Athen — „Stadt vieler Götter“
ZEUS, Hera, Artemis, Apollo, Ares — wahrscheinlich hast du zumindest schon einen der Namen dieser Götter oder Göttinnen gehört. In Athen, „der Stadt vieler Götter“, sind Überreste ihrer Statuen zu finden. Die wohl bekannteste aller griechischen Gottheiten war Athene, die sogenannte Göttin der Weisheit. Ihr verdankt Athen seinen Namen, und ihr Tempel, der Parthenon, ist eines der bemerkenswertesten Wahrzeichen der Stadt.
Beim Anblick der zahlreichen Überreste in Stein gehauener Götter, die überall in Athen zu sehen sind, kommen einem Besucher dieser geschäftigen Metropole von fast 2,5 Millionen Einwohnern die Worte in den Sinn, die der christliche Apostel Paulus hier sprach. Nachdem er durch die Straßen der Stadt gegangen war, erklärte er: „Ich sehe, daß ihr in allen Dingen mehr als andere der Furcht vor Gottheiten hingegeben zu sein scheint“ (Apg. 17:22).
EIN GESAMTÜBERBLICK
Verschaffen wir uns also einen Gesamtüberblick über Athen. Mit dem Taxi fahren wir eine sehr schmale steile Straße zum Ausgangspunkt einer Seilbahn hinauf. Wenige Minuten später kommen wir auf dem Lykabettos an, einem steil abfallenden, kegelförmigen Berg, der eine wundervolle Aussicht auf die Stadt bietet. Nach der Überlieferung soll die St.-Georgs-Kapelle auf der Bergkuppe an der Stelle errichtet worden sein, wo einst ein Altar des Zeus stand. Vor einem Restaurant nehmen wir einige Erfrischungen ein und erfreuen uns an der Aussicht.
Es wird Abend. Die Hitze, die am Tag über der Stadt brütete, läßt allmählich nach. Im Südwesten sehen wir Piräus, das mit Athen durch eine Reihe von Vororten verbunden ist, die sich über Kilometer hinziehen. Über diese wichtigste Hafen- und Industriestadt Griechenlands gelangen die Reichtümer des Landes wie Oliven, Weintrauben und andere Früchte in viele Teile der Welt. Von unserem hohen Aussichtspunkt aus stellen wir fest, daß Athen von Bergen umgeben und von Denkmälern, Museen und Kirchen angefüllt ist.
Bei Einbruch der Dunkelheit wird unsere Aufmerksamkeit plötzlich gefesselt: Auf der anderen Seite des Tals, in dem Athen liegt, gehen 1 500 Scheinwerfer an, die die Akropolis in Flutlicht tauchen. In der Tat ein atemberaubender Anblick.
VON DER AGORA ZUM AREOPAG
Ein Besuch der Akropolis ist am folgenden Tag ein Muß. Wir parken unseren Wagen in einer der überfüllten Straßen in der Nähe der Akropolis und gehen zu Fuß weiter. Links unterhalb der Akropolis sehen wir die Überreste der Agora oder des alten Marktplatzes. An diesem Ort wurden einst nicht nur Geschäfte abgewickelt, sondern auch öffentliche Angelegenheiten debattiert und entschieden. Die Agora war wirklich ein Zentrum des öffentlichen Lebens. Deshalb hielt sich der Apostel Paulus öfter hier auf, als er etwa im Jahre 50 u. Z. auf seiner zweiten Missionsreise Athen besuchte. Er ‘war jeden Tag auf dem Marktplatz’ (der Agora) und traf irgendwelche Leute an, „die gerade da waren“. Wie wißbegierig sie waren, geht aus den Worten hervor: „In der Tat, alle Athener und die dort zugezogenen Ausländer verbrachten ihre Mußezeit mit nichts anderem als nur damit, etwas Neues zu erzählen oder anzuhören“ (Apg. 17:17, 21).
Paulus selbst befand sich bald in einer Unterhaltung mit gewissen epikureischen und stoischen Philosophen, und es dauerte nicht lange, „da ergriffen sie ihn und führten ihn zum Areopag und sagten: ,Können wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du redest?‘“ (Apg. 17:18, 19). Die Agora ist heute ein interessanter Platz im Zentrum Athens, ein Ort, an dem man ein Picknick macht und wohin Maler vor den mit Kameras bewaffneten Touristen fliehen, die die Akropolis überfluten.
Während wir uns von der heutigen Szenerie gefangennehmen lassen, wollen wir nicht vergessen, daß sich Paulus damals in einer äußerst gefährlichen Lage befand. Er wurde verdächtigt, ein „Verkündiger ausländischer Gottheiten“ zu sein, während das Gesetz verbot, eigene oder neue Götter zu haben oder fremde Götter zu verehren, außer wenn sie offiziell zugelassen waren. Kein Wunder also, daß man den Apostel ergriff und ihn zum Verhör auf den Areopag brachte! Der biblische Bericht über den Areopag veranlaßt uns jedenfalls, uns auf die Suche nach dem Hügel mit diesem Namen zu machen.
