Gottes Willen zu tun war meine Lust
Von A. H. Macmillan erzählt
DIE vergangenen 66 Jahre, in denen ich versuchte Gottes Willen zu tun, waren für mich wirklich schöne Jahre. Es geht mir wie dem Judäer David, der sagte: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, ist meine Lust.“ (Ps. 40:8, NW) Ich habe gesehen, wie sich die Organisation Jehovas, die im September 1900, als ich mich im Alter von 23 Jahren Gott hingab, noch in den Kinderschuhen steckte, zu einer weltweiten Gesellschaft glücklicher Menschen entwickelt hat, die Gottes Wahrheiten eifrig verkündigen.
Nur wenige Glieder der Organisation Jehovas waren so begünstigt wie ich. Ich habe als Zeuge Jehovas während drei verschiedener Epochen der Geschichte dieser Organisation gelebt und gedient. Ich war mit drei Präsidenten der Watch Tower Society eng verbunden und habe den Fortschritt, den Gottes Volk unter ihrer Leitung machte, miterlebt. Obwohl zwischen jeder dieser Epochen der denkbar größte Unterschied bestand, erfüllte doch jede ihren Zweck in Verbindung mit der Erfüllung des Vorhabens Jehovas, und ich bin heute, da ich das Ende meiner irdischen Laufbahn im Dienste Gottes immer näher kommen sehe, mehr denn je davon überzeugt, daß Jehova sein Volk jederzeit geführt und geleitet und ihm stets zur rechten Zeit das gegeben hat, was es benötigte.
Ich habe viele der schweren Prüfungen miterlebt, die über die Organisation kamen und durch die der Glaube ihrer Glieder erprobt wurde. Mit der Hilfe des Geistes Gottes hielt sie diesen Prüfungen jedoch stand und gedieh weiter. Ich habe gelernt, daß es besser ist, geduldig zu warten, bis uns Jehova gewisse Dinge in der Bibel erkennen läßt, als sich wegen eines neuen Gedankens beunruhigen zu lassen. Wir erwarteten bisweilen von einem bestimmten Datum mehr, als uns die Bibel zu erwarten berechtigte. Diese Erwartungen erfüllten sich nicht, aber das änderte nichts an Gottes Vorhaben. Auch die biblischen Grundwahrheiten, die wir kennengelernt hatten, blieben unverändert. Ich erkannte, daß wir unsere Fehler zugeben und fortfahren sollten, Gottes Wort zu erforschen, um es noch besser zu verstehen. Irgendwelche Änderungen unserer Ansichten änderten nichts an der barmherzigen Loskaufsvorkehrung und an Gottes Verheißung des ewigen Lebens. Unerfüllte Erwartungen oder die Änderung gewisser Ansichten, sollte für uns also kein Grund sein, im Glauben schwach zu werden.
Ich erinnere mich noch an einen Vortrag den ich 1914 auf einem Kongreß in Saratoga Springs (New York) hielt. Ich sprach über das Thema „Das Ende aller Dinge steht bevor; laßt uns daher besonnen und wachsam sein und beten“. Ich glaubte selbst aufrichtig, daß die Glieder der Kirche im Oktober „heimgehen“ würden. In diesem Vortrag machte ich die unglückliche Bemerkung: „Vielleicht halte ich heute meinen letzten öffentlichen Vortrag, denn wir werden bald heimgehen.“
Am nächsten Morgen kehrten 500 von uns nach Brooklyn zurück, wo die Schlußveranstaltungen dieses Kongresses stattfinden sollten. Eine ganze Anzahl Kongreßbesucher war im Bethel untergebracht. Am Freitagmorgen saßen wir bereits alle am Frühstückstisch, als Bruder Russell herunterkam. Sonst blieb er gewöhnlich einen Augenblick in der Tür stehen, bevor er in den Speisesaal trat, und sagte heiter: „Guten Morgen, alle miteinander.“ Doch an diesem Morgen klatschte er begeistert in die Hände und verkündete freudestrahlend: „Die Zeiten der Nationen sind abgelaufen; die Tage ihrer Könige sind gezählt.“ Darauf nahm Bruder Russell seinen Platz am Kopfende des Tisches ein und machte einige Bemerkungen. Dann wurde ich aufs Korn genommen.
