Die vielen Gesichter des Osterfestes
In dem griechischen Dorf ist es stockdunkel, als die Lichter in der Kirche plötzlich verlöschen. So bleibt es, bis um Mitternacht ein bärtiger Priester erscheint, eine brennende Kerze in der Hand. „Kommt herbei“, ruft er, „und empfangt Licht vom ewigen Licht, und verherrlicht Christus, der von den Toten auferstanden ist!“ Die Gläubigen umringen ihn, um an dem Licht ihre Kerze anzuzünden und sie dann nach Hause zu tragen. Im Dorf herrscht große Freude. Es ist Ostern.
VON allen „christlichen“ Festen wird keinem eine so große Bedeutung beigemessen wie dem Osterfest. In anderen Sprachen nennt man das Fest Pâques (Französisch), Pasqua (Italienisch), Påske (Dänisch), Pasen (Niederländisch) und Pasg (Walisisch). Wie dieses Fest auch immer genannt werden mag, es wird von vielen gern gefeiert. John Grindrod, anglikanischer Erzbischof von Australien, bezeichnete das Osterfest als „den Mittelpunkt des christlichen Glaubens und den Angelpunkt der gesamten Zivilisation, die sich um uns gebildet hat“.
In der Jerusalemer Altstadt sind eine ganze Reihe von Prozessionen unterwegs. Tausende von Gläubigen folgen am Karfreitag noch einmal den letzten Schritten Jesu. Eine Frau legt die mehrere hundert Meter lange Strecke auf den Knien zurück. Später besuchen die Pilger die Grabeskirche — erbaut über der traditionellen Grabstätte Jesu. Schwarzgekleidete Frauen salben unter Tränen die Grabplatte mit Öl und küssen sie. Doch nicht überall in dieser Stadt, deren Name „Besitztum des zweifachen Friedens“ bedeutet, ist es so friedlich. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung stehen tausend Polizisten bereit.
In den verschiedenen Teilen der Welt hat das Osterfest verschiedene Gesichter. Für viele ist Ostern ein höchst feierlicher Anlaß, eine Zeit zum Gebet, eine Zeit, in der man sich in Massen zu Gottesdiensten versammelt, und eine Zeit für Pilgerfahrten zu „heiligen“ Stätten.
Für manche Männer auf den Philippinen ist die Karwoche (Mahal na Araw genannt) eine Zeit zur Selbstkasteiung. Obwohl die Kirche diesen Brauch mißbilligt, wird er von einigen, die öffentlich für ihre Sünden büßen möchten, immer noch gepflegt. Frauen wallfahren zu „heiligen“ Stätten, wo sie mit einem Taschentuch ein Christusbild berühren. Später legen sie das Taschentuch auf kranke Körperstellen in der Hoffnung auf Heilung.
In Guatemala beugt sich ein Quiche-Indianer im Gebet über ein paar Maiskolben. Mais ist das Hauptnahrungsmittel seines Volkes. Und die traditionellen Fruchtbarkeitsriten fallen in die Karwoche. Er erhofft sich durch Ostern eine reichliche Ernte.
Auf dem Petersplatz im Vatikan drängen sich beinahe eine viertel Million Menschen, um dabeizusein, wenn der Papst unter freiem Himmel eine Messe liest. Später, genau zur Mittagszeit, kehrt der Papst auf die Loggia der Basilika zurück, um wie jedes Jahr seine Osteransprache zu halten — eine Verurteilung der Verletzung der Menschenrechte und des Wettrüstens.
In Südafrika findet an einem Hügel mit dem Namen Moria eine Versammlung statt, die diejenige im Vatikan in den Schatten stellt. Weit über eine Million Mitglieder der Zionistisch Christlichen Kirche (eine unabhängige Kirche der Schwarzen) sind herbeigekommen. Man hat diese Menschenmenge die „möglicherweise größte Versammlung von Gläubigen in der Christenheit“ genannt.
