Fragen von Lesern
● In Hebräer 12:22, 23 (Luther) spricht der Apostel Paulus von den „Geistern der vollendeten Gerechten“. Könnte es sich bei diesen „Gerechten“ um die Treuen handeln, über die Paulus in Hebräer, Kapitel 11 schreibt?
Die Ansicht, daß in diesen Worten von den gläubigen und treuen Menschen die Rede sei, die in vorchristlicher Zeit bis hin zu Johannes dem Täufer lebten, ist nicht neu. Sie wurde bereits in der englischen Ausgabe des Wachtturms vom 15. August 1913, Seite 248, 249 angedeutet, und man hielt viele Jahre lang daran fest. In der Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift lautet die Wiedergabe dieser Stelle: „... dem geistigen Leben von vollkommen gemachten Gerechten.“
In Hebräer 11:8-10 ist von Abraham, Isaak und Jakob die Rede. Es wird gezeigt, daß Abraham die Stadt Ur in Chaldäa verließ und daß er und Isaak als Nomaden lebten. Auch Jakob lebte als Nomade, bis er in den Tagen seines Sohnes Joseph nach Ägypten übersiedelte. Während der ganzen Zeit hatten diese Männer keinen festen Wohnsitz, zum Beispiel in einer Stadt. An keiner Stelle der Hebräischen Schriften lesen wir, daß Jehova diesen drei Männern eine „Stadt, die wahre Grundlagen hat, deren Erbauer und Bildner Gott ist“, verhieß. Diese Äußerung machte Paulus. Zweifellos bezog er sich dabei auf die von Gott geschaffene Regierung des ‘Samens Abrahams’, unter der diese drei Patriarchen auf der Erde leben und unter der sie am Ende der 1000 Jahre menschliche Vollkommenheit erlangen werden (Gal. 3:16).
Als Gott die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs aus dem Land Ägypten herausführte und sie in das Land brachte, das er Abraham verheißen hatte, ließen sie sich in den Städten der Kanaaniter nieder. (Nur Jericho wurde durch die Macht Gottes zerstört.) Danach hatten alle treuen Propheten und treuen Frauen der alten Zeit einen festen Wohnsitz in einer Stadt. Folglich kann von ihnen nicht gesagt werden, daß sie eine künftige Stadt auf der Erde suchten, wie dies von Abraham, Isaak und Jakob gesagt wurde. Jerusalem wurde im Jahre 70 u. Z. zerstört, 39 Jahre nach der Enthauptung Johannes’ des Täufers. In dieser sichtbaren, irdischen Stadt wohnten sogar Judenchristen, bis sie, nachdem sich der Feldherr Gallus von Jerusalem zurückgezogen hatte, dem prophetischen Gebot Jesu gehorchten und die Stadt verließen (Matth. 24:15-22).
In Hebräer 13:12-14 wird darauf Bezug genommen, daß Jesus außerhalb der Mauern des irdischen Jerusalem oder „außerhalb des Tores“ an den Pfahl geschlagen wurde. Paulus geht von diesem Umstand aus und sagt: „Laßt uns also zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers [wie der Sündenbock oder „der Bock ... für Asasel“, der am Sühnetag in die Wildnis gesandt wurde (3. Mose 16:10)], und die Schmach, die er trug, tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen ernstlich die künftige.“ Mit dieser „Stadt“ ist das himmlische Königreich, das Neue Jerusalem, gemeint, von dem Paulus in Hebräer 12:22 spricht.
Die Treuen der alten Zeit, besonders von Abraham bis zu Johannes dem Täufer, trachteten nicht danach in den Himmel zu kommen und in dieses himmlische Jerusalem einzugehen. Sie hatten davon keine Vorstellung (Matth. 11:11). Sie konnten keine solche Hoffnung hegen, weil sie nicht von Gottes heiligem Geist gezeugt worden waren. Das ist aus Johannes 7:39 zu erkennen, wo es heißt: „Das sagte er jedoch hinsichtlich des Geistes, den die, die an ihn glauben, empfangen sollten; denn noch war der Geist nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war.“ Christliche Männer und Frauen wurden nicht vor Pfingsten des Jahres 33 u. Z. vom Geist gezeugt. Geistgezeugte Personen blickten von da an einem Leben in der himmlischen Stadt entgegen, die durch das irdische Jerusalem versinnbildlicht worden war.
Deshalb konnte Paulus in seinem Brief an die hebräischen Christen sagen: „Sondern ihr habt euch einem Berge, Zion [nicht dem Berg Sinai in Arabien], genaht und einer Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und Myriaden von Engeln“ (Hebr. 12:22). Zur Zeit des Paulus war die „Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln eingetragen worden sind“, noch nicht ganz 30 Jahre alt. Sie war also noch sehr jung und umfaßte weit weniger als 144 000 Glieder. Die Vervollständigung der Zahl von 144 000 „Erstgeborenen, die in den Himmeln eingetragen worden sind“, erfolgt am Ende der sogenannten christlichen Ära, die mit der in Offenbarung 7:14 und Matthäus 24:21, 22 erwähnten „großen Drangsal“ endet. Paulus und die hebräischen Christen, an die er schrieb, nahten sich also erst dieser „Versammlung“, was ihre Vollzahl von 144 000 Gliedern betrifft.
