Wie schätzt du das Alter ein?
IN UNSERER modernen Zeit hat sich vieles schlagartig gewandelt. Dazu gehört auch die Einschätzung des Alters. Früher wurden die Alten fast überall hochgeachtet. Doch heute ist es anders. In vielen Ländern entwickelt sich eine ganz andere Einstellung. Ein bejahrter Collegeprofessor schrieb darüber:
„In Amerika wird das Alter als eine Krankheit angesehen. Der alte Mensch wird wie ein Aussätziger behandelt; er kommt in ein Altersheim oder, wenn er Glück hat und begütert ist, in ein Seniorencenter [das allen Apartmentkomfort bietet], wo er von der übrigen Menschheit getrennt, seinen Lebensabend verbringt.“
Das Institut für Alternsforschung der Universität von Maryland führte unter Schulkindern eine Umfrage durch, die ergab, daß alte Leute nach Ansicht der Kinder „krank, traurig, müde, schmutzig und häßlich“ sind. Es ist eine tragische Erscheinung unserer Zeit, daß junge Menschen die Alten immer weniger respektierena. Noch tragischer ist die Tatsache, daß immer weniger Kinder sich verpflichtet fühlen, sich um ihre betagten Eltern zu kümmern.
Diese Einstellung ist jedoch nicht überraschend, wenigstens nicht für Personen, die das, was heute geschieht, im Licht der biblischen Prophezeiungen betrachten. In der Bibel wird vorausgesagt, daß in unserer Zeit, den „letzten Tagen“ des gegenwärtigen bösen Systems der Dinge, viele Menschen „eigenliebig“ sein werden, „den Eltern ungehorsam, undankbar, nicht loyal, ohne natürliche Zuneigung“ (2. Tim. 3:2-5).
Wie Gott das Alter einschätzt
Es ist von großem Interesse und auch von großer Wichtigkeit, zu wissen, wie Gott das Alter einschätzt.
Als das Volk Israel Gottes Bundesvolk war, galt für die Israeliten das Gebot: „Vor grauem Haar solltest du aufstehen, und du sollst Rücksicht nehmen auf die Person eines alten Mannes, und du sollst Furcht haben vor deinem Gott“ (3. Mose 19:32). Die Achtung vor dem Alter galt als heilige Pflicht, deren Erfüllung ebenso gefordert wurde wie die Gottesfurcht. Auch der Apostel Paulus schrieb: „An einem älteren Mann übe nicht strenge Kritik [selbst wenn er im Unrecht ist]. Im Gegenteil, rede ihm bittend zu wie einem Vater, ... älteren Frauen wie Müttern“ (1. Tim. 5:1, 2).
Die Achtung vor den Eltern war im fünften der Zehn Gebote verankert. Es lautete: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit sich deine Tage als lang erweisen mögen auf dem Erdboden, den Jehova, dein Gott, dir gibt“ (2. Mose 20:12). Folgende Bibeltexte zeigen ebenfalls, wie Gott über das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern denkt:
„Höre auf deinen Vater, der deine Geburt verursacht hat, und verachte nicht deine Mutter, nur weil sie alt geworden ist“ (Spr. 23:22).
„Wer einen Vater schlecht behandelt und wer eine Mutter fortjagt, ist ein schändlich und schimpflich handelnder Sohn“ (Spr. 19:26).
„Das Auge, das einen Vater verspottet und das den Gehorsam gegenüber einer Mutter verachtet — die Raben des Wildbachtals werden es aushacken, und die Söhne des Adlers werden es auffressen“ (Spr. 30:17).
„Und wer seinen Vater und seine Mutter schlägt, soll unbedingt zu Tode gebracht werden. Und wer Übles auf seinen Vater und seine Mutter herabruft, soll unbedingt zu Tode gebracht werden“ (2. Mose 21:15, 17).
Für uns heute ist das mosaische Gesetz mit seinen Strafandrohungen nicht mehr bindend (Röm. 6:14; Kol. 2:13, 14). Es lehrt uns aber, welche Wichtigkeit Gott dieser Sache beimißt.
Ehrfurchtsvolle Achtung bei anderen Völkern
Selbst bei vielen alten Völkern, die nicht an die Gesetze Gottes gebunden waren, wurden die Betagten gebührend geehrt. Im alten Ägypten mußten die jungen Männer ihre Eltern ehren, indem sie vor ihnen aufstanden und ihnen den ersten Platz überließen. In Griechenland mußten die jungen Leute, wenn Ältere anwesend waren, respektvoll schweigen.
