Hast du versucht, die Sache zu bereinigen?
„SIEHE! Wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder in Einheit beisammenwohnen! Es ist wie der Tau des Hermon, der herabfällt auf die Berge Zions“ (Ps. 133:1, 3). Es ist tatsächlich wohltuend, zu sehen, wie die Glieder einer Familie oder einer Christenversammlung in Liebe und Einheit beisammenwohnen und harmonisch zusammenarbeiten. Aufgrund unserer menschlichen Natur ist es jedoch nicht immer leicht, diesen Zustand aufrechtzuerhalten. Manchmal erfordert es echte Anstrengung.
Die folgende wahre Begebenheit mag dies veranschaulichen: Unter den Musikern, die regelmäßig zusammen in einem 10-Mann-Orchester spielten, befanden sich ein witziger Schotte, der die Bratsche spielte, und ein ernster Deutscher, der das Cello spielte. Aufgrund ihres unterschiedlichen Temperaments kam es verschiedentlich zu einem Streit, und allmählich baute sich eine Barriere zwischen den beiden auf. Offensichtlich fühlte sich der Bratschist von dem Cellisten auf die Füße getreten. Eine Zeitlang nahm der Cellist die Sache auf die leichte Schulter und sagte sich: „Schließlich sagte Jesus, wenn dich dein Bruder beleidigt, dann geh zu ihm. Wenn ich ihn also beleidigt habe, dann soll er zu mir kommen.“ Doch eines Tages las der Cellist in seiner Bibel und stieß auf die Worte Jesu: „Wenn du nun deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar und geh weg; schließe zuerst mit deinem Bruder Frieden; und dann ... bringe deine Gabe dar“ (Matth. 5:23, 24).
Diese Worte rüttelten den Cellisten auf. Jetzt konnte er es nicht mehr seinem Bruder, dem Bratschisten, überlassen, die Versöhnung herbeizuführen, sondern er selbst fühlte sich verpflichtet, den ersten Schritt zu tun. Sofort ging er zu seinem gekränkten Bruder hin. Und wobei traf er ihn an? Er schrieb gerade einen Beschwerdebrief an den Präsidenten ihrer Organisation und beschrieb darin seinen Ärger mit dem Cellisten. Die beiden sprachen sich offen aus und versöhnten sich, und sie waren danach immer gute Freunde. Wie froh war doch der Cellist, daß er an jenem Morgen auf den Schrifttext gestoßen war und sofort entsprechend gehandelt hatte!
UNSERE PFLICHT, UNSTIMMIGKEITEN ZU BEREINIGEN
Da wir alle unvollkommen sind, kommt es unweigerlich zu Unstimmigkeiten. In deinem Fall hast du vielleicht nicht jemand anders gekränkt, sondern jemand anders hat dich gekränkt. Die Frage ist nun: Was wirst du tun? Wirst du versuchen, die Sache zu bereinigen?
Hast du aufgehört, mit dem Betreffenden zu reden, oder behandelst du ihn kühl? Kannst du nachts nicht einschlafen, weil du darüber nachgrübelst, wie unfreundlich dein Mitmensch dich behandelt hat? Vielleicht fragst du dich, warum er nicht zu dir kommt und sich für das Unrecht entschuldigt, das er dir angetan hat. Wenn das der Fall ist, schadest du dir selbst wahrscheinlich mehr, als dir dein Mitmensch Schaden zugefügt hat. Vielleicht ist er sich gar nicht bewußt, daß er dich so sehr gekränkt hat. Ihm mag zwar klar sein, daß das, was er gesagt oder getan hat, nicht so freundlich war, wie es hätte sein sollen, aber möglicherweise ahnt er gar nicht, wie sehr du darunter leidest.
Weshalb solltest du dieses gespannte Verhältnis weiter bestehenlassen und dadurch deine Freude verlieren? Vergiß nicht: Für Gottes Diener ist ‘die Freude Jehovas ihre Feste’ (Neh. 8:10). Wenn du die Sache Gott im Gebet vorgetragen und versucht hast, zu vergeben und zu vergessen, aber merkst, daß du nicht vergessen kannst oder daß die Kränkungen weitergehen, dann mußt du zu deinem Bruder gehen und versuchen, die Sache zu bereinigen. Gottes Wort sagt, daß du die Initiative ergreifen mußt: „Geh zu ihm hin und rede mit ihm unter vier Augen darüber. Wenn er mit sich reden läßt, hast du ihn als Bruder zurückgewonnen“ (Matth. 18:15 bis 17, Die Gute Nachricht). Dies gilt zwar besonders für schwerwiegende Angelegenheiten, doch es ist auch ein allgemeingültiger Grundsatz, den Christen in geringfügigeren Situationen anwenden sollten.
