Kapitel 8
Der Schintoismus — Japans Suche nach Gott
„Weil mein Vater ein Schinto-Priester war, mußte ich als Kind jeden Morgen vor dem Frühstück am kamidana [Familienaltar] ein Glas Wasser und eine Schale gekochten Reis opfern. Nach dieser Kulthandlung nahmen wir den Reis herunter und aßen davon. Ich vertraute darauf, daß wir uns durch diese Handlung den Schutz der Götter sicherten.
Wenn wir ein Haus kaufen wollten, suchten wir einen Schamanen oder Geomanten auf, um zu erfahren, ob die Lage des neuen Hauses im Verhältnis zum alten günstig war. Der Schamane sagte, daß wir uns vor drei Eingängen für die Dämonen in acht nehmen sollten, und wies uns an, die Reinigungsriten zu vollziehen, die mein Vater vorschrieb. Wir reinigten daher die Wohnung jeden Monat einmal mit Salz“ (Mayumi T.).
1. (Einleitung inbegriffen.) Wo wird der Schintoismus hauptsächlich praktiziert, und was ist für manche Gläubige damit verbunden?
DER Schintoismus ist im wesentlichen eine japanische Religion. Gemäß dem Werk Nihon Shukyo Jiten (Enzyklopädie der japanischen Religionen) „hat sich der Schintoismus fast gleichzeitig mit der japanischen Kultur entwickelt, und es ist eine religiöse Kultur, die nie unabhängig von diesem Volk bestanden hat“. Heute ist jedoch der Einfluß japanischer Unternehmen und der japanischen Kultur so weitreichend, daß es von Interesse sein dürfte, zu wissen, welche religiösen Faktoren die Geschichte Japans und die japanische Mentalität geprägt haben.
2. In welchem Maße beeinflußt der Schintoismus das Leben der Japaner?
2 Der Schintoismus soll nach eigenen Angaben in Japan über 91 000 000 Anhänger haben, was etwa drei Viertel der Bevölkerung entspräche; eine statistische Erhebung hat indes ergeben, daß sich nur 2 000 000 Japaner oder 3 Prozent der Bevölkerung im Erwachsenenalter wirklich zum Schintoismus bekennen. Doch der Schinto-Gelehrte Sugata Masaaki sagt: „Der Schintoismus ist so unentwirrbar mit dem Leben der Japaner verwoben, daß sie sich seiner Existenz kaum bewußt sind. Für sie ist er weniger eine Religion als ein so selbstverständlicher Bestandteil ihrer Umwelt wie die Luft zum Atmen.“ Sogar diejenigen, die behaupten, der Religion gleichgültig gegenüberzustehen, kaufen schintoistische Amulette, die sie im Straßenverkehr schützen sollen, feiern Hochzeit nach schintoistischem Brauch und verjubeln ihr Geld bei den jährlichen Schinto-Festen.
Wie ist er entstanden?
3, 4. Warum fing man an, die japanische Religion als „Schinto“ zu bezeichnen?
3 Die Bezeichnung „Schinto“ ist im 6. Jahrhundert u. Z. aufgetaucht und wurde verwandt, um die einheimische Religion vom Buddhismus zu unterscheiden, der allmählich in Japan Fuß faßte. „Natürlich gab es die Religion der Japaner ..., ehe der Buddhismus eingeführt wurde“, erklärt Sachiya Hiro, der sich mit der Erforschung japanischer Religionen beschäftigt, „aber es war eine Religion, deren man sich nicht bewußt war, eine Religion, bestehend aus Sitten und Bräuchen. Als der Buddhismus eingeführt wurde, erkannte man, daß es sich bei den Sitten um eine japanische Religion handelte, die sich vom Buddhismus, einer ausländischen Religion, unterschied.“ Wie hatte sich diese japanische Religion entwickelt?
4 Es ist schwierig zu bestimmen, wann der ursprüngliche Schintoismus oder „die Religion der Japaner“ entstanden ist. Sein Ursprung fällt mit dem Aufkommen des Naßreisbaus zusammen. „Der Naßreisbau erforderte gut organisierte und stabile Gemeinden“, heißt es in der Kodansha Encyclopedia of Japan, „und es entstand ein bäuerliches Brauchtum, das später im Schintoismus eine überaus wichtige Rolle spielte.“ Diese alten Stämme ersannen und verehrten zahlreiche Naturgottheiten.