Es gibt auch heute noch Gegenden in der Welt, wo man das Alter ehrt. In einem Gebiet der Sowjetunion zum Beispiel, in dem viele Leute über hundert Jahre alt werden, wird das Alter hoch in Ehren gehalten. Und gerade das soll zur Langlebigkeit beitragen. Man vermittelt den Alten das Gefühl, nützlich und erwünscht zu sein, und in der Gesellschaft haben sie einen Ehrenplatz.
In früheren Jahren respektierte man die Alten und gehorchte ihnen. Die Eltern sorgten für ihre Kinder, und wenn diese erwachsen waren, galt es für selbstverständlich, daß die Kinder für ihre Eltern sorgten.
Wie man heute in New York den Älteren gegenüber eingestellt ist, konnte man in der in jener Stadt erscheinenden Zeitung Daily News lesen:
„Merkwürdigerweise ist es in diesem Lebensabschnitt [im Alter] für einen in New York Lebenden von Vorteil, ein Schwarzer oder ein Puertoricaner zu sein. Die Schwarzen und die Puertoricaner kümmern sich nämlich um ihre Alten.
Die Weißen tun das im allgemeinen nicht, und aus ihren Reihen stammen die meisten der rund 300 000 Personen im Alter von über 65 Jahren, die mutterseelenallein in Sozialwohnungen, in schäbigen Hotels oder Pensionen hausen.“
Alte Menschen müssen das Gefühl haben, erwünscht zu sein und geliebt zu werden. Ist das nicht der Fall, dann verlieren sie den Lebensmut. Dr. Amos Johnson von der Amerikanischen Gesellschaft der Hausärzte schrieb:
„Ich habe es erlebt, daß alte Menschen, die verhältnismäßig gesund waren, das Interesse am Leben einbüßten, sobald man sie in ein Altersheim brachte, wo sie von der übrigen Gesellschaft isoliert leben mußten.
Sie sprechen nicht mehr, essen nicht mehr, werden bettlägerig, siechen dahin und sterben. Diesen Krankheitsvorgang nennt man ‘Isolation’, und auf dem Totenschein sollte das auch als Todesursache vermerkt werden.“
Verborgene Schätze
Jüngere Leute, die sich älteren zuwenden, machen oft die Erfahrung, daß sie dadurch bereichert werden. Ein Mann mittleren Alters sagte, zu den interessantesten, nützlichsten und schönsten Stunden seines Lebens würden die Stunden zählen, die er in Gesellschaft älterer Menschen verbracht habe.
Was ist der Grund? Ältere Menschen haben zufolge ihrer längeren Lebenszeit gewöhnlich viel mehr erlebt als jüngere Leute. Ihre Auffassungen und Erinnerungen können sehr wertvoll sein. Das gilt ganz besonders dann, wenn ein älterer Mensch sein Leben im Einklang mit den Gesetzen und Grundsätzen Gottes gelebt hat. Über solche Personen lesen wir in der Bibel: „Eine Krone der Schönheit ist graues Haar, wenn sie auf dem Wege der Gerechtigkeit gefunden wird“ (Spr. 16:31).
Alte Menschen gleichen einem verborgenen Schatz. Aber damit ein Schatz von Nutzen ist, muß er entdeckt und verwertet werden. Der Reichtum, den alte Menschen an Wissen, Erkenntnis und Weisheit besitzen, muß „angezapft“ werden. Es ist daher zu empfehlen, daß die Kinder, die Teens und die Tweens sowie die Leute mittleren Alters mit den älteren Familiengliedern Gedankenaustausch pflegen. Und wenn ein älterer Mensch wortkarg ist, kann man ihn taktvoll um seine Meinung bitten. Überrascht wird man dann feststellen, wie bereichernd so ein Gespräch sein kann. Alte Menschen indes werden dadurch ermuntert und angeregt.
Alte Menschen können aber nicht nur guten Rat geben und Wissen vermitteln, sondern viele junge Leute, die aus dem Gleichgewicht gekommen sind, haben im Umgang mit Älteren, deren Herzlichkeit, Güte und Verständnis sie als wohltuend empfinden, inneren Frieden gefunden. Ein liebes Wort von einer älteren Person kann dazu beitragen, daß die Probleme des Tages leichter bewältigt werden. All das erklärt, warum sich Großeltern gewöhnlich so gut als Babysitter eignen.
Das bedeutet nicht, daß jeder ältere Mensch nur Worte der Weisheit und der Ermunterung äußert (Pred. 4:13). Es gibt niemand, der das tut. Häufig mögen sich alte Leute auch irren. Aber wer irrt sich nicht? Außerdem mögen sie wie andere Leute gewisse Eigenheiten haben. Aber trotz ihrer Unvollkommenheiten, die im Alter noch ausgeprägter sein mögen, will Gott, daß wir auf sie Rücksicht nehmen und sie respektieren.