Bruder Russell sagte: „Wir werden das Sonntagsprogramm etwas abändern. Bruder Macmillan wird uns am Sonntag um 10.30 Uhr eine Ansprache halten.“ Alle lachten herzhaft, denn sie erinnerten sich an das, was ich am Mittwoch in Saratoga Springs — in meinem „letzten öffentlichen Vortrag“ — gesagt hatte. Nun mußte ich in aller Eile etwas suchen, worüber ich sprechen konnte. Ich fand Psalm 74:9. Dort heißt es: „Unsere Zeichen sehen wir nicht; kein Prophet ist mehr da, und keiner bei uns, welcher weiß, bis wann.“ Das war nun etwas anderes. In dieser Ansprache versuchte ich den Brüdern klarzumachen, daß einige von uns wohl etwas voreilig waren, als sie dachten, wir kämen sogleich in den Himmel, und daß wir im Dienst des Herrn tätig bleiben müßten, bis er bestimme, wann irgendwelche seiner anerkannten Diener in den Himmel genommen würden.
Obwohl sich unsere Erwartung, im Jahre 1914 in den Himmel genommen zu werden, nicht erfüllte, liefen die Zeiten der Nationen unseren Erwartungen entsprechend in jenem Jahr ab. Folglich blieb nicht alles, was wir für jenes Jahr erwartet hatten, unerfüllt. Wir ließen uns dadurch, daß sich unsere Erwartungen nur zum Teil erfüllten, nicht allzusehr beunruhigen, denn wir hatten mit dem Photo-Drama-Werk und mit der Lösung der durch den Krieg entstandenen Probleme alle Hände voll zu tun.
DIE AUSDEHNUNG DES PREDIGTWERKES VORHERGESEHEN
Bruder Russell wußte genau, daß, obwohl noch einige Glieder der geistigen Herde auf der Erde zurückgeblieben waren, der Zeitplan, nach dem die ununterbrochene Herrschaft der Nationen oder die Zeiten der Nationen enden sollten, dadurch nicht geändert oder beeinflußt wurde. Er betonte immer wieder: „Das nächste ist nun die Aufrichtung des glorreichen Königreiches durch den großen Mittler“, den Sohn Gottes. Diese Ansicht ließ in uns viele Fragen aufsteigen, unter anderem auch die, wie sich das, was in Matthäus 24:14 über die weltweite Verkündigung der guten Botschaft von Gottes Königreich gesagt wird, erfüllen würde.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an etwas, was sich kurz vor Bruder Russells Tod zutrug. Von 8 Uhr morgens bis mittags arbeitete er stets in seinem Studierzimmer. Er bereitete Wachtturm-Artikel vor und erledigte andere Schreibarbeiten, bei denen er viel in der Bibel nachforschen mußte. In diesen Stunden begab sich nie jemand in die Nähe seines Studierzimmers, außer er wäre gerufen worden oder habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen gehabt. An jenem Tag kam etwa fünf Minuten nach acht ein Stenograph die Treppe heruntergelaufen und sagte zu mir: „Bruder Russell möchte dich im Studierzimmer sprechen.“ Ich dachte: „Was habe ich denn getan?“ Schon am Morgen ins Studierzimmer gerufen zu werden bedeutete, daß es um etwas Wichtiges ging.
