Der Lohn der Treue
Erzählt von EMLYN WYNES
MENSCHEN, die in dieser Welt eine Karriere verfolgen, wird reicher, funkelnder Lohn in Aussicht gestellt — Ruhm und Wohlstand zum Beispiel. Der Wert des Ruhmes kann an der Tatsache gemessen werden, daß heute nur noch wenige gebildete Menschen die berühmten Männer der Vergangenheit kennen. Und was den Wohlstand betrifft, von welchem Vorteil ist dieser, wenn er doch keine Garantie für Gesundheit und Glück bieten kann? Gesalbten Christen wird jedoch, wenn sie den Lauf der Treue bewahren, eine unverwelkliche Krone, „die Krone des Lebens“, in Aussicht gestellt. — Offb. 2:10.
Treue bewirkt noch mehr als das. Dem Menschen, der sie bewahrt, bringt sie Tag für Tag ihren Lohn, was ich bezeugen kann, wenn ich die sechsundvierzig Jahre überblicke, die ich als ergebener Sklave Jehovas, des wahren Gottes, tätig gewesen bin. Gewöhnlich sind vierzig Jahre eine lange Zeit, aber in meinem Fall sind diese sechsundvierzig Jahre sehr schnell vergangen, und sie haben in meinem Gedächtnis viele geschätzte Erinnerungen hinterlassen.
Ich wuchs in einem kleinen Dorf der englischen Grafschaft Monmouthshire auf. Dort hörte ich oft zu, wenn mein Bruder, der im Jahre 1918 Bibelforscher wurde, über die Bibel sprach. Außerdem hatte ich einen Onkel, der sich für die Publikationen der Watch Tower Society, zum Beispiel für das Buch Der göttliche Plan der Zeitalter, sehr interessierte. Meine Eltern, die bald darauf ebenfalls die genaue biblische Erkenntnis, die durch diese Publikationen vermittelt wurde, sehr schätzenlernten, waren sehr gastfreundlich, und viele Vollzeitvertreter der Gesellschaft fanden bei uns immer ein offenes Haus.
In der Zwischenzeit hatte ich regelmäßig die Gottesdienste der methodistischen Kirche besucht, und ich stellte fest, daß dort eine ganz andere Lehre verkündigt wurde als von den Bibelforschern, wie man Jehovas Zeugen damals nannte. Eine Gruppe innerhalb der methodistischen Kirche begann jedoch, die Glaubwürdigkeit einiger Teile der Bibel zu leugnen, und dies veranlaßte mich, nüchtern über die Dinge nachzudenken.
Ich erinnere mich noch daran, wie damals ein Mann den Bibelforschern eine Hütte auf einem kleinen Stück Land, das ihm gehörte, zur Verfügung stellte, damit sie sich dort versammeln konnten. Wir tünchten die Hütte, zementierten den Fußboden, statteten sie mit einem Tisch und einigen Stühlen aus — und der Versammlungsraum oder Königreichssaal, wie man heute sagen würde, war fertig. Was mich beeindruckte, war, daß ein reisender Vertreter der Gesellschaft in dieser kleinen Hütte einen biblischen Vortrag hielt. Im Jahre 1921 baute eben diese Gruppe ihren eigenen schönen Königreichssaal, der heute noch dort steht. Und ich freue mich darüber, daß ich damals einen kleinen Anteil an den Bauarbeiten hatte — es war eines der ersten Versammlungsgebäude der Zeugen Jehovas in diesem Land.
Über die von Baptisten angezettelte fanatische religiöse Verfolgung waren viele meiner Verwandten so aufgebracht, daß sie begannen, sich mit der Zielscheibe der Verfolgungen, mit Jehovas Zeugen, zu verbinden, und sie sind bis zum heutigen Tag treu geblieben. Auch ich war tief betroffen. Eines Abends nun, als ich vom Billardspielen kam, erinnerte ich mich daran, daß die Zeugen gerade am anderen Ende der Straße eine Zusammenkunft hatten. Wie überrascht waren sie doch, als ich mich ihnen anschloß. Dort saßen sie rund um einen Tisch versammelt, in die Besprechung biblischer Themen vertieft, die damals weit über mein Auffassungsvermögen hinausgingen. Aber ich erkannte, daß sie aufrichtig und davon überzeugt waren, auf dem rechten Weg zu sein.
Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich begann die Bibel ernsthaft zu studieren und zu den Zusammenkünften der Zeugen zu gehen. Schließlich war ich so fest davon überzeugt, daß Gott diese kleine Gruppe segnete und leitete, daß ich mich auf Gedeih und Verderb mit diesen Menschen verband und mein Leben Jehova hingab, wie sie es getan hatten. Im Jahre 1922 nahm ich den Predigtdienst von Haus zu Haus auf, und wie ermutigt war ich doch, als ich an jenem Tag schon bei meinem ersten Besuch ein Exemplar des Buches Die Harfe Gottes abgab!
