Man kann die Lesefähigkeit verbessern
VOR den Augen breitet sich das altertümliche Rom aus. Man begibt sich auf Wanderschaft mit Patriarchen der alten Zeit — Männer wie Abraham, Isaak und Jakob. Plötzlich fühlt man sich in die Lage versetzt, einen hohen Berggipfel des Himalaja zu erklimmen oder in Afrika vor tosenden Wasserfällen zu stehen. Es bietet sich der Anblick einer Dschungelkatze auf ihrem Beutezug oder die Möglichkeit, weit entfernte Sterne und Planeten zu bestaunen. Und doch kann man all diese Situationen erleben, ohne sich vom Lieblingssessel zu erheben. Die ganze Welt der Abenteuer, Geheimnisse, Romanzen, des Humors und des Fachwissens kann sich einem erschließen — vorausgesetzt, man ist ein guter Leser.
Bedauerlicherweise kann ungefähr ein Drittel der Erdbewohner, die älter als fünfzehn Jahre sind, weder lesen noch schreiben. Zweifellos fühlen sich aus diesem Grund viele von ihnen in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt. Es gibt immerhin viel zu lesen — Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und Straßenschilder, um nur einiges zu nennen. Freilich sollten auch die, die des Lesens kundig sind, in der Lage sein, verhältnismäßig schnell, mühelos und mit guter Auffassungskraft zu lesen. Wie kann man sonst in der Schule den gebotenen Stoff in sich aufnehmen, schriftlichen Anweisungen am Arbeitsplatz folgen oder zu Hause zur eigenen Freude und zum persönlichen Nutzen lesen? Wir können also mit gutem Grund die Frage stellen: Wie kann man die Lesefähigkeit verbessern?
Der Aufbruch zu Leseabenteuern erfolgt zu Hause. Eine saloppe Umgangssprache, unkorrekte Grammatik, schlechte Wortwahl und eine nachlässige Sprechweise können naturgemäß nicht die Sprachbeherrschung fördern. Man muß die Sprache gut kennen, um ein gewandter Leser sein zu können.
In einigen Familien wird wenig oder gar nicht gelesen. Doch wenn du Kinder hast und in ihnen Interesse fürs Lesen wecken möchtest, hast du vielleicht den Wunsch, die Familie regelmäßig zusammenkommen zu lassen, um das Vorlesen zu üben. Die Bibel ist das beste Buch für solch lautes Lesen, denn sie ist nicht nur reichhaltig, was die Sprache anbelangt, sondern auch in bezug auf Erzählungen und aufschlußreiche Grundsätze. Übrigens enthält das erste Bibelbuch — die Genesis (meist als 1. Mose bezeichnet) — die fesselnde Schöpfungsgeschichte und auch Berichte über das Leben und den Glauben von Männern wie Abraham, Isaak und Jakob.
In der Zeitschrift News—Free Press von Chattanooga erschien vor kurzem ein Artikel, in dem die Bemerkungen eines Schulrektors von Ohio erörtert wurden, der sagte: „Die Kinder von Jehovas Zeugen ... sind die besten Leser in der Schule.“ In dem Artikel wurde der Grund dafür erklärt, indem darauf hingewiesen wurde, daß „die Zeugen dem Bibellesen große Bedeutung beimessen“. Die Zeugen glauben, daß ihre Hoffnung für das Leben in der Zukunft in enger Verbindung mit dem Lesen und Anwenden des Wortes Gottes steht. Ein solches Interesse, so schlußfolgerte der Schreiber, „verleiht euch die Fähigkeit, zu den ,besten Lesern in der Schule zu gehören‘“.
Was und wo sollte man lesen?
Es gibt heutzutage Veröffentlichungen im Überfluß, und wahrscheinlich könntest oder möchtest du nicht alles lesen, was in deiner Sprache veröffentlicht worden ist. „Des vielen Büchermachens ist kein Ende“, sagt die Bibel, „und sich ihnen viel zu widmen ist ermüdend für das Fleisch“ (Pred. 12:12). Nicht jede Literatur erbaut den Leser und erfrischt seinen Geist. Ebenso, wie sich die Nahrung, die man ißt, auf den Zustand des Körpers auswirkt, so beeinflußt auch die Nahrung, die man dem Geist zuführt, das Denken. Deshalb ist es am Platz, wählerisch zu sein. Man könnte sich einige Fragen stellen: Ist es dieses Buch wert, daß ich dafür meine Zeit opfere und ihm Beachtung schenke? Wird dieser Artikel mich in moralischer oder geistiger Hinsicht erbauen? Nachdem du es schnell überflogen hast, wirst du wahrscheinlich in der Lage sein, zu sagen, ob du zu deinem eigenen Vorteil deine Aufmerksamkeit nicht auf etwas anderes richten solltest.