Als ich in das Studierzimmer kam, sagte er: „Geh bitte ins Wohnzimmer durch, Bruder.“ Das Wohnzimmer war mit dem Studierzimmer verbunden. Er sagte: „Bruder Macmillan, bedeutet dir die Wahrheit heute noch genausoviel wie am Anfang?“ Ich schaute ihn überrascht an. „Du brauchst nicht überrascht zu sein“, fuhr er fort, „das war lediglich eine Suggestivfrage.“ Dann schilderte er mir seinen Gesundheitszustand, und ich verstand genug von Diagnostik, um zu erkennen, daß er nicht mehr viele Monate leben würde, wenn er nicht entlastet würde. Er sagte: „Nun, was ich dir sagen wollte, ist folgendes: Ich kann das Werk nicht mehr fortsetzen, und doch muß noch ein großes Werk, ja ein weltweites Werk, durchgeführt werden.“ Ich blieb drei Stunden bei ihm, und er beschrieb mir das ausgedehnte Predigtwerk, das Jehovas Zeugen heute vor meinen Augen durchführen. Er sah es aufgrund dessen, was er in der Bibel gelesen hatte, voraus.
Ich entgegnete: „Bruder Russell, was du da sagst, scheint mir irgendwie ungereimt zu sein.“
„Was meinst du damit?“ fragte er.
„Du sollst sterben, und dieses Werk soll dennoch weitergeführt werden?“ erwiderte ich. „Wenn du stirbst, werden wir die Hände in den Schoß legen und warten, bis wir auch in den Himmel kommen. Wir werden nichts mehr tun.“
„Wenn du so denkst, Bruder“, sagte er darauf, „dann hast du die Streitfrage nicht erkannt. Dieses Werk ist nicht eines Menschen Werk. Ich bin für das Werk nicht wichtig. Das Licht scheint immer heller. Es ist noch ein großes Werk zu tun.“
Ich war im Irrtum, als ich sagte, wir würden die Hände in den Schoß legen und nichts mehr tun, wenn er sterbe. Das Werk wurde fortgesetzt, nach einiger Zeit sogar mit größerem Eifer als je zuvor. Das Ausmaß, das das Werk des Volkes Jehovas seither angenommen hat, beweist, daß ich im Irrtum war. Es ist in der Tat nicht eines Menschen Werk.
Nachdem Bruder Russell mir das bevorstehende Werk beschrieben hatte, sagte er: „Ich möchte nun, daß jemand hier hereinkäme und für mich die Verantwortung übernähme. Ich werde das Werk weiterhin leiten, aber ich kann mich seiner nicht mehr in dem Maße annehmen wie in der Vergangenheit.“ Wir sprachen in diesem Zusammenhang darauf über verschiedene Personen. Als ich schließlich durch die Schiebetür auf den Flur hinaustrat, rief er mir nach: „Noch einen Augenblick. Geh nun auf dein Zimmer, und lege diese Angelegenheit dem Herrn im Gebet dar, und komme dann wieder, und sage mir, ob Bruder Macmillan diese Aufgabe übernehmen möchte.“ Dann machte er die Tür zu, ohne daß ich noch etwas hätte sagen können. Ich blieb wie betäubt stehen. Was konnte ich schon tun, um Bruder Russell bei seiner Arbeit zu helfen? Um eine solche Aufgabe zu erfüllen, mußte jemand doch einigermaßen geschäftstüchtig sein; ich wußte aber nur, wie man predigt. Dennoch überlegte ich mir die Angelegenheit, ging dann wieder zu ihm und sagte: „Bruder Russell, ich werde mein möglichstes tun. Ich überlasse es dir, wo du mich einsetzen willst.“ Darauf übertrug er mir die Verantwortung und begab sich dann auf eine Reise nach Kalifornien, von der er nie mehr zurückkehrte.
