Die Scheidung von Rabbinern und Laien im Judentum
ZWISCHEN denen, die beim Gottesdienst die Führung innehaben, und denen, die sich führen lassen, einen Unterschied zu machen ist nicht angebracht. Die Lehrenden sind keine Klasse für sich, die sich von den Lernenden unterscheidet. Diesen Gedanken betonte schon der große Lehrer Jesus Christus wiederholt. Er sagte zum Beispiel: „Ihr aber, laßt ihr euch nicht Rabbi nennen; denn e i n e r ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder. Laßt euch auch nicht Führer nennen; denn e i n e r ist euer Führer, der Christus.“ — Matth. 23:8, 10, Fußnote; Mark. 10:42-44.
◆ Daß diese Scheidung und Trennung von Geistlichen und Laien nicht gut ist, erkennen auch gewisse Führer des heutigen Judentums. So sagt zum Beispiel Jacob D. Schwarz in seinem Buch The Synagogue in Modern Jewish Life (Die Synagoge im heutigen jüdischen Leben) in diesem Zusammenhang über den jüdischen Gottesdienst:
◆ „Es hat in der Geschichte der Synagoge einmal eine Zeit gegeben, in der man von einer Scheidung von Laien und Rabbinern, wie wir sie heute kennen, nichts gewußt hat. Man machte keinen Unterschied in den religiösen Pflichten und Aufgaben. Die jüdische Tradition erhob den Führer nicht durch priesterliche oder geistliche Funktionen in einen anderen Rang. Der Führer unterschied sich durch zwei besondere Merkmale von den übrigen Gläubigen: durch Gelehrsamkeit und Frömmigkeit. Jeder Laie, der diese beiden Eigenschaften aufwies, konnte in den Rat der Synagoge aufgenommen werden und durfte auch viele Riten und Zeremonien durchführen. Es war ihm gestattet, nicht nur für sich selbst zu beten, sondern auch andere im Gebet zu leiten. Er leistete seinen Dienst in der Synagoge und Gemeinde freiwillig.“
◆ Der verstorbene H. Szold, ein namhafter Führer der konservativen Juden, vertrat einen ähnlichen Standpunkt, wenn er, wie berichtet wird, sagte: „Die jüdische Lehre besagt nicht — im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht —, daß wir keine Priester haben, sondern sie sagt, daß wir keine Laien haben. Wir sind ‚eine Nation von Priestern‘. Die Scheidung unseres Volkes in Laien und Priester ist, so paradox es auch erscheinen mag, die bedeutendste Auswirkung der antigeistigen Strömung [die sich darin zeigt, daß manche Juden gegen die Lehrvorträge ihrer Führer protestieren und verlangen, daß diese praktischer sein und mehr die alltäglichen Probleme berücksichtigen sollten]. Wir sind heute tatsächlich näher daran, eine Hierarchie zu erhalten, als je zuvor in unserer Geschichte, nicht etwa weil die Priester zu gelehrt waren, sondern weil die Laien zu unwissend sind.
◆ Wir können die gute alte Zeit nicht vorbehaltlos rühmen, denn viele unserer Krankheiten haben wir von ihr geerbt. Dennoch müssen wir zugeben, daß in der Vergangenheit die Bildung des jüdischen Volkes viel zur Gelehrsamkeit der Rabbiner beigetragen hat. Das Volk war intelligent und konnte daher intelligente Fragen stellen. Es unterschied sich von seinen Führern lediglich durch die Stellung, nicht durch die Art …
◆ Heute gähnt zwischen dem Volk und seinen Rabbinern, die man zu Pastoren gemacht hat, eine tiefe Kluft, und die Trennung ist da, ob die Rabbiner gelehrt seien oder nicht … Der heutige Jude verkauft sein Erstgeburtsrecht oder seine Persönlichkeit und Würde und bezahlt einen Menschen, der wie er auch nur Staub ist, dafür, daß er sich um sein Seelenheil kümmere und für ihn der Sündenbock sei. Man schafft also etwas Neues im Judentum. Nicht die Eignung für ein Amt verschafft Einfluß, sondern die Ordination, die durch die Wahl zum Rabbiner einer Gemeinde erfolgt ist — ein esoterisches, geheimnisvolles Etwas, oft auch ein esoterisches, geheimnisvolles Nichts. Die Gemeindeglieder führen mit Vorliebe die Ansichten ihrer Rabbiner an, wenn sie über Philosophie, Literatur, Politik oder über das Judentum sprechen. Die Worte ‚Doktor X sagt‘ klingen in meinen Ohren ebenso schlecht wie die Worte ‚mein Beichtvater sagt‘. Wenn wir unbedingt Pastoren haben wollen, dann müssen wir auch den unvermeidlichen Rückschritt … vom Lehrer zum Priester mit in Kauf nehmen. Das Verhängnis kann aber meiner Meinung nach aufgehalten werden, und zwar nicht dadurch, daß man oben beginnt, das heißt bei der Ausbildung der Rabbiner, sondern durch die Unterweisung des Volkes.“
◆ Auch S. Michael Gelber, ein jüdischer Dozent, äußerte sich mißbilligend über diese Tendenz. In einer Ansprache, die er Anfang 1961 am Theodor-Herzl-Institut in New York über das Thema „Ein Laie betrachtet den amerikanischen Rabbiner“ hielt, forderte er, daß die in der Synagoge bestehende Kluft zwischen Geistlichen und Laien unbedingt vermindert werden müsse, indem man den Gläubigen einen aktiveren Anteil am Gottesdienst gewähre.
◆ Diese Feststellungen stimmen nicht nur mit den Worten Jesu überein, sondern auch mit den Worten Moses’. Als Josua einmal hörte, daß zwei Männer der Gemeinde Israel weissagten oder prophezeiten, bat er Moses, er möge ihnen doch gebieten, damit aufzuhören. Was tat aber Moses? Er wehrte es ihnen nicht, sondern antwortete Josua: „Eiferst du für mich? Möchte doch das ganze Volk Jehovas Propheten sein.“ Dieser Wunsch Moses’ und die von Jesus bekanntgegebene Regel erfüllen sich bei den christlichen Zeugen Jehovas: sie sind eine Gesellschaft von Propheten, Predigern und Lehrern. — 4. Mose 11:26-30.