Wie sah Jesus aus?
DAS Zeugnis der weltlichen Geschichte über Jesu Aussehen ist von mehreren Faktoren stark beeinflußt. Diese sind für gravierende Abweichungen bei den künstlerischen Darstellungen von Jesus verantwortlich.
Zwei Faktoren sind die Kultur des Landes und die Zeitperiode, in der das Kunstwerk entstand. Ferner schlugen sich die Glaubensansichten der Künstler und ihrer Auftraggeber in den Jesusbildern nieder.
Im Lauf der Jahrhunderte befaßten sich berühmte Künstler wie Michelangelo, Rembrandt und Rubens intensiv mit dem Aussehen Christi. Oft mit Symbolik und Mystik ausgeschmückt, haben ihre Werke die landläufigen Vorstellungen vom Erscheinungsbild Jesu nachhaltig geprägt. Aber worauf gründeten sich ihre Interpretationen?
Was die weltliche Geschichte aussagt
Kunstwerke aus der Zeit vor dem römischen Kaiser Konstantin, der von zirka 280 bis 337 u. Z. lebte, zeigten Jesus oft als jugendlichen „Guten Hirten“ mit entweder kurzem oder langem lockigem Haar. Dazu wird in dem Buch Art Through the Ages allerdings angemerkt: „Als Motiv läßt sich der Gute Hirte durch die [heidnische] griechische Antike bis zur ägyptischen Kunst zurückverfolgen, aber hier wird er zum Symbol des treuen Beschützers der christlichen Herde.“
Mit der Zeit wurde der heidnische Einfluß noch deutlicher. „Jesus“, so das Buch weiter, „konnte leicht mit den vertrauten Gottheiten des Mittelmeerraums identifiziert werden, insbesondere mit Helios (Apollo), dem Sonnengott [dessen Nimbus später auf Jesus und dann auf die „Heiligen“ übertragen wurde], oder seinem oströmischen Abbild, Sol Invictus (die unbesiegte Sonne).“ In einem Grabmal unter der Peterskirche in Rom wird Jesus tatsächlich als Apollo dargestellt, „der die Pferde des Sonnenwagens durch den Himmel lenkt“.
Dieses eher jugendliche Erscheinungsbild hielt sich indessen nicht sehr lang. Adolphe Didron erläutert in seinem Buch Iconographie chrétienne, was geschah: „Die Gestalt Christi, die anfangs jugendlich war, wird ... mit zunehmendem Alter des Christentums von Jahrhundert zu Jahrhundert älter.“
In einem Text aus dem 13. Jahrhundert, bei dem es sich angeblich um einen Brief eines gewissen Publius Lentulus an den römischen Senat handelte, wird das Aussehen Jesu folgendermaßen geschildert: „Sein Haar hatte die Farbe einer unreifen Haselnuß [helles Braun] und war bis fast zu den Ohren glatt, fiel dann aber von den Ohren abwärts in dunkleren und glänzenderen Locken herab, die über die Schultern wallten; er hatte einen Mittelscheitel ..., einen Vollbart von derselben Farbe wie das Haar, nicht sehr lang, aber am Kinn leicht in zwei Spitzen auslaufend ..., graue ... und strahlende Augen.“ Dieses nicht authentische Porträt beeinflußte in der Folge viele Künstler. „Jede Periode schuf das von ihr gewünschte Christusbild“ ist in der New Catholic Encyclopedia zu lesen.
Was auf die verschiedenen Schaffensperioden zutrifft, gilt auch für Rassen und Religionen. Die religiöse Kunst in den Missionsgebieten Afrikas, Amerikas und Asiens zeigt den langhaarigen Christus westlicher Prägung, zuweilen aber mit „einheimischen Zügen“, wie die Enzyklopädie anmerkt.
Auch die Protestanten hatten Künstler, die Christi Erscheinungsbild auf ihre Art deuteten. F. M. Godfrey erklärt in seinem Buch Christ and the Apostles—The Changing Forms of Religious Imagery: „Rembrandts melancholischer Christus entspringt dem protestantischen Geist — traurig, gespenstisch, streng, ... ein Abbild der in sich gekehrten, selbstverleugnenden protestantischen Seele.“ Davon zeugt „die Ausgezehrtheit seines Körpers, die Verleugnung des Fleisches, die ‚Demut, das Pathos und die Feierlichkeit‘, mit denen er [Rembrandt] das christliche Epos verband“.
Wie wir jedoch sehen werden, ist der schwächliche, von einem Heiligenschein umgebene, weichliche, melancholische, langhaarige Christus, wie er oft in der Kunst der Christenheit erscheint, nicht wirklichkeitsgetreu. Tatsächlich ist er weit von dem Jesus der Bibel entfernt.