Am Dienstag, dem 31. Oktober 1916, starb Bruder Russell auf der Reise nach Pampa (Texas) im Zug. Es war für uns ein harter Schlag. Als ich der Bethelfamilie am folgenden Morgen beim Frühstück das Telegramm mit der Mitteilung von seinem Tod vorlas, ging ein Seufzen durch den ganzen Speisesaal. Nun, wir machten, so gut wir konnten, weiter, ohne zu wissen, was wir tun sollten. Ich versuchte den Brüdern klarzumachen, was Bruder Russell über das große noch bevorstehende Werk zu mir gesagt hatte, aber sie meinten: „Wer soll es leiten?“
EIN NEUER PRÄSIDENT WIRD GEWÄHLT
Wir bildeten nun ein Exekutivkomitee, dem der Sekretär-Kassierer, der Vizepräsident und ich sowie Bruder Rutherford, der zum Vorsitzenden gemacht wurde, angehörten. Dieses Komitee führte bis zur Beamtenwahl im Januar 1917 die Geschäfte. Nun erhob sich die Frage, wer in das Amt des Präsidenten der Watch Tower Society eingesetzt werden sollte. Eines Tages kam Bruder Van Amburgh zu mir und sagte: „Was denkst du denn so?“ Ich erwiderte: „Meiner Meinung nach kommt nur einer in Frage, ob es dir gefällt oder nicht. Nur ein Mann kann die Verantwortung für dieses Werk übernehmen, und das ist Bruder Rutherford.“ Er ergriff meine Hand und sagte: „Ich bin ganz deiner Meinung.“ Bruder Rutherford wußte von all dem nichts. Er warb keine Stimmen. Er wurde zum Präsidenten gewählt, und er amtete als solcher, bis er am 8. Januar 1942 starb.
Ich begegnete Bruder Rutherford zum erstenmal im Jahre 1905, als Bruder Russell und ich eine Reise durch die Vereinigten Staaten machten. In Kansas City wollten uns die Brüder einen herzlichen Empfang bereiten. Sie baten Richter Rutherford aus Missouri um seine Mithilfe. Alles, was sie über ihn wußten, war, daß er die Schriftstudien besaß. Er kam und lud Bruder Russell und mich zum Essen ein, und so lernten wir ihn näher kennen. Auf der Rückreise fuhr ich wieder dieselbe Strecke. Ich besuchte Richter Rutherford nochmals und war ein oder zwei Tage bei ihm zu Gast. Da er eine Zeitlang als Sonderrichter im vierzehnten Gerichtsbezirk von Missouri tätig war, nannte man ihn allgemein „Richter“. Ich sagte zu ihm: „Herr Richter, Sie sollten hier die Wahrheit predigen.“
„Ich bin kein Prediger“, erwiderte er, „ich bin Jurist.“
„Nun, Herr Richter“, entgegnete ich, „ich werde Ihnen sagen, was Sie tun können. Sie nehmen die Bibel, laden einige Leute ein und sprechen dann zu ihnen über das Leben, den Tod und das Jenseits. Zeigen Sie ihnen, von wem wir das Leben erhalten haben, warum wir sterben müssen und was der Tod bedeutet. Führen Sie die Bibel als Zeugen an, und schließen Sie dann mit den Worten ab: ‚Das ist alles, was ich zu sagen habe‘, wie Sie es bei einer Gerichtsverhandlung vor den Geschworenen tun würden.“
„Das hört sich gar nicht schlecht an“, sagte er.
Auf einer kleinen Farm am Stadtrand, unweit von seiner Stadtwohnung, arbeitete ein Farbiger, den er kannte. Etwa fünfzehn bis zwanzig Farbige waren auf dieser Farm beschäftigt. Dahin ging er eines Tages und hielt diesen Leuten eine Predigt über das Thema „Leben, Tod und das Jenseits“. Während seiner Ausführungen unterbrachen ihn seine Zuhörer immer wieder mit den Worten: „Der Herr sei gepriesen! Woher wissen Sie das alles, Herr Richter?“ Er erlebte dort viel Freude. Das war sein erster biblischer Vortrag. Als Präsident der Gesellschaft sprach er später über den Rundfunk häufig zur ganzen Welt.
Kurz darauf, im Jahre 1906, hatte ich das Vorrecht, ihn in Saint Paul (Minnesota) zu taufen. Er gehörte zu den 144 Täuflingen, die ich an jenem Tag persönlich im Wasser untertauchen durfte. Ich freute mich deshalb ganz besonders, als er Präsident der Gesellschaft wurde.