5. (a) Was glauben die Schintoisten bezüglich der Toten? (b) Welcher Unterschied besteht zwischen dem Glauben der Schintoisten bezüglich der Toten und dem, was die Bibel darüber sagt?
5 Zu dieser Verehrung kam die Furcht vor den abgeschiedenen Seelen hinzu, die zu Riten führte, durch die sie beschwichtigt werden sollten. Daraus entwickelte sich später der Ahnenkult. Die Schintoisten glauben, daß eine „abgeschiedene“ Seele immer noch ihre Individualität hat und daß sie durch den Tod verunreinigt worden ist. Wenn die Hinterbliebenen Gedächtnisriten durchführen, wird die Seele von jeder Bosheit gereinigt und nimmt einen friedlichen und wohlwollenden Charakter an. Im Laufe der Zeit steigt die Ahnenseele in den Rang einer Ahnen- oder Schutzgottheit auf. Es zeigt sich also, daß auch für diese Religion der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele grundlegend ist und daß er die Einstellung und Handlungsweise der Gläubigen beeinflußt (Psalm 146:4; Prediger 9:5, 6, 10).
6, 7. (a) Wie betrachteten die Schintoisten ihre Götter? (b) Was sind shintai, und warum sind sie im Schintoismus von Bedeutung? (Vergleiche 2. Mose 20:4, 5; 3. Mose 26:1; 1. Korinther 8:5, 6.)
6 Natur- und Ahnengötter wurden als Geister betrachtet, die in der Luft „schwebten“ und sie erfüllten. Bei Festen riefen die Leute die Götter an und baten sie, zu den für den Anlaß besonders geheiligten Stätten herabzusteigen. Man glaubte, die Götter würden vorübergehend in shintai — verehrungswürdige Dinge wie zum Beispiel Bäume, Steine, Spiegel und Schwerter — Wohnung nehmen. Schamanen oder Geistermedien leiteten die Riten, durch die die Götter herabgerufen wurden.
7 Allmählich nahmen die „Landeplätze“ der Götter, die für die Feste vorübergehend gereinigt wurden, eine dauerhaftere Form an. Die Leute bauten für die gütigen Götter, die sie zu segnen schienen, Schreine. Anfangs machte man sich keine Götterbilder, sondern verehrte die shintai, die als Sitz des Geistes der Götter betrachtet wurden. Sogar ein ganzer Berg wie der Fudschijama konnte als shintai dienen. Mit der Zeit gab es so viele Götter, daß die Japaner den Ausdruck yao-yorozu-no-kami einführten, was wörtlich „acht Millionen Götter“ bedeutet („kami“ bedeutet „Götter“ oder „Gottheiten“). Heute wird der Ausdruck für „zahllose Götter“ gebraucht, da die Zahl der Gottheiten im Schintoismus ständig wächst.
8. (a) Wie wurde gemäß dem Schinto-Mythos Amaterasu Omikami gebildet und gezwungen, Licht zu spenden? (b) Wie wurde Amaterasu Omikami die nationale Gottheit, und welcher Zusammenhang besteht zwischen ihr und dem Kaiser?
8 Als der Schrein bei den schintoistischen Riten in den Mittelpunkt rückte, baute jede Sippe ihrer Schutzgottheit einen Schrein. Als jedoch im 7. Jahrhundert u. Z. die kaiserliche Familie das Land einte, erhob sie die Sonnengöttin Amaterasu Omikami zur nationalen Gottheit und zur Hauptgottheit des Schintoismus. (Siehe Kasten, Seite 191.) Im Laufe der Zeit kam der Mythos auf, der Kaiser sei ein unmittelbarer Nachkomme der Sonnengöttin. Um ihn als das zu legitimieren, wurden im 8. Jahrhundert u. Z. zwei bedeutende Schinto-Schriften, der Kodschiki und der Nihongi, kodifiziert. Diese Bücher mit ihren Mythen, in denen die göttliche Herkunft des Kaiserhauses dargetan wurde, trugen dazu bei, die Stellung des Kaisers als Staatsoberhaupt zu festigen.
Eine Religion der Feste und Riten
9. (a) Warum bezeichnet ein Gelehrter den Schintoismus als eine Religion, der mehreres fehlt? (b) Wie streng ist der Schintoismus in bezug auf Lehren? (Vergleiche Johannes 4:22-24.)