TREUE FÜHRT ZUM VOLLZEITDIENST
Im Jahre 1932 heiratete ich, und seitdem ist Doris mein geschätzter Partner im Predigtdienst. Sie ist auch schon seit vierzig Jahren aktiv. Von Anfang an waren wir entschlossen, unser Heim für alle offenzuhalten, die dem Dienste Jehovas hingegeben sind. Bei einer Gelegenheit waren dreizehn Vollzeitdiener bei uns untergebracht, als in Bristol ein Sonderfeldzug durchgeführt wurde. Natürlich begannen auch wir, meine Frau und ich, ernsthaft über den Vollzeitdienst nachzudenken.
Zuvor gab es jedoch vieles zu erledigen. Wir mußten unser Haus verkaufen, und ich mußte meine Arbeit aufgeben. Meine Arbeitgeber sagten, ich sei verrückt, wenn ich so etwas mache, und das besonders, als ich mein letztes Entlassungsgesuch einreichte, noch bevor mein Haus verkauft war. Ich bekam Angebote für eine bessere Stellung, aber wir blieben bei unserem Entschluß. Bald darauf verkauften wir das Haus, und wir begaben uns nach Manchester, in den Norden Englands, in unsere erste Gebietszuteilung. Das war im Jahre 1938.
Schon kurz darauf wurde ich zum Aufseher einer der Ortsversammlungen ernannt und gleichzeitig zum „Stadtdiener“, das heißt zum Vertreter der Gesellschaft für die ganze Stadt. Die Gesellschaft eröffnete dann eine Reihe von Heimen für die zahlreichen Vollzeitdiener, die in diesem Gebiet tätig waren, und es gehörte zu meinem Aufgabenbereich, diese zu beaufsichtigen. Es gab viel zu tun, aber es war auch eine glückliche Zeit. Der Krieg tobte, aber keiner unserer Mitzeugen erlitt einen ernsthaften Verlust, obwohl deutsche Bomben in der Nachbarschaft niedergingen.
Dann wurden wir auch aufgrund von falschen Gerüchten, in denen man uns als „eine gefährliche Fünfte Kolonne“ bezeichnete, oft beschattet und auf den Straßen von Detektiven angesprochen. Eines der „Pionier“-Heime wurde sogar um ein Uhr nachts von oben bis unten durchsucht, aber man fand natürlich keine Anhaltspunkte dafür, daß wir uns irgendeiner subversiven Tätigkeit schuldig gemacht hätten. Man fand nur Bibeln und biblische Literatur.
DURCH DEN DRUCK DES KRIEGES NICHT ENTMUTIGT
Während des Krieges arteten die gegen die Zeugen gehegten Vorurteile, die durch die Geistlichkeit der Christenheit ausgenutzt wurden, oft in gewalttätige Opposition aus. Während einer von uns organisierten Zusammenkunft, bei der Schallplattenvorträge des ehemaligen Präsidenten der Watch Tower Society, J. F. Rutherford, abgespielt wurden, wurde eine katholische Frau aus dem Saal verwiesen, weil sie die Ruhe gestört hatte. Bald darauf kehrte sie mit einer Meute von Freunden und einem Stadtrat zurück. Wir riefen die Polizei zu Hilfe, und trotz der Drohungen des Stadtrats wurde der Pöbelhaufen zerstreut. Später jedoch, als wir das Versammlungsgebäude verließen, versuchte man, unseren Bus umzuwerfen. Die Gesellschaft ließ daraufhin Tausende von Flugblättern drucken und in diesem Gebiet überall verbreiten. Sie stellte darin die ungesetzlichen Handlungen dieses Stadtrats bloß. Kurz darauf erfuhren wir, daß dieser Mann einem Herzschlag erlegen war.
Dann hatte ich auch oft das Vorrecht, Zeugen zu besuchen, die wegen ihrer neutralen Haltung eingesperrt worden waren. In einigen Gefängnissen hielten wir sogar die jährliche Feier des Abendmahls des Herrn ab, obwohl dies einige Gefängnisdirektoren zu verhindern suchten. In einem Fall gab ein unwilliger Gefängnisdirektor seine Zustimmung erst in letzter Minute — und das erst auf ein Telegramm der Watch Tower Society hin, in dem sie ihn darauf aufmerksam machte, daß sein diskriminierendes Vorgehen eine offizielle Anfrage an das Innenministerium auslösen könnte.
