Der Stromriese Zentralafrikas
Vom „Awake!“-Korrespondenten in der Republik Zaire
FAST lautlos schlängelt es sich durch die üppige tropische Pflanzenwelt. Die braune, leichtgewellte Oberfläche widerspiegelt die gleißenden Strahlen der afrikanischen Sonne. Nein, es ist kein Urwaldreptil, sondern ein Gewässer, der zweitlängste Strom des afrikanischen Kontinents und der sechstlängste Strom der Welt.
Diesen mächtigen Strom kennen viele unter dem Namen Kongo. Doch im Jahre 1971 beschloß die Regierung der Republik Zaire, daß der Kongo wieder den Namen Zaire tragen soll. Dieser mächtige Strom, der an seiner Mündung sechseinhalb Kilometer breit ist, führt in der Sekunde über 380 000 Hektoliter Wasser ins Meer. Er ist also keineswegs ein murmelndes Bächlein, sondern der wasserreichste der afrikanischen Ströme, und auf der ganzen Erde wird er nur vom Amazonas übertroffen.
Eine Fahrt auf dem Zaire
Wenn du dieses Naturwunder kennenlernen möchtest, dann begleite mich auf einer Fahrt flußaufwärts. Wir werden eine Strecke von über 4 800 Kilometern zurücklegen, und du wirst ein Gebiet kennenlernen, das die beiden bekannten Forscher des neunzehnten Jahrhunderts, David Livingstone und Henry Morton Stanley, begeisterte. Es ist wahrhaft ein Paradies für Forscher.
Bevor wir unsere Fahrt antreten, möchte ich dich darauf aufmerksam machen, wie stark in der Mündung die Strömung ist. Von einem Delta ist wenig zu sehen, aber der Strom hat eine über tausend Meter tiefe Schlucht in die Randschwelle des Kontinents gebrochen, und sein braunes Wasser ist in einem Umkreis von 160 Kilometern um die Mündung noch zu unterscheiden.
Die erste Etappe unserer Fahrt führt uns von der Zairemündung bis nach Matadi, einer etwa 130 Kilometer landeinwärts liegenden Hafenstadt. In Matadi müssen wir von Bord gehen, denn das Schiefergebirge bildet ein natürliches Hindernis für die Schiffahrt. Schäumend stürzen die Wasser in über dreißig Absätzen, die als Livingstonefälle bezeichnet werden, in die Tiefe. Auf einer Strecke von nur etwas mehr als 300 Kilometern — von der Hauptstadt Kinshasa bis zur Hafenstadt Matadi — fällt der Strom um über 200 Meter. Diese Energie wird jetzt zum Teil zum Antreiben der Turbinen eines Wasserkraftwerkes genutzt; diese Stromschnellen sind auch der Grund, warum man bis vor etwa hundert Jahren kaum etwas über den Oberlauf dieses Flusses wußte. Das Durchbruchtal zwischen Matadi und Kinshasa wird von einer Eisenbahn umgangen.
Kurz nach der ersten Stromschnelle erreichen wir Kinshasa, eine ziemlich moderne Stadt, die sich über eine sandige Anhöhe erstreckt. Auf der anderen Seite des breiten Stromes liegt die blühende Stadt Brazzaville, Hauptstadt der Republik Kongo, deren Grenze mehrere hundert Kilometer am Zaire entlang verläuft.
Fahrt auf dem Flußdampfer
Für die zweite Etappe unserer Reise müssen wir frühzeitig an der Anlegestelle sein, damit wir einen der Flußdampfer erreichen. Diese Schiffe befördern nicht nur Personen (Abteile erster bis dritter Klasse), sondern auch Güter jeder Art. Außerdem schleppen und schieben sie Lastkähne nach weit entfernten Bestimmungsorten. Güter, die eingeführt werden müssen, wie Erdölprodukte und Fertigwaren, werden flußaufwärts befördert. Auf der Talfahrt führen die Schiffe die Schätze des Zairebeckens mit: Kautschuk, Holz, Kaffee, Palmnüsse und landwirtschaftliche Erzeugnisse.