9 Diese beiden Bücher, die Quellen der schintoistischen Mythologie, galten indes nicht als inspirierte Schriften. Interessanterweise ist kein Stifter des Schintoismus bekannt, auch hat er keine heiligen Schriften. „Der Schintoismus ist eine Religion, der mehreres fehlt“, erklärt der Schinto-Gelehrte Shouichi Saeki. „Er hat keine bestimmten Lehren und keine ausführliche Theologie. Er hat auch fast keine Gebote, die zu beachten wären. ... Ich bin zwar in einer traditionell schintoistischen Familie aufgewachsen, aber ich kann mich nicht erinnern, je ernsthaft religiös unterwiesen worden zu sein.“ (Kursivschrift von uns.) Für den Schintoisten sind Lehren, Gebote und zuweilen auch das, was er anbetet, unwichtig. Ein Schinto-Gelehrter schreibt: „Manchmal wurde sogar in einem Heiligtum der darin verehrte Gott gegen einen anderen ausgetauscht, ohne daß die Menschen, die diese Götter verehrten und zu ihnen beteten, etwas von dem Wechsel merkten.“
10. Was ist für Schintoisten von großer Wichtigkeit?
10 Was ist für Schintoisten wirklich wichtig? In einem Buch über die japanische Kultur wird gesagt: „Ursprünglich galten im Schinto-Glauben Taten als ‚gut‘, wenn sie der Harmonie und dem Lebensunterhalt einer Dorfgemeinde förderlich waren, und wenn sie dem entgegenwirkten, als ‚schlecht‘.“ Man betrachtete es als das Wertvollste, in Harmonie mit den Göttern, der Natur und der Dorfgemeinschaft zu sein. Irgend etwas, was den Frieden der Dorfgemeinschaft störte, war schlecht, ganz gleich, welchen sittlichen Wert es hatte.
11. Welche Rolle spielen Feste im Glaubensleben und im Alltag eines Schintoisten?
11 Da dem Schintoismus eine klar formulierte Theologie fehlt, wird der Dorffrieden durch Riten und Feste gefördert. „Das allerwichtigste für den Schintoisten ist“, wie die Enzyklopädie Nihon Shukyo Jiten schreibt, „ob Feste gefeiert werden oder nicht.“ (Siehe Kasten, Seite 193.) Das gemeinsame Feiern von Festen zu Ehren der Ahnengottheiten trug zu einem Gemeinschaftsgeist unter den Reisbauern bei. Die größeren Feste hingen und hängen immer noch mit dem Reisbau zusammen. Im Frühling bitten die Dorfbewohner die „Göttin der Reisfelder“, sie möge in ihr Dorf herabsteigen, und sie beten um eine gute Ernte. Im Herbst danken sie ihren Göttern für die Ernte. Bei den Festen tragen sie ihre Götter in einem mikoshi oder tragbaren Schrein umher und pflegen mit ihnen Gemeinschaft, indem sie mit ihnen essen und Reiswein (Sake) trinken.
12. Welche Art von Reinigungsriten werden im Schintoismus vollzogen, und zu welchem Zweck?
12 Der Schintoist glaubt, daß er sich, bevor er mit den Göttern in Verbindung treten könne, von aller moralischen Unreinheit und Sünde reinigen müsse. Hier kommen die Riten ins Spiel. Es gibt zwei Formen von Reinigungsriten sowohl für Personen als auch für Gegenstände. Der eine Ritus heißt oharai und der andere misogi. Beim oharai schwenkt ein Schinto-Priester über dem zu reinigenden Gläubigen oder Gegenstand einen Zweig des immergrünen Sakakibaumes, an dessen Spitze Papierstreifen oder Flachsfasern hängen. Beim misogi dagegen dient zur Reinigung Wasser. Diese Reinigungsriten spielen im Schinto-Glauben eine so wichtige Rolle, daß eine japanische Autorität schreibt: „Es darf mit Sicherheit gesagt werden, daß sich der Schintoismus ohne diese Riten nicht [als Religion] behaupten könnte.“
Die Anpassungsfähigkeit des Schintoismus
13, 14. Wie hat sich der Schintoismus anderen Religionen angepaßt?
13 Trotz der Umwandlung, die der Schintoismus im Laufe der Zeit erfahren hat, sind ihm seine Feste und Riten verblieben. Was für eine Umwandlung? Ein Schinto-Gelehrter vergleicht die Veränderungen im Schintoismus mit denen einer Ankleidepuppe. Als der Buddhismus eingeführt wurde, bekleidete er sich mit der buddhistischen Lehre. Als das Volk eine Ethik benötigte, zog er den Konfuzianismus über. Der Schintoismus hat sich als äußerst anpassungsfähig erwiesen.