Wie man helfen kann
In einer Stadt wohnten zwei ältere Frauen, die miteinander befreundet waren. Jede hatte ihr eigenes Häuschen. Eines Nachts schneite es stark. Am darauffolgenden Morgen, als eine der beiden aus dem Fenster schaute, sah sie zu ihrer Überraschung, daß der Schnee vor ihrem Haus bereits weggekehrt war.
Die Frau wußte nicht, wer ihr, ohne ein Wort zu sagen oder sich dafür bezahlen zu lassen, diese Freundlichkeit erwiesen hatte. Sie rief ihre Freundin an und erzählte ihr den Vorfall. Diese berichtete nun ihrerseits — ebenfalls ganz erstaunt —, daß auch vor ihrem Haus der Schnee weggeschippt worden sei.
Wochen danach schneite es eines Nachts wieder. Am darauffolgenden Morgen stellten beide erneut fest, daß vor ihrem Haus der Schnee weggeräumt war. Einige Zeit danach wurden wieder starke Schneefälle angekündigt, und die Vorhersage traf auch ein. An jenem Abend legte sich eine der beiden Frauen früh schlafen und stand morgens um 6 Uhr auf. Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie, wie ein 12jähriger vor ihrem Haus Schnee schaufelte.
Wie beglückte es sie und ihre Freundin, daß jemand an sie gedacht und ihnen diesen Dienst erwiesen hatte! Warum schaufelte der Junge den Schnee so früh weg? Die beiden Frauen sollten nicht sehen, wer es tat, und sich nicht verpflichtet fühlen, dafür zu bezahlen. Der Junge erwies den beiden Frauen einen großen Dienst. Das ist nur ein Beispiel dafür, was man alles tun kann, um der alten Generation die Last, die das Alter mit sich bringt, etwas zu erleichtern.
Taktvoll helfen
Gleichgewicht und Takt sind ebenfalls erforderlich. Wenn man seine Hilfe anbietet, darf man es nicht in herrischem, arrogantem Ton tun oder gar heftig werden. Auch sollte man sich nicht aufdrängen, sondern der alte Mensch sollte unbedingt das Gefühl haben, frei zu sein, selbst zu entscheiden.
Zum Beispiel beobachtete einmal ein Mann, wie sich eine alte Frau mit einem schweren Paket abschleppte. Er fragte sie höflich: „Kann ich Ihnen tragen helfen?“ Sie lächelte, bedankte sich für das Angebot, lehnte aber ab mit den Worten: „Das kann ich immer noch selbst tun.“
Ein anderes Beispiel: An einem Wintertag wollte ein Mann eine belebte Straßenkreuzung überqueren. Dabei fiel sein Blick auf eine ältere Frau, die am Rand des Bürgersteiges stand und ängstlich auf die Straße schaute. Dann bemerkte er den Schnee- und Eishaufen, über den sie hinwegsteigen mußte. Er wandte sich ihr zu und fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“ Sie antwortete schnell: „Ja bitte.“
Besuche bedeuten viel
Älteren Menschen bereiten Besuche große Freude. So sagte ein älterer Mann: „Die Besucher haben keine Ahnung, welche Freude sie jemandem bereiten, dessen Kinder und Enkel weit weg wohnen.“ Man kann ihnen ein interessantes Erlebnis erzählen oder sie auf eine Meldung aufmerksam machen, die für sie wichtig sein mag. Häufig kann man ihnen aber keinen größeren Dienst erweisen, als gut zuzuhören.
Ältere Menschen, die nicht mehr gut sehen, schätzen es auch, wenn man ihnen vorliest. Man kann ihnen etwas Erbauendes aus einem Brief, den man bekommen hat, vorlesen. Oder vielleicht sagen sie dir, was du ihnen vorlesen solltest. Sie mögen den Wunsch haben, daß du ihnen etwas aus der Bibel vorliest und es dann mit ihnen besprichst. Viele halten auch die abwechslungsreichen Artikel, die in der Zeitschrift Erwachet! und in der biblischen Zeitschrift Der Wachtturm veröffentlicht werden, für interessanten und erbauenden Lesestoff, der sich lohnt, vorgelesen zu werden.