GEFÄNGNIS
Im Jahre 1918 begann für uns eine schwere Zeit. Das Justizministerium ging zum Angriff auf uns über und ließ acht von uns verhaften und ins Raymond-Street-Gefängnis in Brooklyn überführen. Wir leisteten Kaution und warteten auf die Verhandlung. Die Anklage lautete auf Übertretung des Spionagegesetzes vom 15. Juni 1917. Wegen unseres biblischen Erziehungswerkes beschuldigte man uns, die Vereinigten Staaten heimlich an der Aushebung einer Armee hindern zu wollen.
Während der Verhandlung sagte ein Regierungssprecher, wenn jemand an einer Straßenecke stehe und das Vaterunser bete in der Absicht, jemanden vom Eintritt in die Armee abzuhalten, könne er eingesperrt werden. Das zeigt, wie leicht es damals war, jemandes Absicht falsch zu deuten. Man glaubte zu wissen, was ein anderer dachte, und von diesem Standpunkt aus ging man gegen uns vor, obwohl wir bezeugten, daß wir zu keiner Zeit etwas getan hätten, wodurch die Aushebung irgendwie beeinflußt oder jemand veranlaßt worden wäre, sich dem Musterungsbefehl zu widersetzen. Es war aber alles umsonst. Einige religiöse Führer der Christenheit und ihre politischen Verbündeten waren entschlossen, uns zu beseitigen. Der Staatsanwalt beantragte mit der Zustimmung von Richter Howe die Schuldigsprechung. Er bestand darauf, daß unser Beweggrund nicht ausschlaggebend sei, sondern daß unsere Absicht nach unseren Handlungen beurteilt werden müsse. Ich wurde lediglich aufgrund eines Schecks, den ich gegengezeichnet hatte und dessen Zweck nicht einmal ermittelt werden konnte, und wegen der Unterzeichnung eines Sachlageberichts, den Bruder Rutherford einmal dem Vorstand vorgelesen hatte, für schuldig befunden. Dabei konnte man gar nicht nachweisen, daß es meine Unterschrift war. Diese Ungerechtigkeit war uns später, als wir Berufung einlegten, von Nutzen.
Wir wurden unschuldig zu achtzig Jahren Gefängnis verurteilt, nämlich für vier Anklagepunkte zu je zwanzig Jahren, die wir gleichzeitig abbüßen sollten. Das bedeutete, daß ich zwanzig Jahre in der Strafanstalt von Atlanta zubringen sollte. Der voreingenommene Richter wies während des Berufungsverfahrens jede Kaution ab. Wir mußten also ins Gefängnis. Neun Monate später wandten sich unsere Anwälte, angewiesen von Louis D. Brandeis, einem Richter am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten, erneut an das Kreisberufungsgericht in New York mit der Bitte um Gewährung einer Kautionsleistung. Am 21. März 1919 wurde der Bitte entsprochen, und dann, am 14. Mai 1919, hob das Gericht das Urteil der unteren Instanz auf. In seiner Begründung sagte Richter Ward: „Den Angeklagten wurde in diesem Fall bei der Verhandlung nicht die sachliche, unparteiische Behandlung zuteil, auf die sie ein Anrecht gehabt hätten. Darum wurde das Urteil umgestoßen.“ Die Bemühungen unserer Feinde, mit Hilfe des Gesetzes Unheil gegen uns zu schmieden, waren also erfolglos. Es gelang ihnen nicht, uns für zwanzig Jahre hinter Schloß und Riegel zu setzen oder das Werk des Herrn lahmzulegen.