14 Schon früh in der Geschichte des Schintoismus kam es zum Synkretismus, einer Verschmelzung mit Elementen anderer Religionen. Zu diesen Religionen gehörten der Konfuzianismus und der Taoismus, in Japan als der „Weg des yin und yang“ bekannt; hauptsächlich vermischte sich der Schintoismus jedoch mit dem Buddhismus.
15, 16. (a) Wie haben die Schintoisten auf den Buddhismus reagiert? (b) Wie kam es zur Verschmelzung des Schintoismus mit dem Buddhismus?
15 Als der Buddhismus über China und Korea nach Japan gelangte, fingen die Japaner an, ihre traditionellen religiösen Bräuche als Schintoismus oder als „Weg der Götter“ zu bezeichnen. Das Auftauchen der neuen Religion stellte die Japaner vor die Frage, ob sie den Buddhismus annehmen sollten oder nicht. Die, die für den Buddhismus waren, sagten: „Alle Nachbarländer haben diesen Glauben. Warum sollte Japan anders sein?“ Die gegen den Buddhismus waren, führten ins Feld: „Wenn wir die Götter der Nachbarländer anbeten, reizen wir unsere eigenen Götter zum Zorn.“ Nach jahrzehntelangen Streitereien setzten sich die Befürworter des Buddhismus durch. Als gegen Ende des 6. Jahrhunderts u. Z. Prinz Schotoku Buddhist wurde, faßte die neue Religion festen Fuß.
16 Sobald sich der Buddhismus auch auf dem Lande ausbreitete, stieß er auf die einheimischen Schinto-Gottheiten, die im Leben der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielten. Die beiden Religionen mußten sich miteinander arrangieren, um nebeneinander bestehen zu können. Einen Beitrag zur Verschmelzung beider Religionen leisteten buddhistische Mönche, die sich in den Bergen asketischen Übungen unterzogen. Da die Schintoisten die Berge als Wohnstätten der Götter betrachteten, trugen die asketischen Praktiken der Mönche in den Bergen zur Vermischung von Buddhismus und Schintoismus bei. Das führte auch zur Errichtung der Jingu-ji oder kombinierten Schinto-Schreine und Buddhatempel.a Nach und nach verschmolzen die beiden Religionen miteinander, der Buddhismus aber tat sich durch die Bildung religiöser Theorien hervor.
17. (a) Was bedeutet kamikaze? (b) Welche Beziehung besteht zwischen kamikaze und dem Glauben, die Japaner seien eine göttliche Nation?
17 Nun faßte der Glaube, die Japaner seien eine göttliche Nation, Fuß. Als im 13. Jahrhundert die Mongolen Japan angriffen, kam der Glaube an kamikaze auf, wörtlich: „göttlicher Wind“. Zweimal griffen die Mongolen die Insel Kiuschu mit einer großen Flotte an, und zweimal vereitelten Stürme die Invasion. Die Japaner glaubten, ihre Schinto-Götter (kami) hätten die Stürme oder den Wind (kaze) gesandt, und als Folge wuchs das Ansehen ihrer Götter beträchtlich.
18. Wie hat der Schintoismus mit anderen Religionen konkurriert?
18 Das wachsende Vertrauen in die Schinto-Gottheiten hatte auch zur Folge, daß man sie für die ursprünglichen Götter hielt, während Buddhas („Erleuchtete“) und Bodhisattwas (angehende Buddhas, die anderen helfen, erleuchtet zu werden [siehe die Seiten 136, 137, 145, 146]) nur als zeitweilige lokale Manifestationen der Gottheit angesehen wurden. Als Folge dieses Konflikts zwischen Schintoismus und Buddhismus entstanden verschiedene schintoistische Richtungen. Einige legten Nachdruck auf den Buddhismus, andere auf die Schinto-Götter, und wieder andere schmückten ihre Lehre mit einer späteren Form des Konfuzianismus.
Kaiserkult und Staats-Schinto
19. (a) Worin bestand das Ziel des Restaurations-Schinto? (b) Wie beeinflußten die Lehren des Norinaga Motoori das japanische Denken? (c) Wozu fordert Gott uns auf?