Wir finden den richtigen Weg, und schon bald stehen wir am Fuße des Areopags oder Marshügels, nordwestlich der Akropolis. Es ist ein erregender Augenblick. Vielleicht stehen wir an derselben Stelle, wo Paulus einst stand und das denkwürdige Zeugnis ablegte, das in Apostelgeschichte 17:22-31 zu finden ist. Auf der einen Seite des kleinen Hügels entdecken wir eine Bronzetafel mit der berühmten Ansprache des Paulus. Nun ist es Zeit, unsere Bibeln aufzuschlagen und das an unserem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen, was sich hier vor 1 900 Jahren zutrug.
DIE DAMALIGE PREDIGTTÄTIGKEIT IN ATHEN TRUG FRÜCHTE
Das vorzügliche Zeugnis des Paulus vor den gebildeten Athenern ist ein nachahmenswertes Beispiel des Takts und des Unterscheidungsvermögens. Gleichzeitig argumentierte Paulus gesetzmäßig und wies auf passende Weise die Anschuldigung zurück, eine neue Gottheit einzuführen. Er zeigte, daß er den Schöpfer des Himmels und der Erde verkündigte, der nicht in von Menschen errichteten Tempeln wohnt. Taktvoll wies der Apostel seine Zuhörer darauf hin, daß er ihnen den „unbekannten Gott“ verkündigte, dem sie selbst einen Altar gebaut hatten und dem sie als Gott unwissentlich ergeben waren. Er brachte ihnen diesen „unbekannten Gott“ näher, indem er aus den Werken des Aratos, eines aus Zilizien gebürtigen Dichters, und aus dem Zeushymnus von Kleanthes zitierte. So konnte Paulus den Athenern zeigen, daß einige ihrer eigenen Dichter gesagt hatten: „Wir sind auch sein Geschlecht“, und daher verdanken alle Menschen ihm ihr Dasein.
Paulus zeigte weiter, daß Gott die bewohnte Erde in Gerechtigkeit richten wird durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat. Und als eine Gewähr dafür hat Gott ihn von den Toten auferweckt. An dieser Stelle wurde Paulus in seiner Rede unterbrochen, denn „als sie nun von einer Auferstehung der Toten hörten, begannen einige zu spotten, während andere sagten: ,Wir wollen dich hierüber noch ein andermal hören.‘“ Was geschah dann?
Paulus ging aus ihrer Mitte hinweg, doch seine meisterhafte Argumentation hatte nicht nur diese zwei unterschiedlichen Reaktionen ausgelöst. Es gab auch noch eine dritte Gruppe. So „schlossen sich ihm einige Männer an und wurden gläubig, unter ihnen auch Dionysius, ein Richter des Areopag-Gerichts, und eine Frau mit Namen Damaris und andere außer ihnen“ (Apg. 17:32 bis 34). Das frühe Christentum wuchs also in der „Stadt vieler Götter“.
ERINNERUNGEN AUS DER GESCHICHTE DER STADT
Unweit des Areopags erhebt sich die Akropolis. Wir steigen die eindrucksvollen Marmorstufen der Propyläen (Eingang), des prächtigen Aufstiegs zum Parthenon, jener Krone der Akropolis, empor. Zu unserer Rechten steht der Tempel der flügellosen Siegesgöttin (Nike), doch diese Göttin ist daraus verschwunden. Wir durchschreiten die imposanten Säulenhallen der Propyläen, die zwar teilweise verfallen sind, doch immer noch eine eindrucksvolle Vorstellung von diesem einst überwältigenden Bauwerk vermitteln. Am oberen Ende der Treppe angelangt, blicken wir auf die gewaltigen Überreste des Parthenons. Wann wurde er errichtet, und was war der Anlaß dazu?
Der Ursprung Athens ist in den Schleier der Vergangenheit gehüllt, obgleich die Archäologie etwas Licht auf die Frühgeschichte der Stadt wirft. Im 7. Jahrhundert v. u. Z. herrschten in der Stadt die Eupatriden, Adelsgeschlechter, die politische Macht ausübten und den Areopag, das wichtigste Gericht der damaligen Zeit, beherrschten. Im darauffolgenden Jahrhundert legte Solon, ein Gesetzgeber, die Grundlage für eine Demokratie. So wurde Athen Mittelpunkt des ersten Staates mit einer demokratischen Regierungsform.
Der Aufstieg des Medo-Persischen Reiches stellte eine ernste Bedrohung Griechenlands dar, und wie der Prophet Daniel vorausgesagt hatte, würde der vierte König Persiens „alles gegen das Königreich Griechenland in Bewegung bringen“ (Dan. 11:2). Der Krieg wogte hin und her, bis schließlich der „vierte König“, Xerxes von Persien, sein ganzes Reich ‘in Bewegung brachte’ und im Jahre 480 v. u. Z. in Griechenland einfiel. Er stieß bis Athen vor und brannte die Festung auf der Akropolis nieder. Doch die Athener vernichteten die persische Flotte bei Salamis und zwangen die Perser zum Rückzug. Athen übernahm dank seiner starken Flotte die führende Stellung in Griechenland.
