Kein Prophet aus Galiläa?
„SUCHE Reichtum im Norden, Weisheit im Süden.“ So riet ein jüdisches Sprichwort zu Zeiten Christi. Weshalb wurde es geprägt? Weil der Tempel, der Sanhedrin und die Klasse der Gebildeten im Süden, in Judäa und Jerusalem, zu finden waren, wiewohl Galiläa, das im Norden Palästinas lag, dessen wohlhabendste Gegend war.
Das Sprichwort stimmte allerdings nicht ganz. Zwar hatte Galiläa mit seinen vielen reichen Städten und blühenden Gemeinden, mit seinem fruchtbaren Boden und seinen fischreichen Seen materiellen Reichtum in Fülle, aber Judäa und Jerusalem konnten dennoch nicht anmaßend den Anspruch erheben, an Weisheit alle zu übertreffen. Wir lesen in Gottes Wort: „Die Furcht Jehovas ist der Weisheit Anfang“, und „Er wird die Sanftmütigen veranlassen, nach seiner richterlichen Entscheidung zu wandeln, und er wird die Sanftmütigen seinen Weg lehren“. Doch war Galiläa und nicht Judäa das Gebiet, in dem sich wahre Weisheit kundtat, denn seine Bewohner waren weit sanftmütiger und lernbereiter und bekundeten viel mehr Gottesfurcht, was alles Vorbedingungen für die göttliche Weisheit sind. — Ps. 111:10; 25:9, NW.
Niemand war so sehr im Irrtum wie die selbstgefälligen Pharisäer, die, nachdem sie Nikodemus von dem Galiläer Jesus Christus sagen gehört hatten: „Richtet denn unser Gesetz den Menschen, ehe es zuvor von ihm selbst gehört und erkannt hat, was er tut?“, ihm mit Hohn und Spott antworteten: „Bist du etwa auch aus Galiläa? Forsche und sieh, daß aus Galiläa kein Prophet aufsteht.“ Wie sehr waren diese eingebildeten Pharisäer im Irrtum! Der größte Prophet, den diese Erde je sah oder sehen wird, war ein Galiläer. Außer ihm waren von den zwölf Aposteln, die sich dieser galiläische Prophet erwählte, die elf treuen ebenfalls Galiläer, und der eine, der zum Verräter wurde, war ein Judäer. — Joh. 7:51, 52.
Was veranlaßte denn die Pharisäer, so abfällig von Galiläa zu sprechen? Bestand denn wirklich ein auffallender Unterschied zwischen Judäa und Galiläa, wie ihre Bemerkung es anzuzeigen scheint? Ja, tatsächlich, und zwar in mancher Hinsicht. Judäa und Galiläa, die zwei Hauptbühnen der Predigt- und Lehrtätigkeit Jesu, waren in bezug auf Klima, landschaftliche Szenerie, Naturschätze, Fruchtbarkeit, ferner in bezug auf Temperament und Gelehrsamkeit ihrer Bevölkerung und — was am wichtigsten ist — in der Art, wie diese sich der Tätigkeit Jesu Christi und seiner Apostel gegenüber verhielt, voneinander ganz verschieden. Wenn wir uns diese Unterschiede merken, wird sich unser Verständnis vieler Dinge vertiefen, die in dem inspirierten Bericht über das Leben Jesu erwähnt werden. Außerdem liegt in diesen Aufschlüssen eine wichtige Lektion für alle, die die Wahrheit suchen.
GALILÄER GEGEN JUDÄERa
Zu Zeiten Christi war Galiläa der Gartenflecken Palästinas, wenn nicht der ganzen Welt. Dort herrschte fortwährend ein mildes Frühlingsklima. Seltene Schönheit paarte sich mit ungewöhnlich reicher Fruchtbarkeit. Da gab es Früchte und Nüsse von aller Art, ferner Honig und Korn in Fülle und von vorzüglicher Qualität. Galiläa besaß auch viele blühende Städte.
Alles stand in auffallendem Gegensatz zu Judäa, das um jene Zeit das reizloseste und unfruchtbarste Land von ganz Palästina war. Viele seiner Städte waren in Verfall begriffen oder lagen schon in Trümmern. Der Sommer war in Judäa heißer, der Winter kälter als in Galiläa. Und während es im Galiläischen Meer von Fischen wimmelte, tötete das Tote Meer, das an Judäa grenzte, sehr schnell die Fische, die ihm der Jordan brachte.
