Sie leben nördlich des Polarkreises — Und es gefällt ihnen dort!
„KOMM BALD WIEDER!“
Diese Worte, die am 20. November 1979 auf der Titelseite der norwegischen Tageszeitung Finnmarken erschienen, waren an die Sonne gerichtet.
Der Grund?
Nun, am Abend jenes Novembertages versank die Sonne hinter dem südlichen Horizont von Vadsø — wo die Zeitung herausgegeben wird — und sollte in dieser nordnorwegischen Stadt für die nächsten zwei Monate nicht mehr zu sehen sein. Und in den Städten und Dörfern weiter nördlich, wie zum Beispiel in Vardø, Baatsfjord, Berlevåg und Hammerfest (der nördlichsten Stadt der Welt), dauert die lange Winternacht sogar noch länger.
Wenn die Sonne in dieser Gegend nach ihrer langen Abwesenheit wiederkommt, gibt es ein großes Willkommen. In der Bergarbeiterstadt Kirkenes, nahe der sowjetischen Grenze, wandern Schulkinder auf einen Berg, nur um die Sonne zu sehen. Wenn in Vadsø die Sonne fünf Minuten lang durch einen bestimmten Einschnitt zwischen zwei Bergen scheint, bekommen die Kinder schulfrei — die Stadt feiert. Noch weiter nördlich, in Vardø, tragen die Kanonen der im 14. Jahrhundert erbauten Festung von Vardøhus mit einem donnernden Salut zu der Freude bei.
„Wir gehen in die richtige Richtung, auf den Sommer zu“, sagen die Leute — im Januar.
Wenn die Sonne nicht untergeht
Das Bild hat jedoch auch eine hellere Seite. Was in Vadsø beim Anblick der Sonne an einem kalten Wintertag im Januar so viel Freude auslöst, ist das Bewußtsein, daß bald lange, lange Tage dasein werden, nämlich von Ende März bis Mitte September, ja daß es eine Zeit geben wird, in der die Sonne überhaupt nicht untergeht — von Mitte Mai bis Ende Juli.
Das Leben der meisten Menschen, die in den mittleren Breiten der Erde leben, wird von dem unveränderlichen Rhythmus der auf und untergehenden Sonne bestimmt. Aber nördlich des nördlichen Polarkreises — und natürlich auch in der Antarktis auf der anderen Seite der Erde — wird dieser Rhythmus während des Jahres unterbrochen.
Da die Erdachse geneigt ist, ist der Nordpol sechs Monate lang nach der Sonne ausgerichtet, so daß dort ewiger Tag herrscht, während es gleichzeitig am Südpol ein halbes Jahr lang Nacht ist. Würdest du also das ganze Jahr über am Nordpol leben, so hättest du einen sechsmonatigen Tag, vom 21. März bis zum 23. September, und danach leider eine sechsmonatige Nacht mit eisiger Kälte und fürchterlichen Schneestürmen. Je weiter man vom Nordpol entfernt lebt, desto kürzer ist die Zeit der Mitternachtssonne. Am nördlichen Polarkreis, der rund 2 600 Kilometer vom Nordpol entfernt ist, gibt es einen Tag im Jahr, an dem die Sonne die ganze Nacht nicht untergeht, und im Winter einen Tag, an dem sie nicht aufgeht.
Was die Nacht erträglich macht
Nirgendwo auf der Erde leben so viele Menschen so nahe am Nordpol wie in Norwegen. Der Polarkreis verläuft so durch Norwegen, daß ein Drittel des Landes nördlich davon liegt. Tatsächlich liegt dieses Drittel in einer Zone, in der wir auch die eisigsten und abschreckendsten Gegenden Grönlands, Kanadas, Alaskas und Sibiriens finden.
Doch der warme Golfstrom, der die gesamte Westküste Norwegens entlangfließt, sorgt in Norwegen für ein gemäßigtes Klima, wie es nirgendwo anders in der Welt so weit nördlich zu finden ist. Die Küstenbezirke erfreuen sich milder Winter und kühler Sommer, und alle Häfen sind den Winter über eisfrei. Zahlreiche Meeresarme und Fjorde bohren sich in das Land entlang der 19 000 Kilometer langen Küste, der große und kleine Inseln vorgelagert sind.
Von den 4 000 000 Norwegern leben rund 10 Prozent nördlich des Polarkreises, und zwar in den drei nördlichen Provinzen: Nordland, Troms und Finnmark. Offenbar gefällt es Menschen schon sehr lange in diesen Gegenden, denn Spuren menschlicher Tätigkeit lassen erkennen, daß mutige Fischer und Jäger genauso früh hierherkamen, wie andere die südlichen Küsten des Landes besiedelt haben. Auch heute findet man noch kräftige Fischer und Jäger sowie Bauern, Bergarbeiter, Schiffsbauer, Seeleute und eine ganze Reihe Fabrikarbeiter nördlich des Polarkreises.
Geborene Optimisten?
