Traue, und man wird dir trauen
EIN großer Schatz des Lebens ist ein Freund, dem man trauen kann. Es gab einmal eine Zeit, da die Menschen einander ohne weiteres Vertrauen schenkten; man hielt es mehr oder weniger für selbstverständlich, daß jeder ehrlich war. Heute jedoch ist es, zumindest in den Großstädten, nicht mehr so. Weil Gewalttat und Schlechtigkeit immer mehr überhandnehmen und jede denkbare Art der Unzucht und der Unehrlichkeit allmählich etwas Alltägliches wird, werden die Menschen stets argwöhnischer und vertrauen einander immer weniger.
Die Zeitschrift Life brachte in ihrer Ausgabe vom 19. November 1971 eine Titelgeschichte, die überschrieben war „In den Städten verbarrikadiert man sich. Die Furcht vor dem Verbrecherunwesen führt zu einem Leben hinter Schloß und Riegel“. In diesem Artikel wurde berichtet, daß bei 17 von den 24 Mietern eines Wohnblocks schon einmal und bei einem der Mieter schon dreimal eingebrochen worden war. Dem Artikel beigefügt war ein Foto, auf dem eine Haustür zu sehen war, die zwei Gucklöcher hatte und mit fünf Schlössern, mit Alarmanlagen, Ketten, Riegeln und Fangvorrichtungen gesichert war. Dabei handelte es sich um ein Haus in einem vornehmen Wohnviertel der Stadt New York. Mißtrauisch? Argwöhnisch gegenüber Fremden? Ganz bestimmt!
Aber es wird nicht nur eingebrochen. Die Menschen werden am hellichten Tag mit vorgehaltenem Revolver oder Messer überfallen. Es vergeht kaum eine Woche, in der man nicht von einem seiner Freunde oder Verwandten hört, daß er ausgeraubt worden sei. Der Bevölkerung wird der Rat gegeben, nicht allein auszugehen, besonders abends nicht, denn gewöhnlich werden Personen zusammengeschlagen oder ausgeraubt, die allein auf der Straße gehen.
Es ist bestimmt weise, wenn man heute, da das Verbrecherunwesen immer mehr überhandnimmt, Vorsicht walten läßt. Sind wir aber nicht auf der Hut, so kann sich diese Vorsicht, dieses Mißtrauen gegenüber Fremden, störend auf alle unsere Beziehungen zu anderen auswirken. Was wäre die Folge, wenn das geschähe? Könnte es nicht sein, daß Personen, die vielleicht unsere Freunde geworden wären, dann uns gegenüber mißtrauisch, argwöhnisch werden?
Wir üben unweigerlich auf andere Einfluß aus. Es ist so, wie Jesus von Nazareth, der Sohn Gottes, sagte: „Hört überdies auf zu richten, und ihr werdet bestimmt nicht gerichtet werden; und hört auf zu verurteilen, und ihr werdet bestimmt nicht verurteilt werden. ... Denn mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird euch wieder gemessen werden.“ — Luk. 6:37, 38.
Sind wir anderen gegenüber übertrieben mißtrauisch oder argwöhnisch, so könnten wir sie abschrecken oder ihnen vielleicht in irgendeiner Weise schaden. Die Geschichte weiß über viele Verbrechen zu berichten, die aus Mißtrauen oder Argwohn begangen wurden.