Ostern ist jedoch in vielen Ländern gleichbedeutend mit Festlichkeit, Freude und Fröhlichkeit.
In den Vereinigten Staaten und in Deutschland gehen die Kinder voller Aufregung ins Bett und hoffen, einen Blick vom Osterhasen zu erhaschen. Am nächsten Morgen machen sie sich auf die Suche nach den buntgefärbten Eiern, die der geheimnisvolle Hase ihrer Meinung nach gebracht hat. Populär ist in den Vereinigten Staaten auch das berühmte Eierrollen vor dem Weißen Haus am Ostermontag. Tausende von Kindern lassen Eier den Rasen hinunterrollen, der den Sitz des Präsidenten schmückt. Das Rollen symbolisiert vermutlich das Wegrollen des Steines vom Grab Christi. Den Kindern ist das wohl kaum bewußt; alles, was sie wissen, ist, daß Eierrollen großen Spaß macht.
In anderen Ländern hat das Osterfest ein noch anderes Gesicht — es ist eine Zeit für abergläubische Handlungen.
In Finnland halten die Bauern am Abend des Ostersamstags Ausschau nach Trollen — Wesen mit Zauberkraft, die unter den Viehherden und am Besitz allerlei Schäden anrichten. Man glaubt, daß es sich bei den Trollen in Wirklichkeit um eifersüchtige alte Frauen handelt, die um der Schadenfreude willen ihren wohlhabenderen Nachbarn Unglück bringen. Die Karwoche ist die geeignetste Zeit für ihr Unwesen. Abergläubische Finnen sind davon überzeugt, daß am Karfreitag und am Karsamstag die bösen Geister vermehrt in Erscheinung treten.
In Australien macht man verlobte Paare glauben, fließendes Wasser sei zur Osterzeit besonders gesegnet. Daher bewahren die Paare solches Wasser bis zum Hochzeitstag auf. Bevor sie zur Kirche gehen, besprengen sie sich gegenseitig damit. Sie hoffen, daß dies ihrer Ehe Glück bringt.
Wenn auf den Philippinen am Ostermorgen die Kirchenglocken läuten, fassen die Eltern ihre kleinen Kinder beim Kopf und heben sie hoch. Sie glauben, dadurch würden diese größer werden.
Ja, Ostern ist nicht für alle ein und dasselbe. Der Leiter einer Schokoladenfabrik in Südafrika meinte: „Ostern bietet die Gelegenheit, mehr zu verdienen.“ (Zur Osterzeit des Jahres 1985 produzierte seine Firma über fünf Millionen gefüllte Schokoladeneier.) Sogar Geschäftsleute, die Juden, Moslems oder Hindus sind, steigen ins Ostergeschäft ein. Ein indischer Geschäftsmann, der in Südafrika lebt, erklärte: „Moslems und Hindus glauben zwar nicht an Jesus, aber sie unterstützen das Osterfest und wollen Kreuzsemmeln und Ostereier verkaufen.“ Tatsächlich gab ein Geschäftsführer, der Hindu ist, zu: „Auch Moslems und Hindus kaufen Ostereier.“
In letzter Zeit hat Ostern sogar ein politisches Gesicht bekommen — man benutzt es als eine Gelegenheit für politische Protestkundgebungen.
Die Brasilianer haben ein neues Opfer gefunden, an dem sie zu Ostern ihren Unmut auslassen. Während man früher auf Nachbildungen von Judas Iskariot, dem Verräter Christi, einschlug, wird heute auf Figuren mit der Bezeichnung „Frau Inflation“ eingeschlagen.
Es ist unglaublich: Alle diese verschiedenen Bräuche, Traditionen und Gepflogenheiten sollen demselben Zweck dienen — der Verherrlichung des auferstandenen Christus Jesus. Ist das aber wirklich der Fall? Woher stammen solche Bräuche überhaupt?
[Bild auf Seite 4]
Die Feier am Hügel Moria
[Bildnachweis]
Foto: The Star, Johannesburg, Südafrika