19 Nach jahrelanger Symbiose der beiden Religionen erklärten die Schinto-Theologen, ihre Religion sei durch religiöses Gedankengut der Chinesen verunreinigt worden. Sie verlangten daher die Rückkehr zur alten japanischen Religion. Eine neue Richtung des Schintoismus entstand, bekannt als Restaurations-Schinto. Einer seiner Hauptverfechter war Norinaga Motoori (sprich: Moto-ori), ein Gelehrter des 18. Jahrhunderts. Auf der Suche nach dem Ursprung der japanischen Kultur studierte Motoori die Klassiker, besonders die schintoistischen Schriften, die als Kodschiki bezeichnet werden. Er lehrte, daß die Sonnengöttin Amaterasu Omikami die oberste Schinto-Gottheit sei, und für die Naturerscheinungen seien irgendwie die Götter verantwortlich. Außerdem lehrte er, daß die göttliche Vorsehung nicht vorauszusagen sei und daß es unehrerbietig sei von den Menschen, den Versuch zu machen, sie zu ergründen. Nach seinem Dafürhalten sollte man keine Fragen stellen und sich der göttlichen Vorsehung unterwerfen (Jesaja 1:18).
20, 21. (a) Wie bemühte sich ein Schinto-Theologe, den Schintoismus von „chinesischen“ Einflüssen zu säubern? (b) Welche Bewegung entstand als Folge von Hiratas Philosophie?
20 Einer seiner Schüler, Atsutane Hirata, erweiterte Norinaga Motooris Ansichten und war bestrebt, die Reinheit des Schintoismus wiederherzustellen und ihn von allen „chinesischen“ Einflüssen zu säubern. Wie ging Hirata vor? Er verschmolz den Schintoismus mit der abtrünnigen „christlichen“ Theologie. Er verglich Ame no Minakanushi no Kami, einen Gott, der im Kodschiki erwähnt wird, mit dem Gott des „Christentums“ und schrieb, daß dieser Gott, der das All beherrsche, zwei untergeordnete Götter habe, „den Hohen hehren Erzeuger (Takamimusubi) und die Göttliche Erzeugerin (Kamimusubi). Diese stellen offenbar das männliche und das weibliche Prinzip dar“ (Religions in Japan). Ja, er übernahm vom Katholizismus die Lehre eines dreieinigen Gottes, wenn sie auch nie eine Hauptlehre des Schintoismus wurde. Doch Hiratas Verschmelzung des sogenannten Christentums mit dem Schintoismus bewirkte schließlich, daß der Monotheismus der Christenheit dem Denken der Schintoisten eingepflanzt wurde (Jesaja 40:25, 26).
21 Hiratas Theologie wurde die Grundlage für die Kaiserkultbewegung, die zum Sturz der feudalistischen Militärdiktatoren, der Schogune, und zur Wiederherstellung der Kaiserherrschaft im Jahre 1868 führte. Als die Kaiserherrschaft errichtet wurde, setzte man Hiratas Schüler als Regierungskommissare der Schinto-Religion ein, und sie förderten eine Bewegung, die das Ziel hatte, den Schintoismus zur Staatsreligion zu machen. Nach der neuen Verfassung war der Kaiser ein direkter Nachkomme der Sonnengöttin Amaterasu Omikami und galt als „heilig und unantastbar“. Er wurde somit der höchste Gott des Staats-Schinto (Psalm 146:3-5).
Die „heilige Schrift“ des Schintoismus
22, 23. (a) Welche zwei Edikte erließ der Kaiser? (b) Warum wurden diese Edikte für heilig gehalten?
22 Während der Schintoismus seine Mythen, Riten und Gebete im Kodschiki, Nihongi und Engischiki hatte, fehlte dem Staats-Schinto ein heiliges Buch. Im Jahre 1882 erließ Kaiser Meidschi das kaiserliche Edikt an die Soldaten und Seeleute. Da es vom Kaiser kam, betrachteten die Japaner es als heilige Schrift, und es wurde die Grundlage für die täglichen Meditationen der Angehörigen der Streitkräfte. Darin wurde betont, daß die Pflicht, dem göttlichen Kaiser die Schulden zu bezahlen und den Verantwortlichkeiten ihm gegenüber nachzukommen, wichtiger sei als alle Pflichten, die man anderen gegenüber haben könne.
23 Einen weiteren Teil der Schinto-Bibel bildete das kaiserliche Erziehungsedikt, das am 30. Oktober 1890 herausgegeben wurde. Es „legte nicht nur die Grundsätze für die Schulbildung fest, sondern wurde auch die heilige Schrift des Staats-Schinto“, schreibt Shigeyoshi Murakami, ein Gelehrter auf dem Gebiet des Staats-Schinto. In dem Edikt hieß es, daß die „historische“ Beziehung zwischen den mythischen kaiserlichen Ahnen und ihren Untertanen die Grundlage der Erziehung sei. Wie betrachteten die Japaner diese Edikte?
