde, und Jehova sorgte dafür, daß sich seine Prophezeiungen erfüllten. Warum waren die Bewohner Babylons so sorglos und unvorsichtig, wenn sie doch wußten, daß die Truppen des Kores vor der Stadt lagen? „Babylon ist gut befestigt und hat genügend Vorräte“, mögen sie sich gesagt haben, „Kores soll ruhig kommen und es einzunehmen versuchen!“ Ihr Heer war zwar unter König Nabonid in einer Schlacht auf offenem Feld geschlagen und der König zum Rückzug nach Borsippa — das nicht weit entfernt, südwestlich von Babylon lag — gezwungen worden. Hinter den Mauern ihrer Stadt fühlten sich die Babylonier jedoch sicher und glaubten jeden Belagerer verhöhnen zu können. Sie dachten, jedes Heer, das Babylon belagern würde, müßte die Belagerung wegen Erschöpfung mit der Zeit aufgeben (und das hätte auch gut möglich sein können, wenn Kores nicht so leicht in die Stadt hineingekommen wäre). Im übrigen wurde in dieser Nacht in Babylon ein besonderes Fest gefeiert, und wahrscheinlich benutzte Belsazar diese Gelegenheit, um seinen tausend Gewaltigen zu zeigen, daß er für Kores, den Belagerer, nur Verachtung übrig hatte.
Auch die übrige Bevölkerung Babylons lebte in dieser Nacht in Saus und Braus und erfüllte im Taumel religiöser Ekstase und Trunkenheit die Stadt mit wildem Geschrei. Doch was ging außerhalb der Mauern vor sich? Etwas ganz Unerwartetes. Kores hatte einen großen Teil seiner Truppen oberhalb Babylons stationiert. Von hier aus hatte er sie einen Kanal oder mehrere Kanäle graben lassen, durch die er das Wasser des Euphrat ableitete, bevor es die Stadt erreichte. In der Stille der Nacht sammelten sich außerhalb der Mauern Babylons die Truppen der Meder und Perser in Kores’ Abwesenheit an der Stelle, wo der Euphrat die Stadt erreichte (in der Nähe des Ischtar-Tores), und an der Stelle, wo er aus der Stadt hinausfloß. Sie beobachteten gespannt, wie das Wasser zurückging. Sie mögen natürlich befürchtet haben, daß jemand das Sinken des Wasserspiegels beobachten und Alarm schlagen könnte. Bis dahin hörte man aber keinen Ton. Offenbar feierten auch die babylonischen Wächter Orgien. Die Nacht rückte aber vor, und die Angreifer konnten nicht warten, bis das Flußbett völlig ausgetrocknet war. So schnell und so lautlos wie möglich strömten sie in das Flußbett und wateten durch mehr als knietiefes Wasser dem nächsten Tor zu. Wären die babylonischen Wächter auf ihren Posten gewesen, so hätten sie die medo-persischen Eindringlinge ohne weiteres abriegeln und sie von der Stadtmauer herab mit ihren Pfeilen hinstrecken können, bevor sie hätten entkommen können. Die unglücklichen Babylonier bemerkten aber nicht, was draußen vor sich ging. Alles, was die Angreifer hörten, war der Lärm der Festlichkeiten.
Jemand, der in diesem Augenblick in die zwischen den sich auftürmenden Mauern der Stadt herrschende Dunkelheit gespäht hätte, hätte gesehen, wie sich schattenhafte Gestalten näherten, wie es ihrer immer mehr wurden, da zu ihrer Verstärkung Hunderte von Soldaten das Flußbett hinaufkamen. Wie die Eindringlinge es gehofft hatten, waren die Tore sorglos offengelassen worden. Die Babylonier hatten wohl gedacht, der Fluß schütze sie noch besser als die Tore. Die Torwachen wurden überwältigt, aber die Läufer der Babylonier eilten von beiden Stadtenden mit der Unheilsbotschaft zum Palast des Königs. Kores hatte seinen Soldaten befohlen, einen jeden, der ihnen den Weg zum Palast versperre, niederzumachen. „Wenn euch ein Betrunkener zuruft, ruft zurück, als ob ihr mitschwelgende Babylonier wäret. Verliert keine Zeit damit, die in die Häuser Flüchtenden herauszuholen. Eilt so schnell wie möglich in den Palast Belsazars!“ Während die Meder und Perser durch die Straßen stürmten, hagelte es keine babylonischen Pfeile von den Hausdächern herab. Die Situation schien in jeder Beziehung für die Angreifer günstig zu sein.