Zwischen den Galiläern und den Judäern selbst war der Unterschied fast so groß wie der Unterschied ihrer Landschaften. Die Judäer begegneten den Galiläern mehr oder weniger mit offener Verachtung. Diese Haltung war höchst wahrscheinlich zum Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß die Galiläer nicht so rassenrein waren wie die Judäer, denn es gab unter ihnen Nachkommen jener, die hundert Jahre zuvor von den Makkabäern mit Gewalt beschnitten worden waren; auch waren die Galiläer im großen und ganzen nicht so geschult wie die Judäer.
Die Judäer waren hochmütig, zurückhaltend und betrachteten sich als die wahren Hüter des Gesetzes. Waren die Hebräischen Schriften nicht hauptsächlich in Judäa geschrieben und auch dort abgeschrieben worden? Allerdings stritten sich die Pharisäer und Sadduzäer beständig, aber in ihrer Einstellung gegenüber den niedrigstehenden Galiläern waren sie einig. Die Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich „auf Moses Stuhl gesetzt“ hatten, die zwar redeten, aber nicht nach ihren Worten handelten, die „schwere und schwer zu tragende Lasten … auf die Schultern der Menschen“ legten, aber „sie nicht mit ihrem Finger bewegen“ wollten, waren vor allem Judäer, und die Galiläer seufzten unter diesem religiösen Joch. — Matth. 23:2-4.
Im Gegensatz dazu waren die Galiläer ein warmherziger und freundlicher, ein gesunddenkender und leicht zu begeisternder Menschenschlag, wenn sie auch ein etwas rauhes Äußeres hatten. Der impulsive Petrus sowie Jakobus und Johannes, die beiden „Donnersöhne“, sind typisch hierfür. Es wurde von den Galiläern gesagt, sie seien so „gesund wie ihr Klima und so heiter wie ihr Himmel“. Selbst wenn sie sich von religiöser Unduldsamkeit hinreißen ließen, gingen sie anders vor als die Judäer. Als Jesu deutliche Worte in der Synagoge von Nazareth sie in Zorn brachten, suchten sie nicht nach falschen Zeugen und verschworen sich nicht, Jesus umzubringen, sondern sie suchten, impulsiv wie sie waren, ihn vom Hochrande des Berges ihrer Stadt aus sogleich in die Tiefe zu stürzen. — Mark. 3:17, AB; Luk. 4:28-30.
Die Religionsführer von Jerusalem blickten auf das gemeine Volk herab, auf die Landwirte, die Fischer und andere, die sich mit der ehrlichen Arbeit ihrer Hände abmühten, wie das die meisten Galiläer taten. Den Galiläern war mehr an einem guten Namen gelegen, den Judäern mehr an Reichtum. Wenn die Galiläer auch den Spitzfindigkeiten des Gesetzes nicht pedantisch entsprachen, nahmen sie doch ihren Gottesdienst ernst. Die Galiläer legten Nachdruck auf das geschriebene Gesetz, die Judäer auf die Überlieferung der älteren Männer.
Die Galiläer begaben sich treulich nach Jerusalem, um die jährlichen Feste dort zu feiern, und während die Judäer geneigt waren, den Priestern ihre Gaben darzubringen, brachten die Galiläer ihre Opfergaben häufiger Jehova Gott dar. Bei den Judäern war die Religion weitgehend zur Formsache geworden, bei den Galiläern war sie eine Herzenssache, eine Sache der persönlichen Verbindung mit Gott, wie die Propheten dies hervorhoben. Für die Judäer war das Freisein vom römischen Joch hauptsächlich eine Sache der Politik, für die Galiläer bedeutete es Freiheit und den Triumph der Gerechtigkeit.
JESU PREDIGTDIENST IN GALILÄA
Jehova Gott sorgte in seiner Weisheit dafür, daß Jesus in Judäa, nämlich in Bethlehem, geboren wurde, so daß sich Gottes Prophezeiungen erfüllten, nach denen Jesus als der künftige König der Könige königliche Vorfahren haben mußte. Gleichzeitig lenkte Gott die Dinge so, daß Jesus in Galiläa aufgezogen wurde, in dem Gebiet, das für Jesu Jugend die günstigste Umgebung war und auch den günstigsten Boden für seine Predigt- und Lehrtätigkeit bot, nachdem er einmal seinen irdischen Predigtdienst aufgenommen hatte. So, wie Johannes der Täufer in Galiläa gute Aufnahme fand, so erging es auch Jesus. Aber in seinem Eifer für die Gerechtigkeit sprach Johannes gegen den falschen Wandel des Herodes Antipas, so daß Herodes Johannes gefangensetzen ließ.