Als wir in der Strafanstalt von Atlanta eintrafen, sagte der stellvertretende Gefängnisdirektor zu uns: „Sie werden lange bei uns bleiben, meine Herren. Wir werden Ihnen etwas zu arbeiten geben. Was können Sie denn tun?“
Ich sagte zu ihm: „Ich habe in meinem Leben noch nie etwas anderes getan als gepredigt. Gibt es hier auch so etwas?“
„Nein, mein Herr!“ erwiderte er. „Deswegen sind Sie ja gerade hier. Ich sage Ihnen, hier werden Sie nicht predigen.“
Nach einiger Zeit wurden sonntägliche Bibelstunden eingeführt, die verschiedene Häftlinge leiten mußten. Ich sollte eine Gruppe von etwa fünfzehn jüdischen Gefangenen unterweisen. Auch Bruder Rutherford wurde eine Gruppe zugeteilt. Ja, jeder von uns war eingeteilt. Der Kurs folgte den vierteljährlichen Sonntagsschullektionen. Unsere Lektionen begannen mit Abraham und den Verheißungen, die ihm und dann auch Isaak und Jakob gegeben wurden. Das war für mich gerade das Richtige. Eines Tages begegnete ich dem stellvertretenden Gefängnisdirektor draußen auf dem Feld. Er sagte zu mir: „Ihre Bibelstunden sind wunderbar, Macmillan. Ich bin stets dabei, und ich glaube, eines Tages werden Sie diese Juden alle in das Verheißene Land mitnehmen.“
„Nun“, erwiderte ich, „als ich hier hereinkam, sagten Sie, ich würde hier nicht predigen.“
„Ach, vergessen Sie doch das“, sagte er.
Als dann die Grippe-Epidemie ausbrach, mußten wir unsere sonntäglichen Bibelstunden einstellen. Doch bevor wir aus dem Gefängnis entlassen wurden, sprach Bruder Rutherford nochmals etwa eine Dreiviertelstunde zu den Teilnehmern. Auch einige Gefängnisbeamte waren zugegen, und manch einem der Männer rollten die Tränen über die Wangen. Sie waren tief beeindruckt. Wir ließen eine kleine Gruppe zurück, die treu blieb.
Ein weiteres bemerkenswertes Ereignis, das in unsere Haftzeit fiel, war die Wiederwahl der Beamten der Gesellschaft. Als der bestimmte Tag kam, sagte Bruder Rutherford, er befürchte, daß unzufriedene Glieder der Organisation, die unsere religiösen und politischen Feinde unterstützt hatten, damit wir ins Gefängnis kamen, versuchen würden, die Leitung der Gesellschaft an sich zu reißen, um sie zu zerstören. Ich sagte ihm, daß sich dadurch, daß wir nicht zugegen sein könnten, um die Wahl durch unsere Anwesenheit zu beeinflussen, dem Herrn eine vorzügliche Gelegenheit biete, zu beweisen, wen er als Präsidenten der Gesellschaft haben wolle.
Am folgenden Morgen trommelte Bruder Rutherford an die Zellenwand und sagte: „Strecke deine Hand heraus.“ Er drückte mir ein Telegramm in die Hand, in dem es hieß, er sei als Präsident wiedergewählt worden. Etwas später an jenem Tag sagte er zu mir: „Ich wollte dir etwas sagen. Du machtest gestern eine Bemerkung, die mich immer noch beschäftigt. Du sprachst davon, daß wir an Bruder Russells Platz gestellt worden seien, daß wir die Wahl hätten beeinflussen können, wenn wir in Pittsburgh gewesen wären, und daß der Herr dann aber keine Gelegenheit gehabt hätte, zu beweisen, wen er haben wollte. Lieber Bruder, sollte ich je aus diesem Gefängnis herauskommen, so werde ich, so Gott will, mit dieser Menschenverherrlichung aufräumen. Ja ich werde das Schwert der Wahrheit nehmen und es der alten Babylon in den Leib stoßen. Sie ist schuld, daß wir hier drin sind, aber wir werden wieder herauskommen.“ Von seiner Entlassung aus dem Gefängnis bis zu seinem Tod hielt er sich an dieses Versprechen, indem er die Bosheit Groß-Babylons, des Weltreiches der falschen Religion, bloßstellte.