Jehovas Schutz war oft deutlich zu verspüren. Ich erinnere mich noch an einen Kongreß, bei dem Tausende anwesend waren. Nach Kongreßschluß — wir hatten das Versammlungsgebäude kaum verlassen — fiel eine Bombe durch das Dach und zerstörte die gesamte Einrichtung. Auch ein Hotel, in dem viele Zeugen untergebracht waren, wurde von einer Bombe getroffen, aber nicht ein einziger Zeuge wurde verletzt! Wahrlich, „der Engel Jehovas lagert sich um die her, welche ihn fürchten“. — Ps. 34:7.
In jenen Tagen kam es auch häufig zu Gerichtsfällen, und ich wurde oft gebeten, Mitzeugen zu verteidigen, die beschuldigt worden waren, die Mobilisierungsgesetze übertreten zu haben. In einem Fall stellte ein jähzorniger Richter fortgesetzt unerhebliche Fragen über mein Einkommen und den Bilanzbogen der Gesellschaft. Als ich darauf hinwies, daß ich nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge vor Gericht sei und solche Fragen nicht zu beantworten brauchte, ließ er mich hinauswerfen. Jedoch schon am darauffolgenden Tag gelang es mir auf den Rat der Gesellschaft hin, diesen Richter zu sprechen und den Fall unserer Mitzeugen darzulegen, obwohl er immer noch Gift und Galle spuckte. Diesesmal wurde ich jedoch auf etwas zivilere Weise aus seiner Gegenwart entlassen.
Schließlich war ich selbst an der Reihe; ich kam vor Gericht. Das Urteil eines ehrlichen Richters klingt mir heute noch in den Ohren: „Dieser Mann hat dieses Gericht günstig beeindruckt; wir sind davon überzeugt, daß er sich den Zeugen nicht aus irgendeinem unlauteren Beweggrund angeschlossen hat; wir sind davon überzeugt, daß sein Gewissen vergewaltigt würde, würde er aufgefordert, sich irgendwie am Militärdienst zu beteiligen. Er erfüllt in vollem Umfang seine Pflichten als Staatsbürger, deshalb ist es nicht erforderlich, ihm irgendwelche Auflagen zu machen. Sein Dienst für Jehova ist uneingeschränkt.“
DER TÄGLICHE LOHN DER TREUE
Es ist für mich eine Quelle beständiger Freude gewesen, so viele Jahre ohne Unterbrechung als reisender Vertreter der Gesellschaft tätig sein zu können, Versammlungen zu besuchen und mit Zeugen in allen Teilen Großbritanniens zusammenzuarbeiten. Zu beobachten, wie die Organisation in Großbritannien von 2 000 Zeugen auf über 54 000 Zeugen anwuchs, ist glaubensstärkend gewesen. Anfangs reisten wir in einem Kreis von 26 Versammlungen, wobei wir einen Weg von etwa 500 Kilometern zurücklegten. Nun gibt es so viele Versammlungen und so viele Kreise, daß man bei weitem nicht mehr so weit reisen müßte, wollte man dieselbe Anzahl von Versammlungen besuchen.
Kongresse sind schon immer ein wunderbarer Segen gewesen, besonders für diejenigen, die an das großartige Vorhaben Jehovas glauben. Die erste große Zusammenkunft, die ich im Jahre 1926 im Alexandra-Palast in London besuchte, werde ich nie vergessen. Ich erinnere mich immer noch daran, wie still die gewaltige Zuhörerschaft in der Royal Albert Hall war, während sie der aufrüttelnden Ansprache des damaligen Präsidenten der Watch Tower Society, J. F. Rutherford, lauschte, mit dem Thema „Warum wanken die Weltmächte?“ Und was für ein Vorrecht war es doch, unter den Hunderten zu sein, die auf der Straße eine bei dieser Gelegenheit freigegebene Broschüre, Das Panier für das Volk, verteilten.
Dann war im Jahre 1937 der denkwürdige Kongreß in Paris. Ein Redner sagte damals: „Unter den Zuhörern befinden sich Gestapo-Leute, und einige von euch Brüdern werden verhaftet werden, noch bevor ihr vom Kongreß abreist.“ In Erkenntnis dieser drohenden Gefahr sangen die Brüder das Schlußlied „Gott mit dir, bis wir uns wiedersehn“ mit tiefer innerer Bewegung. Welch ein ergreifender Anblick! Die Furchtlosigkeit der Versammelten war ein echter Ansporn zur Treue.
Ein weiterer freudiger Kongreß fand im Jahre 1941 in Leicester (England) statt, und das trotz der durch den Krieg bedingten Beschränkungen, trotz Nahrungsmittelrationierung und starker fanatischer Opposition. Der Vortrag „Kinder des Königs“, der von dem in St. Louis (Missouri) stattfindenden Kongreß übertragen wurde, wurde von den Zuhörern mit Aufmerksamkeit verfolgt, und Hunderten von Jugendlichen, die in einer langen Reihe auf die Bühne kamen, wurde das Buch Kinder ausgehändigt. Viele dieser Kinder, die nun erwachsen sind, dienen heute im ganzen Land als verantwortungsbewußte Diener.