Vor allem Familienglieder sollten großes Vertrauen zueinander haben. Wir alle sind unvollkommen; wir alle machen Fehler. Selbst wenn wir die besten Absichten haben, handeln wir nicht immer entsprechend; das mag zur Folge haben, daß wir gelegentlich unsere Angehörigen enttäuschen. Wie wohltuend ist es daher, wenn sie erkennen lassen, daß sie für unsere Schwächen Verständnis haben und daher nicht schnell bereit sind, unsere Beweggründe oder unser Urteil anzuzweifeln, sondern den vorhandenen Zweifel zu unseren Gunsten auslegen. Wir müssen bedenken, daß jemand wirklich unschuldig sein mag, selbst wenn die Umstände den Anschein erwecken mögen, er sei es nicht, wie Shakespeare das in seinem Trauerspiel „Othello“ zeigte.a
Wir machen uns und andere unglücklich, wenn wir ihnen gegenüber argwöhnisch, mißtrauisch sind. Warum den vorhandenen Zweifel nicht zu ihren Gunsten auslegen, indem man anerkennt, daß mildernde Umstände vorhanden gewesen sein mögen? Besonders wenn uns andere durch ihre Unzulänglichkeit lästig sind oder uns zur Qual werden, müssen wir vorsichtig sein, daß wir nicht zufolge von Ungeduld schroff und tadelsüchtig werden. Wenn wir Liebe und Vertrauen entgegenbringen und Einfühlungsvermögen bekunden — indem wir sagen: „Das hätte mir auch passieren können“ —, wird die ganze Situation nicht nur erquicklicher, sondern ein solches Verhalten wird sich später auch bezahlt machen. Wenn wir durch „Zeit und unvorhergesehenes Geschehen“ anderen zur Prüfung werden, dürfen wir hoffen, daß sie uns ebenfalls ein solches Vertrauen entgegenbringen und Einfühlungsvermögen bekunden. Auch da gilt der biblische Grundsatz: ‘Was der Mensch sät, das wird er auch ernten.’ — Pred. 9:11; Gal. 6:7.
Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Niemand wird daran zweifeln, daß heute ein „Generationenkonflikt“ besteht. Die Jugend proklamiert ihre Rebellion durch besondere Kleidung, Haartracht, Sprache, den Gebrauch von Drogen und in manch anderer Weise. Die Eltern klagen — und mit Recht —, daß ihre Kinder ihnen kein Vertrauen schenken, daß sie ihnen mißtrauen. Was ist aber höchstwahrscheinlich die Ursache? Haben die Eltern vielleicht von Anfang an kein vertrautes Verhältnis zu ihren Kindern gehabt?
Aber nicht alle Eltern haben Ursache zur Klage. Es gibt Eltern, die ihren Kindern stets Verständnis entgegengebracht und ihnen gegenüber immer selbstlos gehandelt haben; auch hat diesen Eltern die geistige, seelische, religiös-sittliche und körperliche Entwicklung ihrer Kinder am Herzen gelegen. Solche Eltern sind für ihre Kinder wie ein offenes Buch gewesen, so daß die Kinder ihnen ganz selbstverständlich vertraut haben; es sind Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder wichtiger ist als ihre eigene Bequemlichkeit und ihr Vergnügen. Ihre Kinder sind ihnen daher nicht wie Fremde.
Der gleiche Grundsatz gilt auch für die Glieder einer Christenversammlung. Wer möchte, daß man ihm Vertrauen schenkt, muß selbst anderen Vertrauen entgegenbringen. Sei mit den Unzulänglichkeiten anderer nachsichtig; lege den vorhandenen Zweifel zu ihren Gunsten aus. Vergiß nicht, daß es das Vorrecht der Starken ist, die Last jener zu tragen, die nicht so stark sind, geduldig und langmütig zu sein und das Beste zu hoffen. Es ist besser, enttäuscht zu werden, ja sogar einen Verlust zu erleiden, weil man einem christlichen Bruder gegenüber zu vertrauensselig gewesen ist, als einen anderen durch Mißtrauen abzuschrecken oder zum Straucheln zu bringen. Wenn du anderen Vertrauen schenkst, werden auch andere dir vertrauen. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit. Traue, und man wird dir trauen. — Röm. 15:1.
[Fußnote]
a In diesem Trauerspiel tötet der Mann seine Frau in einem Anfall wahnsinniger Eifersucht; doch hinterher erfährt er, daß sie unschuldig war, worauf er Selbstmord begeht.