WAS EINEM HILFT, DEN ERSTEN SCHRITT ZU TUN
Im wesentlichen ist es eine Sache des Gedankenaustauschs. Der Gedankenaustausch ist gestört, und nun besteht das Problem darin, ihn wiederherzustellen. Ist eine Kluft zwischen zwei Christen entstanden, so sollte jeder von beiden bereit sein, die Initiative zu ergreifen.
Es wird dir natürlich nicht leichtfallen, den ersten Schritt zu tun. Was wird dir dabei helfen? Eine Hilfe ist die Demut. Wieso die Demut? Weil uns in den meisten Fällen der Stolz davon abhält, eine gestörte Beziehung wiederherzustellen. Es erfordert Demut, zu dem Beleidiger zu gehen und ihm zu erklären, was er falsch gemacht hat und wie sehr er einem damit weh getan hat. So manche Wunde, die jemand seinem Freund oder seinem Ehepartner zugefügt hat, wurde nie geheilt, weil der Gekränkte zu stolz war, dies zur Sprache zu bringen.
Eine weitere Hilfe ist Einfühlungsvermögen — die Fähigkeit, sich in jemanden einzufühlen oder sich in seine Lage zu versetzen. Stell dir einmal vor, du wärst in der Lage des anderen. Nimm an, du hättest jemandem unrecht getan, wärst dir aber dessen gar nicht völlig bewußt. Würdest du nicht wünschen, daß der andere dich darauf aufmerksam macht?
Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: Du hast dir Geld geliehen, vielleicht nur 5 DM, weil du nicht genug Geld bei dir hattest. Doch dann hast du die Sache vergessen und das Geld nicht zurückgezahlt. Wäre es dir nicht recht, wenn dich der andere taktvoll an deine Schulden erinnerte? Natürlich! Jesus sagte, wenn wir jemandem unrecht täten, stünden wir gewissermaßen in seiner Schuld. Wenn dir also jemand unrecht getan hat, dann gestehe ihm zu, daß er sich seiner Schuld nicht bewußt ist, und sprich mit ihm, damit er die Sache in Ordnung bringen kann. Wahrscheinlich wird er froh sein, daß du zu ihm gekommen bist.
Vor allem wird dir die selbstlose, grundsatztreue Liebe helfen, den ersten Schritt zu tun, um Unstimmigkeiten zu beseitigen. Du möchtest doch bestimmt nicht, daß dein Bruder selbstsüchtig und sorglos wird und einen Weg einschlägt, der ihn selbst und auch andere in immer mehr Schwierigkeiten bringt (3. Mose 19:17). Wenn dir sein geistiges Wohl am Herzen liegt, dann wirst du dich bemühen, ihm nach Möglichkeit zu helfen. Wie der Apostel Paulus schrieb, ist die selbstlose Liebe langmütig, blickt nicht nach ihren eigenen Interessen aus, rechnet das Böse nicht an, freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sondern freut sich mit der Wahrheit. Sie erträgt, glaubt, hofft und erduldet alles, und sie versagt nie. Eine solche Liebe wird dich antreiben, zu versuchen, dich zu versöhnen (1. Kor. 13:4-8).
WIE MAN VORGEHEN KANN
Ob deine Bemühungen erfolgreich sein werden, hängt wahrscheinlich davon ab, wie du dabei vorgehst. Sehr wichtig ist, den anderen im Geiste der Liebe anzusprechen. Versuche nicht, ihm zu beweisen, daß er im Unrecht und du im Recht bist, sondern versuche, eine Versöhnung herbeizuführen, damit du, wie es die Bibel sagt, deinen Bruder zurückgewinnen kannst. Bleibe ruhig, und bewahre die Beherrschung. Und warte eine Zeit ab, in der deine Gefühle nicht aufgewühlt sind. Sonst bist du nämlich selbst daran schuld, wenn du auf eine negative, gefühlsgeladene Reaktion stößt. Ja, du mußt wirklich deine Gefühle in der Gewalt haben und ruhig bleiben.
Außerdem mußt du Takt anwenden. Der Prophet Nathan ist dafür ein gutes Beispiel. Er ging taktvoll vor, als er König David beibringen wollte, wie Jehova Gott über seine Sünde mit Bathseba dachte. Er gebrauchte eine Veranschaulichung, die David objektiv beurteilen konnte. Hätte Nathan David gleich ins Gesicht gesagt, wie verwerflich seine Sünde in Gottes Augen war, dann hätte David sich wahrscheinlich gerechtfertigt oder ihm gesagt, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, oder ihn sogar bedroht (2. Sam. 12:1-15).