Eine Dänin, die vor Jahren nach Norden zog, erzählte, der Nordnorweger sei ein geborener Optimist: „Während eines kalten und feuchten Sommers sagt er: ,Vielleicht wird dafür der Herbst schön.‘ Und wenn daraus nichts wird, sagt er: ,Zweifellos werden wir einen milden, schönen Winter haben.‘ Wenn er dann im Schnee versinkt und die Schneestürme toben, wagt er die Vermutung: ,Dieses Jahr wird der Frühling früh beginnen.‘ Und wenn der Frühling eintrifft mit Temperaturen unter Null und mit Schneefällen bis zur Mittsommernacht, dann tut er das mit den Worten ab: ,Wenn der Sommer so spät kommt, dann wird er auch warm und schön.‘“
Optimisten oder nicht, die Leute hier haben im allgemeinen ein fröhliches Gemüt. Scherze kommen ihnen leicht über die Lippen, und Probleme werden nicht übertrieben. Meistens sind sie offen, freundlich und freigebig. So erwiderte ein älterer Bürger von Vadsø auf die Frage, warum er das Leben im Norden liebe: „Wegen der Menschen — und der Natur. Den Ozean betrachten, in den Flüssen fischen, die steilen Hügel hinaufklettern oder über das Bergplateau wandern — all das gibt einem ein einmaliges Gefühl der Freiheit.“
Ein jüngerer Arbeiter aus einer Fischfabrik in Finnmark erklärte: „Das Fischen in den Seen des Bergplateaus ist unvergleichlich. Dort wirkt alles so frei und weit. Mit vielen Bäumen um mich herum würde ich mich ganz eingeengt fühlen.“
„Süß ist das Licht“
Ein Schrifttext, der Erforschern der Bibel hier oben aus dem Herzen spricht, ist Prediger 11:7: „Süß ist das Licht, und den Augen tut es wohl, die Sonne zu sehen“ (Herder). Die blendende Schönheit der Mitternachtssonne ist nicht nur etwas fürs Auge — sie trägt auch zur Gesundheit bei.
„Wenn die dunkle Jahreszeit herannaht, werden die Leute kommen und nach Schlaftabletten fragen“, erzählte uns Dr. Tore Ask aus Vadsø. „Viele leiden an Schlaflosigkeit. Sie werden nicht auf natürlichem Wege müde, da der Körper nicht die natürlichen äußeren Signale dafür erhält, daß es Zeit ist, schlafen zu gehen. Es ist die ganze Zeit dunkel — da fällt es morgens schrecklich schwer aufzustehen, und die Müdigkeit begleitet die Menschen den ganzen Tag über. Für viele ist das eine nervliche Belastung. Die helle Jahreszeit dagegen wirkt sich für die Menschen in vielerlei Hinsicht nützlich aus, und sie hilft ihnen auch, die Dunkelheit des Winters zu ertragen.“
Dr. Ask, der aus Südnorwegen stammt, sagte, das Land und das Licht habe ihn gleich gefesselt. „Ich fühlte mich durch die Sonne so angeregt, daß ich gar nicht den Drang verspürte, ins Bett zu gehen. Und so geht es jedem. Die Leute haben in den hektischen Sommerwochen so viel zu tun — im Garten, im Haus, am Auto oder am Boot —, daß sie bis lange nach Mitternacht im Sonnenschein arbeiten.“
Ein noch „süßeres“ Licht
Grethe (eine Dänin), ihr Mann Karl-Erik (ein Schwede) und das norwegische Ehepaar Aashild und Øivind haben festgestellt, daß die offenen, freundlichen und gastfreien Leute auch auf eine andere Art Licht günstig reagieren — auf die „süße“ Botschaft der Bibel über ein nahe bevorstehendes irdisches Paradies. Als Vollzeitverkündiger der Zeugen Jehovas sind sie im Januar 1975 in die Fischerstadt Baatsfjord gekommen. Eine Versammlung wurde gegründet, und fünf Jahre später zählte sie 25 eifrige Verkündiger der biblischen Wahrheit.
„Außer den 3 000 Einwohnern von Baatsfjord gehören zu unserem Gebiet auch Fischerdörfer, 25, 50 und 70 Kilometer entfernt von hier“, erzählt Aashild. „Im Winter sind die Straßen gesperrt, und wir nehmen dann den Küstendampfer. Wir fahren am Sonntagabend ab, verwenden den gesamten Montag darauf, in einem dieser Dörfer zu predigen und Bibelstudien durchzuführen, und kehren dann am Montagabend mit dem Dampfer wieder zurück.“
Über ihre Tätigkeit im Sommer erzählt sie: „Eine Gruppe von uns arbeitete in einem entfernten Bezirk mit einem kleinen Boot, um abgelegene Häuser zu erreichen. Die Sonne schien, und die Leute waren am Arbeiten, und so machten wir Besuche bis eine halbe Stunde nach Mitternacht.“
In Norwegen gibt es jetzt 29 Versammlungen der Zeugen Jehovas mit 570 Verkündigern nördlich des Polarkreises. Die Versammlung Baatsfjord ist die zweitnördlichste Versammlung der Zeugen Jehovas in der Welt nach der Versammlung Hammerfest in Westfinnmark. Insgesamt gibt es in Norwegen rund 7 000 Königreichsverkündiger.
Grethe und Karl-Erik, die aus Dänemark bzw. Schweden stammen, haben schon manchmal daran gedacht, die kahlen Berge von Finnmark zu verlassen und in eine wärmere Gegend zu ziehen. „Wir haben viele Gründe, nach Süden zu ziehen“, erklärten sie, „aber wenn wir dann überlegen, wo wir uns eigentlich niederlassen wollen, dann wird es ein wenig schwieriger. Und unausweichlich kommen wir dann auf einen Ort hier nördlich des Polarkreises. Hier haben wir das Gefühl, gebraucht zu werden. Wir haben weiten Raum, wir haben Freiheit und Frieden in einer schönen Umgebung, und es gibt eine Menge gastfreundlicher Menschen, die an der biblischen Wahrheit interessiert sind.
So werden wir uns weiterhin jedes Jahr nach einem frühen Frühling, einem warmen Sommer und einem kurzen, milden Winter sehnen.“
[Bild auf Seite 13]
Zweieinhalb Monate lang geht die Sonne nicht unter