In Hebräer 12:23, 24 heißt es weiter: „... und Gott dem Richter aller, und dem geistigen Leben [„den Geistern“, Fußnote in der Neuen-Welt-Übersetzung, engl. Ausg. 1971] von vollkommen gemachten Gerechten und Jesus, dem Mittler eines neuen Bundes, und dem Blut der Besprengung, das auf bessere Weise redet als Abels Blut.“ Gott ist also der Richter aller, auch der 144 000, die im Himmel eingetragen worden sind. Die voraussichtlichen Glieder der verherrlichten „Versammlung“ müssen daher eine Gerichtszeit durchmachen, bevor sie von Jehova, dem höchsten Richter, anerkannt werden. Deshalb heißt es, sogleich nachdem er erwähnt worden ist, in demselben Vers weiter: „... und dem geistigen Leben von vollkommen gemachten Gerechten.“ Es handelt sich um die Glieder der geistgezeugten Christen„versammlung“, die zufolge des Glaubens gerechtfertigt worden sind (Röm. 5:1; 8:1-4). Aus diesem Grund werden sie als „vollkommen gemachte Gerechte“ bezeichnet.
Im Einklang damit werden sie aufgefordert, ihre „Leiber als ein lebendiges, heiliges, Gott annehmbares Schlachtopfer darzustellen, das ist ein heiliger Dienst gemäß ... [ihrer] Vernunft“ (Röm. 12:1). Auf diese Weise gehen sie ‘zu ihm hinaus, außerhalb des Lagers, und tragen die Schmach, die er trug’ (Hebr. 13:13). Diese geistgezeugten Christen haben jetzt auf der Erde wirklich ein „geistiges Leben“, und sie werden aufgefordert, gemäß dem Geist, von dem sie gezeugt worden sind, zu wandeln.
Vom „geistigen Leben“ dieser gerechtfertigten Christen spricht Paulus schon vorher im selben Kapitel, in Hebräer 12:9, wo wir lesen: „Sollen wir uns selbst nicht viel mehr dem Vater unseres geistigen Lebens unterwerfen und leben?“ Buchstäblich heißt es im griechischen Text „dem Vater der Geister“. Er ist der Vater der Versammlung der Geistgezeugten, an die Paulus schrieb, und daher wird dieser Ausdruck in der Neuen-Welt-Übersetzung durch die Redewendung „dem Vater unseres geistigen Lebens“ frei wiedergegeben und mit einer persönlichen Note versehen. Dieser Ausdruck erscheint 14 Verse vor Hebräer 12:23 und steht somit im unmittelbaren Kontext.
In Hebräer 12:1 wendet sich der Apostel Paulus von den treuen Männern und Frauen der vorchristlichen Zeit ab und spricht über die geistgezeugten Glieder der Christenversammlung sowie über den Dienst, den diese geistgezeugten Christen für Gott einmal verrichten würden. In Hebräer 12:23 kehrt er somit nicht zu dem zurück, was er in Kapitel 11 besprochen hat. Gemäß diesen Tatsachen beschreibt der Ausdruck ‘das geistige Leben von vollkommen gemachten Gerechten’ die „Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln eingetragen worden sind“, von einem anderen Standpunkt aus und ist daher keine unnötige Wiederholung dessen, was bereits in Vers 22 gesagt worden ist. Es besteht also keine Veranlassung, diesen Ausdruck auf eine andere Klasse gottesfürchtiger Personen wie auf die treuen Männer und Frauen aus alter Zeit (von Abel bis zu Johannes dem Täufer) anzuwenden.
Durch das, was Paulus als nächstes sagt, nämlich: „... und Jesus, dem Mittler eines neuen Bundes, und dem Blut der Besprengung, das auf bessere Weise redet als Abels Blut“ (Hebr. 12:24), begrenzt er alles, was in Hebräer 12:22, 23 gesagt wird, weiter auf die Versammlung der geistgezeugten Christen. Diese Christen stehen im neuen Bund, und somit ist Jesus ihr Mittler. Sie sind in geistigem Sinne mit dem „Blut“ Jesu Christi besprengt worden, das bessere Auswirkungen hat, als es das Blut des Märtyrers Abel haben könnte (Hebr. 11:4). Das heißt, sie sind durch ihren Glauben an dieses Blut wirklich gerechtfertigt oder gerechtgesprochen worden (Röm. 5:9).
In Übereinstimmung mit alldem wendet sich Paulus in Hebräer 12:25-28 an die Versammlung geistgezeugter Christen und ermahnt sie, sich ihres himmlischen Königreiches als würdig zu erweisen, das die ‘Stadt des lebendigen Gottes, das himmlische Jerusalem’, ist, dem sie sich genaht haben. Der Überrest der Versammlung der 144 000 geistgezeugten Christen ist heute den Dingen, die Paulus in den Versen 22 und 23 aufzählt, viel näher als jene hebräischen Christen im ersten Jahrhundert. Und darüber freut sich mit ihm eine aus „anderen Schafen“ bestehende große Volksmenge. Diese „große Volksmenge“ wandelt durch Glauben, genauso wie die treuen Männer und Frauen in vorchristlicher Zeit.