Außerdem kann man ihnen gelegentlich als Beweis der Anteilnahme ein kleines Geschenk bringen: etwas Eßbares, eine Pflanze oder vielleicht etwas, was man selbst verfertigt hat. Ja, wenn du siehst, daß es notwendig ist, könntest du ihnen sogar ein Geldgeschenk machen. Ferner kannst du ihnen anbieten, für sie zu kochen, oder wenn sie noch rüstig genug sind, kannst du sie einladen, mit dir auswärts essen zu gehen. Vielleicht sind sie auch dankbar, wenn sie von jemandem in seine Wohnung oder zu einem geselligen Beisammensein eingeladen werden. Biete dich an, sie dahin zu begleiten. Wenn du das tust, solltest du dich vergewissern, daß sich einer der Anwesenden um sie kümmert.
Manchmal treten im Alter Krankheiten oder Gebrechen auf, die es dem alten Menschen unmöglich machen, notwendige Besorgungen, wie das Einkaufen von Lebensmitteln, selbst zu verrichten. Man erweist ihnen einen Liebesdienst, wenn man für sie einkauft oder dafür sorgt, daß es jemand für sie tut.
Ja, es gibt viele Möglichkeiten, Betagten das Leben zu erleichtern. Solche Taten verraten den gottgefälligen Geist des Gebens. Wer Betagten beisteht, hat aber auch selbst Nutzen davon, denn zu wissen, daß man tut, was recht ist, erfüllt einen mit Befriedigung. Gewöhnlich hängen die Betagten mit großer Liebe an denen, die ihnen helfen. Jesus sagte: „Beglückender ist Geben als Empfangen“ (Apg. 20:35).
Das war der Grund, warum der 12jährige Junge den beiden älteren Damen den Schnee vor ihrem Haus wegschaufelte. Seine gottgefällige Einstellung war das Ergebnis der Erziehung, die er als Sohn eines Zeugen Jehovas genoß und durch die er mit biblischen Grundsätzen vertraut gemacht wurde. Sein Vater hatte ihn gelehrt, daß es für einen Diener Gottes nicht genügt, an Gott zu glauben, sondern daß er auch Gutes tun muß (Jak. 2:26).
Hilfe finanzieller Art
In vielen Ländern besteht eine gesetzlich geregelte Versorgung alter Menschen, und selbstverständlich ist es richtig, diese Vorkehrung in Anspruch zu nehmen.
Dennoch kommt es vor, daß die finanziellen Mittel unzureichend sind oder daß keine Einkommensquelle mehr vorhanden ist. Sind in solchen Fällen erwachsene Kinder verpflichtet, betagten Eltern oder Großeltern finanzielle Unterstützung zu gewähren? Über diese wichtige Frage wird in Gottes Wort folgendes gesagt:
„Wenn aber irgendeine Witwe Kinder oder Enkel hat, so laß diese zuerst lernen, in ihrem eigenen Hause Gottergebenheit zu pflegen und ihren Eltern und Großeltern beständig eine gebührende Vergütung zu erstatten, denn das ist in Gottes Augen annehmbar.
Bestimmt hat jemand, der für die Seinigen und besonders für seine Hausgenossen [betagte Eltern oder Großeltern] nicht sorgt, den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1. Tim. 5:4, 8).
Die Behauptung, man habe nicht die Pflicht, betagte Eltern zu unterstützen, ist mit der Vernunft unvereinbar. Die Eltern haben jahrelang für die Kinder gesorgt. Sie haben sie 18 bis 20 Jahre lang oder noch länger ernährt, sie haben sie ausbilden lassen und haben ihnen außer Geld noch vieles andere gegeben. Als sie noch hilflose Säuglinge waren, haben die Eltern alles für sie getan. Auch haben sie sie gepflegt, wenn sie krank waren. Warum sollten die Kinder, wenn sie erwachsen sind, nicht die Aufgabe übernehmen, für ihre betagten Eltern zu sorgen?
Natürlich mag der Zeitpunkt kommen, da die Angehörigen nicht mehr in der Lage sind, einem Betagten die angemessene Pflege zuteil werden zu lassen. Dann mag es besser sein, ihn in ein Altenpflegeheim oder Altenkrankenheim zu bringen. Doch in diesem Fall sollten die Angehörigen den Betagten häufig besuchen. Die letzten Lebensjahre in einem Altenpflegeheim zubringen zu müssen ist nicht angenehm.
Wird es immer so sein, daß die Menschen alt und im Alter vielleicht sogar bettlägerig werden, so daß sie auf Tätigkeiten, die ihnen einst Freude bereitet haben, verzichten müssen und nur noch den Tod vor Augen haben?
[Fußnote]
a In dem Artikel „Die lieben lästigen Alten“ berichtete die Zeitschrift Stern (Nr. 46, 1973), daß „einer der Tagesordnungspunkte auf einer Konferenz von Schülerzeitungs-Redakteuren in Bad Lauterberg lautete: ,Leute über sechzig müssen eingeschläfert werden.‘“