Das Schiff stößt ab und bewegt sich nun in gleichmäßiger Fahrt stromaufwärts, wobei es sich durch ein Gewirr von Tausenden Flußinseln, die mit Urwald bewachsen sind, hindurchwindet. Diese Inseln und die gefährliche Strömung stellen den tüchtigsten Kapitän und die erfahrenste Mannschaft auf eine schwere Probe. Über 2 700 Kilometer dieses Flusses können mit Frachtschiffen befahren werden; rechnet man aber seine Nebenflüsse dazu, dann erhöht sich diese Zahl auf über 12 000 Kilometer. Stellenweise ist der Zaire 16 bis 24 Kilometer breit.
Unberührte Wildnis
Was wir auf dieser Fahrt alles sehen! Wir merken, daß wir das, was wir Zivilisation nennen, allmählich hinter uns lassen. Nur die Städte Mbandaka und Kisangani, die am Fluß liegen, sowie ein paar andere aufstrebende Ortschaften an Stellen, wo der Urwald gerodet worden ist, erinnern uns daran, daß auch für dieses Land das zwanzigste Jahrhundert angebrochen ist. Doch sehr viel von der Landschaft ist noch unberührt geblieben.
„Mbote!“ „Jambo!“ Mit diesen Worten begrüßen uns die Eingeborenen, sobald wir einen Hafen anlaufen. Wenn unser Schiff an einem Dorf vorbeifährt, kommt jedesmal eine ganze Schar nackter Kinder an das Flußufer gelaufen. Sie lachen und schreien aufgeregt, so daß man ihre weißen Zähne blitzen sieht. Im Hintergrund erblicken wir mehrere Lehmhütten, die mit Palmblättern gedeckt sind, und bei jeder Hütte einen gepflegten Garten, in dem Mais, Maniok, Ananas und Bananen wachsen.
Siehst du da drüben den alten Mann in dem winzigen Boot stehen? Vielleicht überlegt er, wo er die größte Aussicht haben könnte, etwas zum Abendbrot zu fangen. Über uns fliegt ein Graupapageienpaar, an dem uns die leuchtendroten Schwanzfedern auffallen; beide Vögel stoßen scharfe, schrille Laute aus. Als wir um ein Flußknie biegen, gleitet ein Krokodil gerade lautlos ins Wasser auf der Jagd nach Beute.
Heute haben wir das Glück, mehrere Flußpferde zu sehen, die sich wohlig im Schlamm suhlen. Und in einiger Entfernung schwimmt ein solcher Dickhäuter, wobei seine Augen und Ohren wie kleine Inseln aus dem Wasser ragen. Wenn man ihm zuschaut und sieht, wie unbekümmert er sich bewegt, muß man unwillkürlich an das denken, was Jehova über dieses Tier zu Hiob sagte: „Wenn sich der Strom gewalttätig gebärdet, rennt er nicht in Panik davon.“ — Hiob 40:23.
In diesem großen Flußbecken am Äquator ist die Tierwelt in großem Artenreichtum vertreten. Und je weiter wir stromaufwärts fahren, desto üppiger wird die Pflanzenwelt, so daß selbst die grelle Mittagssonne das Blätterdach des Uferurwaldes nicht zu durchdringen vermag.
Flußhändler
Aber was ist das, was man da flußaufwärts sieht? Es könnten Boote der Lokele sein, eines der über zweihundert Stämme, die es in Zaire gibt. Dieses Volk lebt schon seit Jahrhunderten entweder in Booten auf dem Fluß oder in Hütten am Ufer. Die Lokele befahren den Zaire in ihren Einbäumen und verkaufen alle möglichen Lebensmittel und Waren an die Flußreisenden.