24. (a) Führe ein Beispiel dafür an, wie die Leute diese kaiserlichen Edikte betrachteten. (b) Wie führte der Staats-Schinto zum Kaiserkult?
24 „Als ich noch zur Schule ging, pflegte der Konrektor ein hölzernes Kästchen in Augenhöhe zu halten und es ehrfürchtig auf die Bühne zu tragen“, erinnert sich Asano Koshino. „Der Rektor nahm das Kästchen entgegen und zog eine Rolle heraus, auf der das kaiserliche Erziehungsedikt geschrieben stand. Während das Edikt vorgelesen wurde, durften wir nicht aufschauen, bis wir die abschließenden Worte hörten: ‚der Name Seiner Majestät und Sein Siegel‘. Wir hörten die Worte so oft, daß sie sich uns einprägten.“ Bis 1945 wurde die ganze Nation durch ein auf Mythologie beruhendes Erziehungssystem so gesteuert, daß sie absolut kaisertreu war. Der Staats-Schinto galt als die Religion der Religionen, und die 13 schintoistischen Sekten, die andere Lehren vertraten, galten als Sekten-Schinto.
Japans religiöse Mission — Welteroberung
25. Als was betrachteten die Leute den japanischen Kaiser?
25 Der Staats-Schinto hatte auch seinen Götzen. „Jeden Morgen schlug ich die Hände vor der Sonne, dem Symbol der Göttin Amaterasu Omikami, zusammen, wandte mich ostwärts gegen den Kaiserpalast und brachte dem Kaiser Verehrung dar“, erinnert sich Masato, ein älterer Japaner. Der Kaiser wurde von seinen Untertanen als Gott verehrt. Weil er von der Sonnengöttin abstammte, galt er als politisch und religiös höchstrangig. Ein japanischer Professor erklärte: „Der Kaiser ist in Menschen geoffenbarter Gott. Er ist die manifeste Gottheit.“
26. Welche Lehre war die Folge des Kaiserkults?
26 Demzufolge wurde gelehrt, daß „der Mittelpunkt dieser phänomenalen Welt das Land des Mikados [Kaisers] ist. Von diesem Mittelpunkt aus müssen wir diesen Großen Geist in der ganzen Welt verbreiten. ... Die Ausdehnung Groß-Japans über die ganze Welt und die Erhebung der ganzen Welt zum Land der Götter ist die dringliche Aufgabe der Gegenwart, und es ist unser ewiges und unveränderliches Ziel“ (The Political Philosophy of Modern Shinto von D. C. Holtom). Da war keine Spur von einer Trennung zwischen Kirche und Staat.
27. Wie haben die japanischen Militärs den Kaiserkult ausgenutzt?
27 In seinem Buch Man’s Religions schreibt John B. Noss: „Die japanischen Militärs schlachteten diese Ansicht flink aus. Sie machten sie zu einem Bestandteil ihrer Kriegsreden — Eroberung ist die heilige Mission Japans. Gewiß sehen wir in diesen Worten die logische Folge eines Nationalismus, der mit allen Werten einer Religion eingeimpft wurde.“ Wieviel Unglück hat dieser Schinto-Mythos von der Göttlichkeit des Kaisers und die Vermischung von Religion und Nationalismus den Japanern und auch anderen Völkern gebracht!
28. Welche Rolle spielte der Schintoismus in bezug auf den Anteil der Japaner am Krieg?
28 Solange der Staats-Schinto und sein kaiserliches System bestand, hatte der Japaner im allgemeinen keine andere Wahl, als den Kaiser zu verehren. Norinaga Motooris Lehre „Frag nichts, sondern unterwirf dich der göttlichen Vorsehung“ durchdrang und beherrschte das Denken der Japaner. Im Jahre 1941 hatte das ganze Land unter dem Banner des Staats-Schinto und in Treue zum „lebenden Gottmenschen“ für den Zweiten Weltkrieg mobil gemacht. „Die Japaner sind eine göttliche Nation“, dachte man, „und der kamikaze, der göttliche Wind, wird wehen, wenn es zu einer Krise kommt.“ Die Soldaten und ihre Angehörigen beteten zu ihren Schutzgöttern um Kriegsglück.