Wir können auch etwas von Königin Esther lernen. Sie bereitete sich gut vor, bevor sie ihrem Mann, König Ahasverus, eine wichtige Bitte vortrug (Esth. 5:3-8; 7:1-10). Du bist zwar nicht in der gleichen Situation wie sie; es steht nicht dein Leben und das Leben deines ganzen Volkes auf dem Spiel. Doch der Grundsatz ist der gleiche. Wenn dir an dem Ausgang sehr gelegen ist — und das sollte der Fall sein —, dann achte darauf, daß du dein Anliegen so gefällig wie möglich vorträgst.
Eine weitere wahre Begebenheit mag dies veranschaulichen: Ein Dirigent hatte in seinem Orchester eine sehr talentierte und loyale Pianistin, doch sie war leider sehr empfindlich und leicht erregbar. Bei Kritik neigte sie dazu, zu „explodieren“. Wenn er ihr daher etwas vorzuschlagen oder konstruktive Kritik zu üben hatte, plauderte er mit ihr zunächst über verschiedene Dinge von gemeinsamen Interesse, und dann, wenn beide in freundlicher und ruhiger Stimmung waren, brachte er taktvoll das zur Sprache, worauf sie aufmerksam gemacht werden mußte.
Doch nehmen wir an, dein Bruder hört nicht auf dich. Was dann? Dann müßtest du entscheiden, inwieweit Grundsätze betroffen sind und inwieweit du mit ‘Liebe eine Menge von Sünden zudecken’ könntest. Handelt es sich tatsächlich um eine schwerwiegende Angelegenheit, so müßtest du die weiteren Richtlinien Jesu befolgen und zwei Zeugen mit dir nehmen. Doch in den meisten Fällen sollte das nicht nötig sein (Matth. 18:16; 1. Petr. 4:8).
Das alles gilt natürlich auch im umgekehrten Fall, wenn du Grund zu der Annahme hast, daß du jemand anders gekränkt hast, wie es bei dem Cellisten der Fall war. Tatsächlich wäre in diesem Fall der oben erwähnte Rat besonders treffend. Nimm an, jemand hat dir unrecht getan. Wärest du nicht erleichtert, wenn er zu dir käme und dir dadurch die Aufgabe abnähme, zu ihm zu gehen und die Sache mit ihm in Ordnung zu bringen?
In einem solchen Fall wird dir besonders ein empfindsames Gewissen eine Hilfe sein. Das bedeutet, daß du ein feines Empfinden für Recht und Unrecht haben mußt sowie den Wunsch, richtig zu handeln. Wenn wir jemandem unrecht getan haben, stehen wir in seiner Schuld, und wir sollten so ehrlich sein, unsere Schuld zu bezahlen, indem wir bestehende Unstimmigkeiten bereinigen (Matth. 6:12).
Doch vielleicht sind deine Bemühungen vergebens. „Ein gekränkter Bruder ist abweisender als eine feste Stadt“, lautet ein Spruch (Spr. 18:19, Luther). Da er deine Beweggründe falsch beurteilt hat, kannst du vielleicht nichts tun, um ihn umzustimmen. In diesem Fall hängt es von der Schwere seines Fehlverhaltens ab, ob du der Sache weiter nachgehen willst, z. B. mit der Hilfe eines Ältesten der Christenversammlung.
Wir sollten uns bestimmt bemühen, uns zu versöhnen, wenn zwischen uns und einem Mitchristen eine Verstimmung besteht. Haben Christen nicht genug damit zu tun, mit der bösen Welt, den Anschlägen des Teufels und ihrer eigenen ererbten Unvollkommenheit fertig zu werden, als daß wir noch miteinander streiten müßten? Wenn es Grund zur Klage gibt und sich die Situation trotz unserer Gebete und trotz unserer Bemühungen, zu vergeben und zu vergessen, nicht bessert, dann müssen wir etwas dagegen tun. Falls du jemanden gekränkt hast, wende Matthäus 5:23, 24 an. Hat jemand dir unrecht getan, und es ist eine schwere Verfehlung, wende Matthäus 18:15-17 an. Dann wirst du deinen Teil dazu beitragen, daß andere sehen können, wie lieblich es ist, wenn Brüder in Liebe, Frieden und Einheit beisammenwohnen. Außerdem beweist du dadurch, daß du ein Jünger Christi bist (Joh. 13:34, 35).