Nun kamen die ersten Läufer im Palast Belsazars an. Außer Atem berichtete einer, die Angreifer seien an dem Ende der Stadt, von dem er herkomme, eingedrungen. Dicht auf seinen Fersen traf ein anderer ein, der meldete, die Stadt sei vom anderen Ende aus eingenommen worden. Belsazar war vor Schreck wie gelähmt. Was sollte er tun? Selbstmord begehen? In diesem Augenblick war vom Tore des Palastes her ein Getöse zu hören. Wir überlassen es einem Geschichtsschreiber, die Ursache dieses Lärms und seine Folgen zu schildern:
Die dem Gobryas [Ugbaru, dem Statthalter von Gutium] und Gadatas zugetheilte Mannschaft fand die Thore des Palastes verschlossen; die gegen die Wache bestimmte Abtheilung aber fiel über dieselbe her, wie sie eben bei heller Beleuchtung tranken, und zeigte ihnen sogleich den Feind. Bei dem Geschrei und Getöse, das entstand, ... und auf den Befehl des Königs, nachzusehen, was an der Sache sei, öffneten sich die Thore und einige rannten heraus. Kaum aber sahen die Leute des Gadatas die Thore sich aufthun, so stürzten sie hinein, folgten den Zurückfliehenden im Rücken und machten sich unter Säbelhieben Bahn bis zum Könige. Sie trafen ihn, bereits aufgestanden, und den Dolch, den er trug, gezückt in der Hand. Die Uebermacht unter Gadatas und Gobryas [Ugbaru] erdrückte ihn. Auch die um ihn waren, fielen, der eine sich irgend wie zu decken suchend, der andere auf der Flucht, wieder ein anderer sich so gut er konnte zur Wehre setzend.b
Die Bibel berichtet über das Schicksal Belsazars kurz und bündig: „In derselben Nacht wurde Belsazar, der König der Chaldäer, getötet. Und Darius, der Meder, bekam das Königreich, als er ungefähr zweiundsechzig Jahre alt war.“ — Dan. 5:30; 6:1.
Was sich in jener denkwürdigen Nacht alles ereignete, beschreibt Xenophon in seiner Cyropädie (geschrieben um das Jahr 370 v. Chr.) wie folgt:
Cyrus [Kores] aber schickte Reitertrupps in die Straßen aus, mit dem Befehl, wen sie außen treffen würden, niederzuhauen, und zugleich durch die, welche Syrisch verständen, bekannt machen zu lassen, wer in den Häusern sei, solle drinnen bleiben; wer sich außerhalb treffen lasse, werde niedergemacht werden. Während dieß geschah, kamen Gadatas und Gobryas. Sie warfen sich nieder, um zuerst den Göttern zu danken, daß sie sich an dem ruchlosen Könige haben rächen können, und dann frohen Herzens und unter einem Strome von Freudenthränen dem Cyrus Hände und Füße zu küssen.
Als der Tag anbrach und die Besatzungen der Burgen erfuhren, daß die Stadt erobert und der König gefallen sei, so übergaben sie die Burgen gleichfalls. Cyrus nahm von denselben in Besitz und schickte Besatzungsmannschaft unter ihren Befehlshabern dahin ab. Die Todten zu bestatten überließ er ihren Angehörigen. Den Herolden gab er den Befehl, auszurufen, daß alle Babylonier ihre Waffen abzuliefern haben; so solche in einem Hause gefunden würden, hätten alle Bewohner desselben den Tod zu erwarten. Die Ablieferung erfolgte, und Cyrus ließ die Waffen in den Burgen aufbewahren, als Vorrath für den Fall des Bedarfs. — Siebentes Buch, Fünftes Kapitel, Abschnitte 31—34, übersetzt von Christian Heinrich Dörner, 1865.
Nach der Einnahme Babylons zog Kores gegen Borsippa, wo Nabonid, der erste Herrscher Babylons, Zuflucht genommen hatte, denn Nabonid hätte genügend Streitkräfte sammeln und dann ein gefährlicher Gegner werden können. Nabonid setzte sich aber nicht zur Wehr, sondern kam heraus und ergab sich Kores. Kores belohnte ihn mit Barmherzigkeit. Er ließ ihn am Leben, verbannte ihn aber, wie berichtet wird, nach Karmanien und machte ihn zum Statthalter dieser wichtigen Provinz. Nabonid, der an Geschichte und Altertumsforschung interessiert war, hinterließ viele Inschriften, unter anderem auch die sogenannte Nabonid-Chronik. (The Encyclopedia Americana, Ausgabe 1929, Band 19, Seite 677)c So endete das Babylonische Weltreich.