29. Was führte dazu, daß nach dem Zweiten Weltkrieg viele den Glauben verloren?
29 Als die „göttliche“ Nation im Jahre 1945 kapitulierte, nachdem durch den Abwurf zweier Atombomben Hiroschima völlig und Nagasaki zum größten Teil zerstört waren, geriet der Schintoismus in eine schwere Krise. Über Nacht wurde der angeblich unbesiegbare göttliche Herrscher Hirohito ein einfacher, besiegter menschlicher Kaiser. Der Glaube der Japaner war nur noch ein Scherbenhaufen. kamikaze hatte die Nation im Stich gelassen. Die Enzyklopädie Nihon Shukyo Jiten schreibt: „Einer der Gründe war die Enttäuschung des Volkes, verraten worden zu sein. ... Und was noch schlimmer war, die Schinto-Welt gab keine religiös fortgeschrittene und passende Erklärung für die Zweifel als Folge der Niederlage. Daher nahm die unreife Reaktion in bezug auf Religion überhand: ‚Es gibt weder Gott noch Buddha.‘ “
Der Weg zu wahrer Harmonie
30. (a) Was können wir aus der Erfahrung, die der Schintoismus im Zweiten Weltkrieg machte, lernen? (b) Warum ist es wichtig, daß wir in bezug auf unsere Anbetung die Vernunft gebrauchen?
30 Der Weg des Staats-Schinto zeigt deutlich, wie notwendig es ist, daß jeder die überlieferten Glaubensanschauungen, an denen er bisher festgehalten hat, überprüft. Die Schintoisten mögen einen Weg der Harmonie mit ihren japanischen Mitmenschen angestrebt haben, als sie den Militarismus unterstützten. Natürlich hat das nicht zu einer weltweiten Harmonie beigetragen, und durch den Tod der Väter und Söhne auf dem Schlachtfeld ist auch keine Harmonie in die Familien eingezogen. Ehe wir uns jemandem hingeben, müssen wir uns vergewissern, wem und welcher Sache wir uns opfern. „Daher bitte ich euch inständig“, schrieb ein christlicher Lehrer an Römer, die ehemals den Kaiser verehrt hatten, „eure Leiber als ein lebendiges, heiliges, für Gott annehmbares Schlachtopfer darzustellen, das ist ein heiliger Dienst gemäß eurer Vernunft.“ So, wie die Christen in Rom bei der Wahl, wem sie sich hingeben wollten, ihre Vernunft gebrauchen sollten, so ist es auch heute wichtig, die Vernunft zu gebrauchen, um zu ermitteln, wen wir anbeten sollten (Römer 12:1, 2).
31. (a) Was genügte den meisten Schintoisten? (b) Welche Frage bedarf einer Antwort?
31 Die Schintoisten im allgemeinen betrachteten es als unwichtig, welchen besonderen Gott sie anbeteten. „Für das Volk“, schrieb Hidenori Tsuji, Professor für japanische Religionsgeschichte, „spielte es keine Rolle, ob es zu Göttern oder zu Buddhas betete, solange sie die Bitten um eine gute Ernte, um Heilung von einer Krankheit und um das Wohl der Familie erhörten; das genügte dem Volk.“ Hat das aber die Schintoisten zu dem wahren Gott geführt, und sind sie von ihm gesegnet worden? Die Geschichte gibt eine klare Antwort.
32. Was wird im nächsten Kapitel behandelt?
32 Auf ihrer Suche nach einem Gott haben die Schintoisten, die ihren Glauben auf Mythologien stützen, lediglich einen Menschen, ihren Kaiser, einen angeblichen Nachkommen der Sonnengöttin Amaterasu Omikami, zu einem Gott gemacht. Jahrtausende vor dem Aufkommen des Schintoismus hat sich der wahre Gott einem gläubigen Semiten in Mesopotamien geoffenbart. In unserem nächsten Kapitel werden wir jenes großartige Ereignis und seine Folgen besprechen.
[Fußnote]
a In Japan werden die religiösen Gebäude der Schintoisten als Schreine und die der Buddhisten als Tempel betrachtet.