Das goldene Zeitalter Athens brach an. In dieser Zeit großer Wohlfahrt wurde die Stadt unter ihrem genialen Führer Perikles zum kulturellen Mittelpunkt der alten Welt. Athen entwickelte sich zu einem Bildungszentrum, in dem es von Lehrern und Philosophen wimmelte, wie Sokrates, Platon und Aristoteles. Vier Philosophenschulen ließen sich hier nieder: die Platonische Akademie, der Peripatos, die Schule des Epikur und die Stoa (Apg. 17:18, 19). In jener Zeit wurden auch viele Tempel und andere herrliche Gebäude errichtet, darunter der Parthenon, das wichtigste Denkmal altheidnischer Religion.
BIBEL KONTRA PHILOSOPHIE
Zur Zeit Jesu und seiner Apostel war Athen aufgrund seiner Philosophenschulen immer noch von Bedeutung. Von ihrer Wiege in Griechenland wurde die Philosophie in andere Teile der Welt getragen. Paulus mußte sogar die Christenversammlung in Kolossä (Kleinasien) mit den Worten warnen: „Seht zu, daß nicht jemand da sei, der euch als Beute wegführe durch die Philosophie und leeren Trug gemäß der Überlieferung der Menschen ... und nicht gemäß Christus.“ Der Apostel predigte Christus und erklärte: „In ihm sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis sorgsam verborgen“ (Kol. 2:3, 8).
In seinem Brief an die Griechen in Korinth äußerte er sich sehr nachdrücklich gegen die menschliche Weisheit. Er verteidigte das wahre Christentum und verwies die menschliche Philosophie auf den ihr gebührenden Platz, indem er sagte: „Wenn jemand unter euch denkt, er sei in diesem System der Dinge weise, so werde er ein Tor, damit er weise werde. ... ,Jehova weiß, daß die Überlegungen der Weisen nichtig sind‘“ (1. Kor. 3:18-20). Ja, nicht nur ihre Überlegungen sind nichtig, sondern auch die Werke ihrer Hände, da sie vergehen. Das sieht man am Beispiel der Akropolis. Verschwunden ist das goldüberzogene Standbild der Athene. Vom Parthenon steht nur noch ein Teil. Und wie verhält es sich mit dem Erechtheion, dem gemeinsamen Tempel der Athene und des Poseidon? Von seiner einstigen Pracht ist nur noch wenig übrig.
Während wir die Akropolis verlassen und die Stufen der Propyläen hinabsteigen, kommen uns die Worte in den Sinn, die der Apostel Paulus vor dem Gericht in Athen sprach: „Wir [sollten] nicht meinen, das Göttliche Wesen sei gleich dem Gold oder Silber oder Stein, gleich einem Gebilde der Kunst und Findigkeit des Menschen“ (Apg. 17:29).
WAHRES CHRISTENTUM IMMER NOCH LEBENDIG
Kann man auf einem solchen Ausflug etwas von dem Geist des alten und des neuzeitlichen Athen erhaschen? Wenn man diesen Geist völlig verspüren möchte, muß man natürlich mit den Menschen Gemeinschaft pflegen. Viele Besucher stellen fest, daß die Athener wirklich gastfreundlich sind. Es ist bestimmt kein Zufall, daß das griechische Wort für Fremder auch Gast bedeutet, da Griechen gegenüber Fremden sehr gastfreundlich sind.
Daher überrascht es nicht, daß das wahre Christentum, das sich durch einen solchen Geist auszeichnet, in Athen und in ganz Griechenland wieder Wurzeln geschlagen hat. In Athen allein sind über 7 000 Zeugen Jehovas mit 110 Versammlungen verbunden. In ganz Griechenland gibt es 20 000 Zeugen Jehovas. Wenngleich man sie wie Paulus als „Verkündiger fremder Gottheiten“ betrachtet, verkündigen sie den Einwohnern Athens und ganz Griechenlands weiterhin den „unbekannten Gott“, Jehova.
Unser Besuch ist zu Ende, und wir gehen denselben Weg zurück. Aus einiger Entfernung blicken wir zum letzten Mal auf die Akropolis. Die untergehende Sonne taucht die Marmorkrone der Stadt in leuchtendes Gold. Welch ein Anblick! Besonders freuen wir uns aber darüber, daß sich heute viele Einwohner Athens, der uralten „Stadt vieler Götter“, wahrer geistiger Erleuchtung erfreuen.
„Der Gott, der die Welt und alles, was darin ist, gemacht hat, dieser Eine, der der Herr des Himmels und der Erde ist, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“ (Apg. 17:24).