„Als er [Jesus] aber gehört hatte, daß Johannes überliefert [verhaftet] worden war, entwich er nach Galiläa, und er verließ Nazareth [wo er aufgewachsen war] und kam und wohnte in Kapernaum [in Galiläas größter Stadt], das am See [von Galiläa] liegt, in dem Gebiet von Zabulon und Nephtalim; auf daß erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaias geredet ist, welcher spricht: ‚Land Zabulon und Land Nephtalim, gegen den See hin, jenseits des Jordan, Galiläa der Nationen: das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen, und denen, die im Lande und Schatten des Todes saßen, Licht ist ihnen aufgegangen.‘ Von da an begann Jesus zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen.“ — Matth. 4:12-17.
Da die Galiläer selbst demütig und mild gesinnt waren und ernstlich nach dem Kommen des Messias und des Königreiches Gottes ausblickten, war es kein Wunder, daß sie auf die Botschaft und die Art, wie Jesus sie darlegte, hörten, als er hinging, um „in ihren Synagogen in ganz Galiläa“ zu predigen. Danach „ging er wiederum hinein nach Kapernaum“, seiner Heimatstadt. Es ist gar nicht wahrscheinlich, daß seine Bergpredigt, seine deutliche Rede über das, was wirklich wichtig ist, in Judäa gleich aufgenommen worden wäre wie in Galiläa, wo Jesus sie hielt. Dort hörten sie Jesus nicht nur bis zu Ende zu, sondern sie waren auch tief beeindruckt. „Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte, da erstaunten die Volksmengen sehr über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Gewalt hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ Das Ergebnis war folgendes: „Als er aber von dem Berge herabgestiegen war, folgten ihm große Volksmengen.“ — Mark. 1:39; 2:1; Matth. 7:28 bis 8:1.
Jesu Lehre war einfach, nicht kompliziert oder verworren. Seine schlichte Bildersprache gefiel den Galiläern. Man kann nicht sagen, er sei hier nicht auch auf Gleichgültigkeit und Widerstand gestoßen. Wir haben bereits die Begebenheit erwähnt, da ihn die Bewohner seiner eigenen Stadt von dem Felsen hinabstürzen wollten, auf dem die Stadt gebaut war. Gerade von dieser Heimatstadt sagte Jesus: „Ein Prophet ist nicht ohne Ehre, außer in seiner Vaterstadt und in seinem Hause.“ Und bezüglich dreier weiterer galiläischer Städte und Gemeinden rief Jesus aus: „Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon [wo er dennoch ein Zeugnis im Kleinen gab] die Wunder geschehen wären, die bei euch geschehen sind, so hätten sie längst in Sack und in Asche sitzend sich bekehrt … Und du Kapharnaum [Kapernaum], wirst du wohl ‚bis in den Himmel erhoben werden? Du wirst bis in die Hölle [Hades, Elb] hinabgeschleudert werden‘.“ Und alle diese drei Städte gelangten in den Hades, denn heute existieren sie nicht mehr. Doch waren dies nicht Jesu stärkste Worte der Rüge. Diese sparte er für Jerusalem auf: „Es ist unmöglich, daß ein Prophet umkomme außerhalb von Jerusalem.“ — Matth. 13:57; Luk. 10:13-15; 13:33, AB.
JUDÄA NICHT VERNACHLÄSSIGT
Weil die synoptischen Evangelien hauptsächlich von dem Dienst Jesu in Galiläa handeln, haben einige voreilig geschlossen, Jesus habe Judäa vernachlässigt, doch ist dem nicht so. Das heißt nicht, daß er den Judäern nicht hätte dienen können, ohne sich direkt in ihr Gebiet zu begeben, denn der Bericht besagt, daß große Volksmengen von Judäa heraufkamen, um Jesus anzuhören, so wie es viele Schriftgelehrte und Pharisäer taten. — Luk. 5:17.