[Kasten auf Seite 191]
Die Sonnengöttin im Schinto-Mythos
Nach dem Schinto-Mythos hat sich in uralter Zeit der Gott Izanagi „das linke Auge gewaschen, worauf die große Göttin Amaterasu, die Sonnengöttin, entstand“. Später erschreckte der Gott, der die Herrschaft über das Meer hatte, Amaterasu so sehr, daß sie „sich in einer himmlischen Felsenhöhle verbarg und den Eingang mit einem Felsbrocken verschloß. Schwarze Nacht überzog die Welt.“ Daher ersannen die Götter eine List, um Amaterasu aus der Höhle zu locken. Sie versammelten Hähne, die durch ihr Krähen den Tagesanbruch ankündigten, und machten einen großen Spiegel. Sie behängten Sakakibäume mit Perlen und Stoffstreifen. Dann begann die Göttin Ama no Uzume zu tanzen und mit den Füßen auf eine Tonne zu trommeln. Bei ihrem wilden Tanz streifte sie die Kleider ab, worauf die Götter zu lachen anfingen. Das alles machte Amaterasu neugierig, und sie schaute aus der Höhle und sah sich selbst in dem Spiegel. Das Spiegelbild lockte sie aus der Höhle, worauf der Gott der Gewalt sie bei der Hand faßte und ins Freie zog. „Nun wurde die Welt wieder von den Strahlen der Sonnengöttin erhellt“ (New Larousse Encyclopedia of Mythology). (Vergleiche 1. Mose 1:3-5, 14-19; Psalm 74:16, 17; 104:19-23.)
[Kasten auf Seite 193]
Schintoismus — eine Religion der Feste
In Japan gibt es während des Jahres zahllose religiöse Feste oder Matsuri. Es folgen einige der Hauptfeste:
▪ Sho-gatsu oder das Neujahrsfest, 1.—3. Januar.
▪ Setsubun, Bohnenwerfen innerhalb und außerhalb des Hauses, wobei man ruft: „Teufel raus, Glück rein“; 3. Februar.
▪ Hina Matsuri oder Puppenfest für die Mädchen; fällt auf den 3. März. Ein Aufbau mit Puppen, die den alten kaiserlichen Hof darstellen, wird aufgestellt.
▪ Knabenfest, 5. Mai; Koi-nobori (Papierkarpfen, die Kraft versinnbilden) werden an Bambusstäben befestigt und flattern gelassen.
▪ Tsukimi, das Bewundern des Vollmondes in der Herbstmitte, wobei man kleine runde Reiskuchen und die ersten Früchte opfert.
▪ Kanname-sai oder das Darbringen des ersten neuen Reises durch den Kaiser, im Oktober.
▪ Niiname-sai wird vom kaiserlichen Hof im November gefeiert, wenn der neue Reis vom Kaiser, der als Hoherpriester des Staats-Schinto die Kulthandlungen ausführt, gekostet wird.
▪ Shichi-go-san, was „sieben-fünf-drei“ bedeutet. Das Fest wird von schintoistischen Familien am 15. November gefeiert. Sieben, fünf und drei werden als wichtige Übergangsjahre angesehen; Kinder in bunten Kimonos besuchen den Familienschrein.
▪ Es werden auch viele buddhistische Feste gefeiert, z. B. der Geburtstag des Buddha am 8. April und das Obonfest am 15. Juli, das damit endet, daß man laternengeschmückte Bötchen im Fluß oder am Strand davonschwimmen läßt, „um den Ahnengeistern den Weg zurück in die andere Welt zu zeigen“.
[Bild auf Seite 188]
Eine Gläubige trägt Schinto-Göttern ihre Bitten vor
[Bild auf Seite 189]
Schinto, „Weg der Götter“
[Bild auf Seite 190]
Ein ganzer Berg, z. B. der Fudschijama, wird manchmal als shintai oder Gegenstand der Verehrung angesehen
[Bilder auf Seite 195]
Schintoisten, die einen mikoshi, einen tragbaren Schrein, mitführen und (oben) beim Aoi-Fest in Kioto Haselwurz-(aoi-)Blätter tragen
[Bild auf Seite 196]
Man glaubt, daß das Schwenken des Zweiges eines immergrünen Baumes, an dem Papierstreifen oder Flachsfasern hängen, einen Gegenstand oder einen Menschen reinigt und ihm Schutz vor Unglück gewährt
[Bilder auf Seite 197]
Ein Japaner findet es nicht unvereinbar, an einem Schinto-Schrein (links) und an einem buddhistischen Altar zu beten
[Bild auf Seite 198]
Kaiser Hirohito (auf dem Podium) wurde als Nachkomme der Sonnengöttin verehrt
[Bild auf Seite 203]
Eine junge Frau befestigt an der Wand eines Schreins ein ema oder hölzernes Votivbild, das sie gekauft hat