Die Bibel und Jesu Aussehen
Als „Lamm Gottes“ war Jesus ohne Makel, so daß er zweifellos ein gutaussehender Mann war (Johannes 1:29; Hebräer 7:26). Und sicher hatte er nicht ständig einen melancholischen Gesichtsausdruck, wie er ihm von der populären Kunst verliehen wird. In seinem Leben gab es zwar viele leidvolle Ereignisse, doch in seiner Grundhaltung spiegelte er vollkommen seinen Vater wider, den „glücklichen Gott“ (1. Timotheus 1:11; Lukas 10:21; Hebräer 1:3).
Hatte Jesus langes Haar? Nur Nasiräer durften weder ihr Haar schneiden noch Wein trinken, und Jesus war kein Nasiräer. Somit hatte er ohne Zweifel ordentlich geschnittenes Haar wie jeder andere jüdische Mann (4. Mose 6:2-7). Außerdem trank er in Gesellschaft mäßig Wein, was den Gedanken unterstreicht, daß er kein freudloser Mensch war (Lukas 7:34). Bei einer Hochzeitsfeier im galiläischen Kana beschaffte er eigens durch ein Wunder Wein (Johannes 2:1-11). Und ganz offensichtlich trug er einen Bart, was eine Prophezeiung über seinen Leidensweg bezeugt (Jesaja 50:6).
Wie verhält es sich mit Jesu Hautfarbe und Gesichtszügen? Sie waren höchstwahrscheinlich semitisch. Er müßte diese Merkmale von seiner Mutter Maria, einer Jüdin, geerbt haben. Ihre Vorfahren waren jüdisch, also hebräischer Abstammung. Deshalb hatte Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach eine Hautfarbe und Gesichtszüge, wie sie für Juden typisch sind.
Selbst unter seinen Aposteln fiel Jesus nicht durch äußerliche Andersartigkeit auf, denn als Judas ihn an die Feinde verriet, mußte er ihn durch einen Kuß kenntlich machen. Jesus konnte somit ohne weiteres in der Menge untergehen. Und das war auch der Fall, zumal er bei mindestens einer Gelegenheit unerkannt von Galiläa nach Jerusalem reiste (Markus 14:44; Johannes 7:10, 11).
Allerdings besteht die Ansicht, Jesus müsse schwächlich gewesen sein. Wie kommt man zu dieser Behauptung? Zum einen brauchte er Hilfe beim Tragen seines Marterpfahls. Zum anderen starb er als erster von drei an den Pfahl geschlagenen Männern (Lukas 23:26; Johannes 19:17, 32, 33).
Kein schwächlicher Jesus
Entgegen der Überlieferung beschreibt die Bibel Jesus nicht als schwächlich oder weichlich. Vielmehr heißt es von ihm als Jugendlichem: Er „nahm weiterhin zu an Weisheit und Körpergröße und an Gunst bei Gott und den Menschen“ (Lukas 2:52). Einen Großteil von 30 Jahren betätigte er sich als Zimmermann. Das klingt nicht nach einer Beschäftigung für jemanden mit leichtem oder schwachem Körperbau, erst recht nicht in einer Ära, in der es keine modernen, kräfteschonenden Maschinen gab (Markus 6:3). Zudem trieb Jesus die Rinder, die Schafe und die Geldwechsler aus dem Tempel und stieß ihre Tische um (Johannes 2:14, 15). Auch das läßt auf Männlichkeit und Körperkraft schließen.
In den letzten dreieinhalb Jahren seines Erdendaseins wanderte Jesus auf seinen Predigtreisen Hunderte von Kilometern. Doch die Jünger legten ihm nie nahe, ‘ein wenig auszuruhen’. Statt dessen sagte Jesus zu ihnen, von denen einige robuste Fischer waren: „Kommt für euch allein an einen einsamen Ort, und ruht ein wenig aus“ (Markus 6:31).
„Der gesamte Evangelienbericht“, so sagt die Cyclopædia von M’Clintock und Strong über Jesus, „läßt auf eine kraftstrotzende körperliche Gesundheit schließen.“ Warum brauchte er dann aber Hilfe beim Tragen seines Marterpfahls, und wieso starb er vor den anderen, die neben ihm am Pfahl hingen?
Ein Schlüsselfaktor ist extreme Bedrängnis. Als sich seine Hinrichtung näherte, sagte Jesus: „In der Tat, ich habe eine Taufe, mit der ich getauft werden muß, und wie bin ich bedrängt, bis sie vollendet ist!“ (Lukas 12:50). Diese Bedrängnis steigerte sich in seiner letzten Nacht zu „großer Qual“: „In großer Qual betete er noch intensiver, so daß sein Schweiß wie Blutstropfen wurde, die auf die Erde fielen“ (Lukas 22:44, Das jüdische Neue Testament). Jesus wußte, daß die Aussicht der Menschheit auf ewiges Leben von seiner Lauterkeit bis zum Tod abhing. Was für eine schwere Verantwortung! (Matthäus 20:18, 19, 28). Er wußte auch, daß er von Gottes eigenem Volk als ‘verfluchter’ Verbrecher hingerichtet werden würde. Deshalb machte er sich Sorgen, dies könne Schmach auf seinen Vater bringen (Galater 3:13; Psalm 40:6, 7; Apostelgeschichte 8:32).
