Von welcher Art ist deine Tugendhaftigkeit?
DIE Perle der Tugend hat heute im allgemeinen nur noch geringen Wert. Vergnügungssucht und eigennütziges Streben haben die Tugendhaftigkeit im Leben der meisten Menschen in den Hintergrund gedrängt. Die Bibel zeigt jedoch, daß Tugendhaftigkeit eine der grundlegenden Forderungen des Christentums ist. Sie gebietet Christen, ‘zu ihrem Glauben Tugend und zu ihrer Tugend Erkenntnis beizutragen’, und gibt ihnen den Rat: „Was irgend wahr, ... was irgend keusch, ... wenn es irgendeine Tugend gibt, diese Dinge betrachtet weiterhin.“ — 2. Petr. 1:5; Phil. 4:8.
Tugend wird als „sittliches Verhalten oder sittliches Handeln“ erklärt, als „Anpassung an einen Sittenmaßstab; ... sittliche Vorzüglichkeit; Redlichkeit im Handeln.“ Ferner wird gesagt, Tugend sei „das sittlich Gute“ im „Gegensatz zum Laster“. Das in den Christlichen Griechischen Schriften mit Tugend wiedergegebene Wort a·re·te’ wird von griechischen Sprachforschern mit „wahrer Wert, das sittlich Gute, Tugend ... jede Art sittlicher Vorzüglichkeit“ erklärt. Der Begriff Tugend schließt auch sittliche Kraft und Mannhaftigkeit ein. Die Tugend kann daher mit einem harten Metall wie Stahl verglichen werden, das durch entsprechende Behandlung zäh wird und daher nicht so schnell bricht, wenn es Belastungen ausgesetzt wird.
Manche Leute denken, sie seien tugendhaft, weil sie dem Anschein nach keines der Zehn Gebote verletzen. Ist das aber nicht nur bestenfalls eine passive Tugendhaftigkeit? Und ist nicht sogar diese Art Tugendhaftigkeit von unterschiedlichem Wert? Jemand mag zum Beispiel lediglich deswegen nicht stehlen, weil er ein großes Vermögen geerbt hat. Es ist also nichts besonders Tugendhaftes, wenn er nicht stiehlt. Auch der wäre nicht besonders tugendhaft, der nicht stiehlt, weil er keine Gelegenheit dazu hat.
Dann gibt es auch Leute, die nicht stehlen, weil sie besonders stolz darauf sind, „besser“ zu sein als andere. Sie erinnern uns an den Pharisäer, von dem Jesus in einem seiner Gleichnisse sagte, er habe gebetet: „O Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Erpresser, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Steuereinnehmer. Ich faste zweimal in der Woche, ich gebe den Zehnten von allem, was ich erwerbe.“ War dieser Mann in den Augen Gottes jedoch tugendhaft? Nach den Worten Jesu nicht. — Luk. 18:9-14.
Auch die Furcht vor den Folgen, vor Strafe oder Schande, mag jemand davon abhalten zu stehlen. Obwohl diese Beweggründe keine verkehrte Grundlage für Tugendhaftigkeit sind, ist eine auf dieser Grundlage beruhende Tugendhaftigkeit nicht die vortrefflichste Art. Sie entsteht hauptsächlich aus einer klugen Berechnung heraus und kann eher als Taktik denn als Grundsatztreue bezeichnet werden. Das wird durch die Worte des Apostels Paulus hervorgehoben, mit denen er Christen empfahl, dem Gesetz des Landes nicht nur des Zornes wegen oder aus Furcht vor der Strafe zu gehorchen, sondern auch des „Gewissens wegen“. — Röm. 13:5.