Das, was man liest, kann entscheiden, wo man es liest. Eine Zeitung, einen Roman oder verhältnismäßig leichten Stoff kann man auf einer Reise im Zug oder Flugzeug lesen. Wichtigere Informationen erfordern womöglich, daß man sich in sein Privat- oder Studierzimmer zurückzieht.
Entwickle auf jeden Fall Interesse für das, was du liest. Konzentriere dich darauf. Wenn man sich das vorgenommen hat, findet man es natürlich nicht ratsam, sich in den bequemsten Stuhl zu setzen, den man finden kann, und im Hintergrund leise Musik spielen zu lassen. Alles in allem, du möchtest lesen, nicht schlafen. Ruhe, ein aufrechter Stuhl und das Buch oder die Zeitschrift auf dem Tisch, das wird wahrscheinlich viel besser sein. Kaiser Franz Joseph hatte, wie man sagt, in seinem Studierzimmer zwei Schreibtische. Er saß an einem von normaler Höhe; war er aber zu müde, um im Sitzen zu arbeiten, dann stellte er sich an einen hohen Stehschreibtisch. Das bedeutet nicht, daß du zwei Schreibtische brauchst. Dennoch sollte man, um sich zu konzentrieren, eine Stellung einnehmen, die dem Lesen und nicht dem Schlafen förderlich ist.
Augenbewegungen und Leseleistung
Wenn du den Eindruck hast, daß deine Lesefähigkeit verbessert werden sollte, gibt es einige Anregungen, die dir helfen können. Du könntest beispielsweise auf deine Augenbewegungen achtgeben. Beim Lesen bewegen sich die Augen nicht gleichmäßig über die Seite. Vielmehr halten sie des öfteren an, um sich auf eine Zeile zu richten. Darauf huschen sie zurück, zum Anfang der nächsten Zeile. Die Augen eines langsamen Lesers halten in einer Zeile oft an und erfassen dabei vielleicht jedesmal nur ein Wort oder lediglich eine Silbe. Offensichtlich sind die an sein Gehirn weitergeleiteten Meldungen zerstückelt.
Man kann schneller, mit größerer Auffassungskraft und mehr Freude lesen, wenn man die Augen in einer Zeile seltener anhält. Können wir das nicht etwas üben? Versuchen wir, Wendungen oder Wortgruppen zu lesen. Dann können wir feststellen, ob dadurch nicht die Lesefähigkeit und die Aufnahme der vom Schreiber ausgedrückten Gedanken verbessert wird.
Das „Zurückkehren“ verdient ebenfalls Aufmerksamkeit. Es handelt sich dabei um die schlechte Gewohnheit, Worte erneut zu lesen, statt die Augen zu zwingen, sich ständig weiterzubewegen. Das Zurückkehren verringert die Lesegeschwindigkeit, ermüdet die Augen und behindert die Auffassungskraft. Wenn man etwas ausgelassen hat, sollte man nicht zurückkehren. Es ist besser (und wird wahrscheinlich nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen), einen Artikel erneut zu lesen. Wenn man den Wunsch hat, seine Zeit zu nutzen, wird man das Zurückkehren einschränken.
Gelegentlich kehren die geschicktesten Leser zurück, weil ihnen ein Gedankengang des Schreibers entgangen ist oder weil die vom Gehirn aufgenommene Nachricht entstellt oder unrealistisch zu sein scheint.
Mitsprechen — gut oder schlecht?
Im allgemeinen möchte man nicht zurückkehren. Aber es gilt, noch etwas anderes zu vermeiden, wenn man versucht, rasch zu lesen. Manche Personen lesen, auch wenn sie für sich lesen, ziemlich langsam, weil sie mitsprechen. Entweder flüstern sie oder bewegen ihre Lippen, die Zunge, die Stimmbänder oder die Rachenmuskulatur, oder sie sagen wirklich jedes Wort vor sich hin. Andere geben nicht diese hörbaren Laute von sich oder machen keine solchen Bewegungen, dennoch sagen sie jedes Wort vor sich hin, indem sie die Wörter einzeln im Sinn „hören“. Man kann das Mitsprechen unterlassen und die Lesegeschwindigkeit erhöhen, wenn man sich beharrlich bemüht und Wortgruppen liest.