Der Gefängnisaufenthalt und die Prüfungen, die uns gewisse egoistische Personen bereiteten, die sich von der Organisation abgewandt hatten und uns dann Schwierigkeiten machten, vermochten meinen Glauben nicht zu schwächen. Er wurde im Gegenteil fortwährend stärker, wußte ich doch aus der Bibel, daß die Nachfolger Christi Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten haben würden. Ich wußte, daß der Teufel das Werk des Herrn zu behindern suchte, aber es gelang ihm nicht, es lahmzulegen. Die Prüfungen, die über uns kamen, und der Haß, den gewisse Personen, die einst unsere Brüder waren, gegen uns bekundeten, beunruhigten mich nicht. Wir hatten ja nichts anderes zu erwarten. Es erschütterte meinen Glauben an die Wahrheit und an die Organisation Jehovas nicht im geringsten.
REISEN
Ich hatte das Vorrecht, im Auftrag der Gesellschaft viel unterwegs zu sein, um die Brüder zu ermuntern und das Interesse an den Wahrheiten des Wortes Gottes zu fördern. Am 12. August 1920 ging ich mit Bruder Rutherford und anderen Vertretern der Gesellschaft an Bord der S. S. Imperator, um nach Europa zu fahren. Am Sonnabendnachmittag, dem 21. August, trafen wir in England ein. Wir reisten durch ganz England und hielten in einigen Sälen, die zum Brechen voll waren, Vorträge. Fünf Jahre später (1925) machte ich mit Bruder Rutherford eine weitere Europareise, auf der ich auch die Brüder in Polen besuchte.
Da wir auch daran interessiert waren, den Juden die gute Botschaft von Gottes Königreich zu verkündigen, war es mir vergönnt, eine besondere Reise nach dem damaligen Palästina zu machen. Am 12. März 1925 begab ich mich an Bord der Präsident Arthur. Ich konnte in Palästina über Gottes Wort sprechen und die Orte besuchen, an denen Jesus gepredigt hatte.
Im Verlauf der Jahre machte ich im Auftrag der Gesellschaft viele Reisen in den Vereinigten Staaten. Während des Zweiten Weltkrieges hatte ich eine Zeitlang einen Kreis von einundzwanzig Gefängnissen zu besuchen. Ich besuchte alle sechs Wochen unsere Brüder, die eingesperrt waren, weil sie sich geweigert hatten, ihre christliche Neutralität aufzugeben. Dabei legte ich jedesmal über 20 000 Kilometer zurück. Es war eine anstrengende Aufgabe, aber die damit verbundenen Freuden entschädigten mich weitgehend für die Unannehmlichkeiten, die ich manchmal erlebte.
SEIT DEM ZWEITEN WELTKRIEG
In den letzten zwanzig Jahren hatte ich die Freude, mit dem dritten Präsidenten der Gesellschaft, mit Bruder Knorr, zusammenzuarbeiten. Leider kann ich wegen der fortgeschrittenen Jahre nicht mehr so viel tun. Bevor ich die Gefängnisse zu besuchen begann, stand ich mehrere Jahre im Pionierdienst. Im Jahre 1941 wurde ich Sonderpionier. Nachdem Bruder Knorr 1942 Präsident geworden war, begann ich die Gefängnisse zu besuchen, und dann, im Jahre 1947, wurde ich Bezirksdiener. Im Jahre 1948 kam ich ins Bethel zurück und begann im Dezember jenes Jahres an den Sendungen von WBBR, der Rundfunkstation der Gesellschaft, mitzuwirken. Ich war an einem täglichen Programm beteiligt, in dem ich mit einem jungen Mädchen, das meine Nichte darstellte, jeweils einen Teil der Bibel besprach. Wir nahmen zusammen die ganze Bibel durch, indem wir Vers für Vers besprachen.
Es war für mich in den letzten Jahren eine nicht geringe Prüfung, daß ich im Werke des Herrn nicht mehr so tätig sein konnte wie früher, obwohl ich immer noch regelmäßig die Zusammenkünfte besuche. Ich führe einen ständigen Kampf gegen die Entmutigung. Mein schlechter Gesundheitszustand bringt mich manchmal auf den Gedanken, der Teufel wolle mich ebenso prüfen, wie er Hiob prüfte. Ich weiß jedoch, daß ich an meiner Lauterkeit festhalten muß wie Hiob, der seine Lauterkeit bis zum Ende bewahrte. Es war für mich nicht leicht, zu sehen, wie die anderen, die mit mir in der Strafanstalt von Atlanta waren, ihre himmlische Belohnung empfingen, während ich immer noch hier bin. Ich bin der letzte dieser Gruppe.