Unser Glaube an die Macht Jehovas, sein Volk zu beschützen und zu führen, wurde besonders auf dem Kongreß in Nürnberg durch unser Zusammensein mit den Zeugen gestärkt, die gerade den Schrecken der Konzentrationslager Hitlers entronnen waren. Einzigartig gesegnet wurden auch diejenigen, die das Vorrecht hatten, im Jahre 1950 den Ozean zu überqueren und den großen Kongreß im New Yorker Yankee-Stadion zu besuchen. Dort hörten wir zum ersten Male, daß die voraussichtlichen neuzeitlichen Fürsten, die unter dem himmlischen Königreich Jesu Christi Herrschermacht über die Erde ausüben werden, bereits unter uns sind. — Ps. 45:16.
Ein zusätzliches Vorrecht war der Besuch des Kongresses in der Stadt New York im Jahre 1958. Alle diese Kongresse erzeugten in uns ein hohes Maß an Wertschätzung für die Organisation Gottes. Es war begeisternd, all diese Jahre zu erleben, einen tieferen Einblick in die Art und Weise zu erlangen, wie Jehova mit seinem Volk verfährt, zu beobachten, wie Schritt für Schritt die Grundsätze des Königreiches wirksam wurden und Jehovas Zeugen weltweit zu einer Einheit und in einen Friedenszustand gebracht wurden, die von keiner anderen menschlichen Organisation erreicht werden.
Selbst als ich eine Zeitlang im Krankenhaus war, war ich glücklich darüber, daß ich an der weltweiten Verbreitung biblischer Erkenntnis einen Anteil haben konnte. Ich verwendete viele Stunden darauf, Ärzten, Krankenschwestern, Studenten und Patienten, ja sogar Besuchern Zeugnis zu geben. Der beruhigende Einfluß der Königreichsbotschaft war auffallend. Ein Arzt, der die Patienten auf unserer Station besuchte, sagte beim Eintreten: „Was ist geschehen? Dies ist die angenehmste und glücklichste Station im ganzen Krankenhaus!“
In dieser Zeit wurde mir ein weiterer Lohn der Treue, den ich hier erwähnen muß, zuteil. Aus dem ganzen Land gingen Hunderte von Briefen und Karten ein, die mich daran erinnerten, daß man mich nicht vergessen hatte — schon das war für diejenigen, mit denen ich im Krankenhaus zusammen war, ein gewaltiges Zeugnis. Und als das Ende meines Krankenhausaufenthaltes herbeigekommen war, erreichten mich Dutzende freundlicher Einladungen zu einem Erholungsaufenthalt. Ich erlebte, wie sich das erfüllte, was Jesus verheißen hatte, wie es in Lukas 18:29, 30 niedergeschrieben ist.
IN TREUE IN DIE ZUKUNFT BLICKEND
Wenn die Zeit kommt, in der ich in diesem Zweig des Königreichswerkes — in dem ich meinen Mitzeugen diente und den ich so sehr schätze — nicht mehr tätig sein kann, werde ich dies sehr bedauern. Ich weiß jedoch, daß Jehova für jeden, für jung und alt, für Starke und Schwache, Dienstvorrechte in Bereitschaft hält, und es ist mein Wunsch, die Tage, die mir hier auf der Erde noch verbleiben, mit einer Tätigkeit auszufüllen, die auf irgendeine Weise Jehova, dem treuen Gott, Ehre bereitet.
Wenn ich auf den Weg zurückblicke, den ich gegangen bin, kann ich sagen: Alles, was ich getan habe, konnte ich nur in der Kraft und im Glauben tun, den Gott durch sein Wort gibt, durch seinen Geist und seine Organisation. Die Herzlichkeit und Aufmerksamkeit derer, die mit mir zusammengearbeitet haben, waren mir eine große Hilfe. Auch meine liebe Frau war an meiner Seite ein starker Pfeiler, der mich bei der Erfüllung meiner Verantwortlichkeiten stützte.
Ich fürchte mich nicht vor der Zukunft. Jehova hat mich in der Vergangenheit gestärkt, und ich bin sicher, daß er mir auch weiterhin unverdiente Güte erweisen wird, so daß ich weder körperlich noch geistig jemals Mangel leiden werde. Mein Herz fließt über aus Wertschätzung für seine unbeschreibliche freie Gabe. Ich blicke erwartungsvoll dem letzten Lohn für Treue entgegen: ewigem Leben im Lichte der Gunst Jehovas.