Einige machen ihr kleines Boot an dem Flußschiff fest, das schneller fährt als ihr Boot, um sich die Arbeit zu erleichtern. Betrachte dir einmal ein solches Boot genauer. Eigentlich ist es nur ein Baumstamm, der in stundenlanger mühseliger Arbeit ausgehöhlt worden ist. Die meisten werden mit Rudern vorwärts bewegt; doch neuerdings sind einige der größeren mit einem Außenbordmotor versehen und flitzen durch das braune Wasser wie ein Torpedo; dabei haben sie manchmal vierzig bis fünfzig Personen an Bord. Es sind regelrechte „Flußbusse“. In einem Land, in dem es wenige große Brücken gibt, gehört das Bootfahren zum Alltag vieler Menschen.
Die tosenden Stanleyfälle
Jetzt, da wir Kisangani unterhalb der Stanleyfälle erreichen, haben wir über 1 600 Kilometer mit dem Flußboot zurückgelegt, doch wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Flusses kennengelernt. Unser Boot fährt zurück, nachdem es wieder beladen worden ist, denn die sieben Stanleyfälle bilden ein unüberwindliches Hindernis für die Schiffahrt. Doch selbst an dieser Stelle, so weit flußaufwärts, stürzen etwa 170 000 Hektoliter Wasser pro Sekunde donnernd über die Felswände — also weit mehr als bei den Niagarafällen in Nordamerika.
Aber komm, ich möchte dir etwas zeigen, was du unbedingt gesehen haben mußt. Hier leben nämlich die Wagenia, ein Fischervolk, das mit Hilfe von Reusen Fische fängt. Diese mutigen Fischer errichten in den Felsspalten ein Gewirr von Stangen, an denen sie trichterförmige, an ihrer Öffnung fast zwei Meter breite Körbe aus Ruten und Lianen befestigen. Zweimal täglich fahren sie in ihren Booten zu den Reusen, um sie nach Fischen abzusuchen, die sich darin gefangen haben und von dem reißenden Strom festgehalten worden sind. Die Wagenia rudern furchtlos durch das schäumende Wasser, und während sie in die Gischt eintauchen, um die Fische einzusammeln, kann man das Spiel ihrer Muskeln unter der ebenholzfarbenen Haut sehen.
Weiter auf dem Oberlauf
Wir verlassen die Stanleyfälle und verfolgen den Strom weiter aufwärts, doch jetzt halten wir fast genau südlich. Der Strom beschreibt einen gewaltigen Bogen, anfänglich ist die Richtung nordöstlich, später wendet er sich nach Osten, schneidet den Äquator und biegt dann nach Süden.
Da zufolge seiner äquatorialen Lage die nördlichen und südlichen Zuflüsse aus Gegenden mit entgegengesetzten Jahreszeiten, also auch mit entgegengesetzten Regenzeiten, kommen, ist er im Gegensatz zu vielen anderen Flüssen durch eine regelmäßigere Wasserführung ausgezeichnet. Das Verhältnis der kleinsten zur größten Wassermenge ist 1 zu 3 (das bedeutet keine großen jahreszeitlichen Schwankungen) im Vergleich zu 1 zu 20 beim Mississippi in den Vereinigten Staaten und 1 zu 48 beim Nil.
Oberhalb der Stanleyfälle wird der Strom von den Einheimischen Lualaba genannt. Er durchströmt den Südosten Zaires und entspringt in der Nähe von Lubumbashi (früher Elisabethville). Andere Quellflüsse entspringen im nordöstlichen Sambia.
Stromriese Zentralafrikas! Das ist der mächtige Kongo, jetzt Zaire genannt, nach einem Land, das wirtschaftlich stark von diesem Strom abhängig ist. Er ist wahrlich ein ewiges Wunder und ein weiteres Zeugnis für die Weisheit und dynamische Kraft eines intelligenten Schöpfers.