Wenn ich mit meinen 89 Jahren so auf mein Leben zurückblicke, kann ich sagen, ich würde keine andere Beschäftigung wählen, wenn ich nochmals von vorn anfangen könnte. Ich würde mich im Gegenteil noch mehr anstrengen und noch eifriger wirken.
Im Laufe der Jahre mußte ich manche Prüfung durchmachen und manchen Gedanken des Wortes Gottes anders verstehen lernen. Ich sah darin jedoch keinen Grund, mich deswegen in meinem Glauben erschüttern zu lassen. Solche Änderungen sind für das geistige Wachstum eines Christen notwendig, denn Gott läßt das Licht über seinem Wort allmählich immer heller leuchten. Wurden irgendwelche Ansichten geändert, so änderte das dennoch nichts an den grundlegenden Wahrheiten, wie am Lösegeld, an der Auferstehung der Toten sowie an Gottes Verheißung des ewigen Lebens. Es änderte nichts an der Zuverlässigkeit der in Gottes Wort deutlich aufgezeichneten Verheißungen Gottes. Daher ist mein Glaube heute noch so stark wie eh und je.
Obwohl ich stets den Wunsch hatte, Gott zu dienen, gab es manchmal Zeiten, in denen ich der Ermunterung bedurfte. Ein Bibeltext, der mir immer wieder Mut gab, stammt von unserem geliebten Bruder Paulus. Es sind seine Worte nach Philipper 4:6, 7: „Seid um nichts ängstlich besorgt, sondern laßt in allem durch Gebet und Flehen zusammen mit Danksagung eure Bitten bei Gott bekanntwerden; und der Friede Gottes, der alles Denken übersteigt, wird eure Herzen und eure Geisteskräfte durch Christus Jesus behüten.“ Ich habe die Erfahrung gemacht, daß wir nur dann Frieden haben können, wenn wir uns auf Gott verlassen und auf ihn und auf sein Wort vertrauen.
Wenn ich bedenke, welch gewaltiges Werk Gottes Volk heute durchführt, dann erhalten die Worte in Psalm 110:3 (Me) für mich eine neue Bedeutung, sie lauten: „Wie aus des Frührots Schoß der Tau, wird dir kommen deine junge Mannschaft.“ Da Gottes Diener die Menschen immer wieder besuchen, um sie über die göttlichen Wahrheiten zu belehren, sind sie wie erfrischende Tautropfen, die das dürre Land benetzen. Verschiedene Evangelisten, die ich gekannt habe, waren dagegen eher wie ein Platzregen, bei dem das Wasser schnell verläuft, so daß die Erde bald wieder ausgetrocknet ist. Sie überschwemmten eine Gemeinde von Gläubigen gleichsam und verließen sie dann wieder.
Ich habe gesehen, wie sich die Organisation Jehovas mächtig ausgedehnt hat, und sehe heute, wie die gute Botschaft vom Königreich weltweit gepredigt wird, und das betrachte ich als einen wunderbaren Höhepunkt meiner eigenen jahrelangen Predigttätigkeit. Es war für mich ein Vorrecht, mit den drei Präsidenten der Gesellschaft zusammenzuarbeiten und an dieser Ausdehnung teilzuhaben. Ich kann jetzt so richtig verstehen, was Bruder Russell meinte, als er bei seinem letzten Gespräch mit mir sagte: „Dieses Werk ist nicht eines Menschen Werk, Bruder, es ist Gottes Werk.“ Es war mir eine große Lust, in den vergangenen 66 Jahren den Willen Gottes zu tun.
[Bild auf Seite 665]
A. H. MACMILLAN