Allerdings ist es nicht immer verkehrt, beim persönlichen Lesen mitzusprechen. Josua, einem Führer des alten Israel, wurde der Befehl gegeben: „Dieses Buch des Gesetzes [Gottes] sollte nicht von deinem Munde weichen, und du sollst Tag und Nacht mit gedämpfter Stimme darin lesen, damit du darauf achtest, nach allem zu tun, was darin geschrieben steht; denn dann wirst du deinen Weg zum Erfolg machen, und dann wirst du weise handeln“ (Josua 1:8). Mit gedämpfter Stimme zu lesen bedeutet, sich die Worte leise vorzusagen. Dadurch prägt sich der gelesene Stoff dem Gedächtnis besser ein, denn man sieht und hört die Worte.
Wie steht es mit Schnellesekursen?
An dieser Stelle mag man sich fragen, ob man beim Studieren eines Buches rasch lesen sollte. Das ist eine persönliche Angelegenheit. Wahrscheinlich wird eine Lektüre dieser Art erfordern, daß man ein Zurückkehren und Mitsprechen vermeidet und mit einem Blick mehrere Wörter aufnimmt. Es erscheint auch empfehlenswert, die Augen nicht auf den Endungen langer Wörter ruhen zu lassen (wie zum Beispiel auf „-keit“ in „Bewegungsunfähigkeit“). Vielleicht hast du schon einmal gehört, daß Wörter wie „und“, „in“ und „sie“ für geschickte Leser kaum existieren. Solche Leser sehen einfach rasch vor und ermitteln unbewußt bestimmte Wörter und Wortendungen.
Beim lautlosen Lesen sollte man sich aber nicht von dem Gedanken der Lesegeschwindigkeit beherrschen lassen. Das ist nicht immer wichtig oder angebracht. Falls du dir vorgenommen hast, einen Abend damit zu verbringen, ein gutes Buch zu lesen, hast du vielleicht den Wunsch, dir Zeit zu lassen. Möglicherweise möchtest du mit dem Ziel studieren, dir bedeutende Punkte zu merken. Und man sollte nicht versuchen, alles mit Blitzesschnelle zu lesen. Einen Roman kann man rasch lesen; beschäftigt man sich jedoch gerade mit einem langatmig verfaßten Schriftstück, dann sind wahrscheinlich Konzentration und eine andere Geschwindigkeit erforderlich.
Denke beim Lesen selbständig mit
Auf jeden Fall sollte man im Auge behalten, daß das Lesen keine passive Beschäftigung ist. Der Schriftsteller W. Somerset Maugham, im Grunde genommen ein langsamer Leser, schrieb geringschätzig über Leute, die „mit ihren Augen und nicht mit ihrem Empfindungsvermögen lesen. Es ist eine mechanische Übung wie bei den Tibetanern, die ihre Gebetsmühle drehen.“
Denke beim Lesen selbständig mit. Untersuche die Aussagen des Autors, stimme ihnen zu, oder lehne sie ab. Frage dich: Was ist das Thema des Schreibers? Wie wird es durch diesen Absatz unterstützt? Wird von mir erwartet, daß ich mit dieser Information etwas anfange? Was sollte ich tun?
Nimm dir die Zeit, Pausen einzulegen und über den gelesenen Stoff nachzudenken. Gott hingegebene Christen machen das passenderweise beim Lesen der Bibel. Warum? Weil sie sich gern an die biblischen Berichte erinnern möchten. Es ist ihr Wunsch, den biblischen Rat in ihrem Leben anzuwenden. Und sie möchten in der Lage sein, ernsthaften Fragestellern Antwort zu geben. Ein von Gott inspirierter Spruch besagt: „Das Herz des Gerechten sinnt nach, um zu antworten“ (Spr. 15:28).
Stelle dir, wenn möglich, das Geschehen bildhaft vor. Male dir im Geist aus, wie das Land, die Straßen und die Leute aussehen. Nimm zur Kenntnis, wie die Männer und die Frauen gekleidet sind. Höre die Stimmen fröhlicher Kinder beim Spiel. Nimm den Geruch des Brotes wahr, das im Ofen backt. Erfülle die Szenen mit Leben. Dann wird das Lesen zum Abenteuer werden, denn du wirst in der Lage sein, eine altertümliche Stadt zu sehen, einen hohen Berg zu besteigen, die Wunder der Schöpfung zu bestaunen oder dich in die Gesellschaft von Männern zu begeben, die großen Glauben an Gott bekundeten. Wie wäre es mit dem Vorschlag, demnächst die Bibel aufzuschlagen und gleich anzufangen, das erste Buch, die Genesis, zu lesen? Du kannst dabei Zeuge von Gottes gewaltiger schöpferischer Tätigkeit werden und dich in die Gemeinschaft gottesfürchtiger Patriarchen der alten Zeit begeben.