Eine wertvollere Art Tugendhaftigkeit beruht auf unserer Liebe zu Jehova Gott, unserem Schöpfer, und auf der Furcht, ihm zu mißfallen. Der inspirierte Psalmist drückte dies wie folgt aus: „Die ihr Jehova liebet, hasset das Böse!“ Ja, wir sollten das, was recht ist, lieben und das Schlechte oder Böse, das, was Gott mißfällt, hassen. Jesus Christus übte diese Art Tugendhaftigkeit, als er auf der Erde war, denn wir lesen über ihn: „Gerechtigkeit hast du geliebt und Gesetzlosigkeit gehaßt.“ Diese Liebe zur Gerechtigkeit und der Haß gegen das Böse gaben ihm die Kraft, allen Angriffen, die der Teufel in Form von Versuchungen und Verfolgungen gegen ihn unternehmen konnte, zu widerstehen. — Ps. 97:10; 45:7; Hebr. 5:8.
Die Gerechtigkeitsliebe und die Furcht, unserem Schöpfer zu mißfallen, helfen uns nicht nur, das Schlechte zu meiden, sondern zwingen uns auch, eine aktive Art Tugend zu üben, denn schließlich bedeutet Tugend genaugenommen nicht nur, sich vom Laster fernzuhalten. Nein, Tugendhaftigkeit, die in der Heiligen Schrift oft als Gerechtigkeit bezeichnet wird, bedeutet mehr als nur ein passives Gutsein. Jesus zeigte dies, als er das mosaische Gesetz in die zum Handeln anspornenden Worte zusammenfaßte: „Alles daher, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, sollt auch ihr ihnen ebenso tun; in der Tat, das ist es, was das Gesetz und die Propheten bedeuten.“ — Matth. 7:12.
Ein kleines Kind kann deshalb als unschuldig betrachtet werden, aber man könnte es nicht als tugendhaft bezeichnen. Ja, es müßte sogar noch sehr jung sein, um wirklich als unschuldig betrachtet zu werden, denn heutzutage liest man schon von sechsjährigen Mördern. Einer erschoß vor kurzem seinen Vater vorsätzlich mit einer Schrotflinte und ein anderer seinen Spielkameraden mit einem Gewehr. Solche Kinder bereiten der Polizei und den Gerichten Schwierigkeiten, denn es gibt kein Gesetz über Verbrechen, die von solch kleinen Kindern verübt werden. — New York Times, 24. Oktober 1967; New York Sunday News, 19. November 1967.
Jesus betonte, daß Tugendhaftigkeit aktiv sein muß, durch die Worte, die er zu einem reichen jungen Obersten sprach, der zu ihm gekommen war und ihn gefragt hatte, was er tun müsse, um ewiges Leben zu ererben, und der offenbar mit sich selbst sehr zufrieden war, weil er die größtenteils negativ abgefaßten Gebote des mosaischen Gesetzes hielt. Jesus wies ihn aber darauf hin, daß ihm eines noch fehle: eine aktive Güte oder Tugendhaftigkeit. „Gib den Armen, ... und komm, folge mir nach!“ Der junge Mann war jedoch nicht an dieser vorzüglichen Art Tugendhaftigkeit interessiert; er wurde deshalb „traurig und ging betrübt weg“. — Mark. 10:17-22.
Es gibt also verschiedene Arten von Tugendhaftigkeit, und nicht jede ist gleich vorzüglich. Es gibt eine passive Tugendhaftigkeit, die sich lediglich davon zurückhält, etwas Böses zu tun oder andere zu schädigen, und eine, die eher auf Taktik beruht als auf Grundsatztreue. Über diese Art sagte Jesus Christus: „Wenn eure Gerechtigkeit [oder Tugendhaftigkeit] die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, [werdet ihr] keinesfalls in das Königreich der Himmel eingehen.“ (Matth. 5:20) Um unsere Tugendhaftigkeit, die mit einer Perle verglichen werden könnte, zu bewahren und die Belohnung, die sie uns eintragen kann, nämlich ewiges Leben, zu empfangen, müssen wir uns darin üben und uns darin zu verbessern suchen. Wir dürfen in dieser Hinsicht nie selbstzufrieden werden. Wir müssen den Rat beherzigen: „Wer daher denkt, er stehe, der sehe zu, daß er nicht falle.“ — 1. Kor. 10:12.