Obwohl Babylon am 16. Tischri (5./6. Oktober) 539 v. Chr. fiel, betrat Kores die Stadt erst am Dritten des Monats Mar-Cheschwan (22./23. Oktober), siebzehn Tage nachdem sie von seinen Truppen besetzt worden war. Die Babylonier bereiteten ihm einen wohlwollenden Empfang. Er proklamierte daraufhin den Frieden für die ganze Stadt und verfuhr mit der Bevölkerung sehr nachsichtig. Acht Tage später starb sein erster General, Ugbaru (Gobryas), und darauf folgte eine Zeit der Trauer. König Kores hatte bei seinem Einzug einen Obersten namens Gubaru bei sich. Dieser Gubaru ernannte in Babylon Statthalter.d
Wer war aber der in Daniel 6:1 erwähnte Darius, der Meder? Es bestehen immer noch einige Schwierigkeiten, diesen Mann in den nichtinspirierten, heidnischen Urkunden nachzuweisen. Es mag sein, daß noch weitere Dokumente entdeckt werden, die diese Frage klären. Man nimmt jedoch stark an, daß es sich dabei um Gubaru, den Obersten des Kores, handelte.e
Jehova teilte das Königreich Babylon und gab es den Medern und Persern, wie er es durch die Handschrift an der Wand des königlichen Palastes Belsazars angekündigt hatte, denn Darius, der Meder, regierte zuerst. Gottes unfehlbares Wort spricht von ihm als König und berichtet, es habe diesem gefallen, „hundertundzwanzig Satrapen zu bestellen, die im ganzen Königreich sein sollten“. (Dan. 6:2, 3) Daniel spricht (9:1) von dem „ersten Jahre Darius’, des Sohnes Ahasveros’, aus dem Samen der Meder, welcher über das Reich der Chaldäer König geworden war“. Seine Herrschaft war von kurzer Dauer. Kores, der Perser, legte sich den Titel König von Babylon, „König der Länder“, zu. Babylons Thron war somit geteilt und zuerst den Medern und dann den Persern gegeben worden. Eine Zeitlang regierte Kores von Babylon aus, das er gestürzt, aber nicht zerstört hatte.
Der Sturz Babylons bedeutete somit das Ende der dritten Weltmacht in der biblischen Geschichte. Die vierte Weltmacht, Medo-Persien, trat auf den Plan. Medo-Persien war die Weltmacht, die in zwei Visionen Daniels, des Propheten, der unter Belsazars Herrschaft lebte, Babylon ablöste. — Siehe Daniel 7:5 und 8:3, 4, 20.
Der Sturz Babylons war für die wahre Anbetung und für Gottes auserwähltes Volk von größter Bedeutung, denn die Juden wurden von Kores freigelassen, damit sie nach Jerusalem zurückkehren und den Tempel wieder aufbauen konnten. Mit dem Sturz Babylons ist aber noch eine weitere, größere Bedeutung verbunden. Er schattete den Sturz Groß-Babylons vor, das durch die falsche Religion viele Menschen gefangenhält und Bedrückung und Elend über sie gebracht hat. Es ist gut, Näheres über den Sturz des alten Babylon und die damit verbundenen Prophezeiungen zu wissen, denn das wird uns helfen, für immer aus Babylon der Großen hinauszugehen und am Leben zu bleiben.
[Fußnoten]
a In dem Buch On the Road to Civilization (1937) von Heckel und Sigman lesen wir auf Seite 65: „Die Öffnung des Ischtar-Tores vor Kores brachte das Ende semitischer Vorherrschaft und den Beginn des Persischen Reiches als Macht des Ostens.“
Das Buch The Dawn of Civilization (1940) von Engberg sagt auf Seite 236: „Noch mehr, Kores war der erste große arische Eroberer, den wir kennen, und die Semiten verloren durch seine Feldzüge die lange Herrschaft als Herren des westasiatischen Raumes, bis mehr als tausend Jahre später die Araber auftraten.“
b Zitiert aus der Cyropädie (der Lebensbeschreibung des Kores) des griechischen Historikers und Generals Xenophon (VII, 5:27-30; übersetzt von Christian Heinrich Dörner, 1865). Man nimmt an, daß es sich bei dem von Xenophon genannten Gobryas um Ugbaru, den Statthalter von Gutium handelt, von dem die Nabonid-Chronik erwähnt, er habe Babylon für Kores, den Perser, eingenommen. Er ist nicht jener Gubaru, der in Babylon Statthalterernennungen für Kores vornahm. — Siehe Darius the Mede (Seite 75, Fußnote) von J. C. Whitcomb jun.
Weiteres über Gobryas (Ugbaru) siehe auch Nabonidus and Belshazzar von R. P. Dougherty, Seiten 170—173, 175, 180, 184, 185, 187, 188, 192, 195, 196, 198, 199.
c Siehe auch die Werke des Berosus, eines Belspriesters aus der Zeit um 250 v. Chr. Unter Zuhilfenahme von Quellen, die in Keilschrift verfaßt waren, schrieb er (in griechisch) über sein Volk. Seine Werke sind verlorengegangen. Der jüdische Historiker Josephus aber und der Historiker Eusebius Pamphili geben Bruchstücke aus Berosus’ Werken wieder. Siehe Über das hohe Alter des jüdischen Volkes, gegen Apion von Josephus, Erstes Buch, Abschnitt 20. The International Standard Bible Encyclopædia, Band 1, Seite 368a, sagt, Nabonid sei eingesperrt gewesen.
d Siehe Babylonian Problems (Seite 201) von W. H. Lane, Ausgabe 1923.
e Siehe Darius the Mede, Kapitel 7, von John C. Whitcomb jun., veröffentlicht in den Vereinigten Staaten von Amerika 1959.