Nach dem Verrat erlitt er Grausamkeiten über Grausamkeiten. In einem Scheinprozeß, der sich weit nach Mitternacht abspielte, wurde er von den höchsten Beamten des Landes verspottet, angespuckt und mit Fäusten geschlagen. Um dem nächtlichen Prozeß einen rechtsgültigen Anstrich zu geben, kam es früh am nächsten Morgen zu einer weiteren Verhandlung. Dabei wurde Jesus von Pilatus verhört, dann von Herodes, der sich zusammen mit seinen Soldaten über ihn lustig machte, und darauf wieder von Pilatus. Schließlich ließ Pilatus ihn geißeln. Das war kein normales Auspeitschen. Das Journal of the American Medical Association beschreibt die Geißelung nach Art der Römer wie folgt:
„Das übliche Instrument war eine kurze Peitsche ... mit mehreren einzelnen oder geflochtenen Lederriemen unterschiedlicher Länge, an denen in bestimmten Abständen kleine Eisenkugeln oder scharfkantige Schafsknochenstücke befestigt waren. ... Wenn die römischen Soldaten wiederholt mit voller Kraft auf den Rücken des Opfers schlugen, verursachten die Eisenkugeln tiefe Quetschungen, und die Lederriemen mit den Schafsknochen schnitten in die Haut und das unter der Haut liegende Gewebe ein. Im weiteren Verlauf der Auspeitschung klafften die Wunden bis in die tiefer liegenden Skelettmuskeln, und es wurden zuckende Fetzen blutenden Fleisches herausgerissen.“
Es ist klar, daß Jesu Kräfte, schon lange bevor er unter der Last des Stammes zusammenbrach, nachgelassen haben mußten. Dazu hieß es im Journal of the American Medical Association: „Die körperliche und seelische Mißhandlung durch die Juden und die Römer sowie der Mangel an Nahrung, Wasser und Schlaf trugen ebenfalls zu seiner allgemeinen Geschwächtheit bei. Deshalb war Jesu körperliche Verfassung schon vor der eigentlichen Kreuzigung zumindest ernst, wenn nicht gar kritisch.“
Ist sein Aussehen wichtig?
Von dem nicht authentischen schriftlichen Porträt, das Lentulus verfaßte, über die Kunstwerke berühmter Meister bis hin zu modernen Glasfenstern scheint die Christenheit von allem angetan zu sein, was das Auge auf sich lenkt. „Die außergewöhnliche Ausstrahlung, die von dem Bildnis Jesu Christi ausgeht, sollte bewahrt bleiben“, sagte der Erzbischof von Turin, Verwalter des umstrittenen Turiner Grabtuchs.
Gottes Wort dagegen spart bewußt Details über Jesu „Ausstrahlung“ aus. Weshalb? Sie würden höchstwahrscheinlich von dem ablenken, was ewiges Leben bedeutet: Erkenntnis aus der Bibel (Johannes 17:3). Jesus selbst — unser Vorbild — ‘schaut nicht auf die äußere Erscheinung der Menschen’, das heißt, er hält die äußere Erscheinung nicht für wichtig (Matthäus 22:16; vergleiche Galater 2:6). Jesu Aussehen herauszustellen, wo doch in den inspirierten Evangelien nichts davon erwähnt wird, würde bedeuten, dem Geist der Evangelien zuwiderzuhandeln. Ohnehin hat Jesus, wie wir im nächsten Artikel sehen werden, keine Ähnlichkeit mehr mit einer menschlichen Gestalt.a
[Fußnote]
a Für das Bibelstudium ist es natürlich nicht verkehrt, Abbildungen mit Jesus zu verwenden. In den Publikationen der Watch Tower Society erscheinen häufig solche Illustrationen. Dabei wird jedoch in keiner Weise versucht, Mystik zu erzeugen oder unbiblischen Vorstellungen, Symbolen beziehungsweise einer unbiblischen Verehrung Vorschub zu leisten.
[Bilder auf Seite 7]
Der schwächliche, bleiche Christus, wie ihn die Kunst der Christenheit abbildet, im Gegensatz zu einer Darstellung Jesu, die sich auf biblische Berichte stützt
[Bildnachweis]
Jesus Preaching at the Sea of Galilee by Gustave Doré