Dennoch lehrte Jesus längere Zeit und wiederholt in Jerusalem, denn Johannes spricht von Jesu Reisen nach Jerusalem, die er unternahm, um das Passah zu feiern. Erklärte Jesus im übrigen nicht, als er sein Wehe über Jerusalem aussprach: „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt, ihr aber habt nicht gewollt!“? Und sagte er nicht, als er vor dem Sanhedrin verhört wurde: „Täglich saß ich im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht ergriffen“? — Matth. 23:37; 26:55, AB.
In der Tat, Jesus hätte kein Recht gehabt, Jerusalem und dessen Religionsführer öffentlich so stark zu brandmarken, hätte er ihnen nicht zuvor gründlich Zeugnis gegeben. Außerdem zeigt seine Freundschaft mit Lazarus, Maria und Martha, die in Judäa, nicht weit von Jerusalem entfernt, wohnten, daß er ein häufiger Gast bei ihnen war und somit auch in Judäa oft gepredigt haben muß. Ja, Jesus wurde zu allen verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt, und er vernachlässigte keines davon. Im letzten Jahr seines Predigtdienstes verwandte er mehr Zeit in Galiläa, doch nur, weil er wußte, daß seine Zeit noch nicht gekommen war: „Hierauf wanderte Jesus in Galiläa umher; denn er wollte nicht in Judäa umherwandern, weil die Juden ihn zu töten suchten.“ — Joh. 7:1, AB.
Gaben uns denn die Synoptiker, das heißt Matthäus, Markus und Lukas, ein einseitiges Bild vom Predigtdienst Jesu? Nicht notwendigerweise. So wie jemand, eher gestützt auf die Anzahl hörender Ohren, die er findet, als auf die Zahl der Stunden, die er im Predigtdienst verbringt, Erfahrungen aus dem Predigtdienst erzählen kann, so verhält es sich auch bei denen, die uns die Erfahrungen aufzeichneten, die Jesus in seinem Dienste gemacht hatte. Die aufrichtigen, redlichen, warmherzigen, die demütigen und schlichten Galiläer gingen einfach bereitwilliger auf Jesu Predigtdienst ein als die hochmütige, reiche und gelehrte Bevölkerung in Judäa und besonders in Jerusalem.
Da Juden aus Judäa Jesus in Galiläa nachfolgten und Juden aus Galiläa Jesus in Judäa nachfolgten, könnte es wohl sein, daß die Volksmenge, die Jesus fünf Tage vor seinem Tode als ihren König willkommen hieß, sich großenteils aus Galiläern zusammensetzte, die Jesus gefolgt oder zum Passahfest in die Stadt heraufgekommen waren. Wohl meistens ihretwegen fürchteten sich die Führer in Jerusalem davor, Jesus am hellichten Tage zu greifen. Der Umstand, daß „Weiber …, welche mit ihm aus Galiläa gekommen waren“, den Leib einbalsamieren wollten, nachdem Jesu Leiche vom Marterpfahl genommen worden war, scheint dies anzudeuten. Sehr wahrscheinlich bestand auch die Rotte, die bei Jesu Verhör seinen Tod verlangte, hauptsächlich aus Judäern, da diese sich leichter von der Geistlichkeit Jerusalems beeinflussen ließen. — Luk. 5:17; 23:55; Matth. 27:20-25.
Es besteht keine Frage, daß die Pharisäer, die so verächtlich über Galiläa sprachen, sich durch Vorurteile gegen die Wahrheit und die Tatsachen hatten blind machen lassen. Sie haben ihr Gegenstück in der pharisäischen Geistlichkeit der Gegenwart. Zum Beispiel besagt die Kritik in religiösen Blättern immer und immer wieder, daß es unter den christlichen Zeugen Jehovas in der Neuen-Welt-Gesellschaft verhältnismäßig wenige Akademiker oder Leute von höherer Bildung gebe. In welchem Ausmaß dies den Tatsachen entspricht, ist für die Botschaft, die Jehovas Zeugen überbringen, vollständig belanglos. In der Tat, es ist ein Argument zu ihren Gunsten, denn schrieb nicht der Apostel Paulus, der selbst ein Gelehrter war, daß nicht viele Weise nach dem Fleische, nicht viele Mächtige und Edle berufen würden, und war dies in Jesu Tagen nicht ebenso? — 1. Kor. 1:26.
Laß dich daher weder durch Kaste noch durch Kultur, weder durch Rasse noch durch Gelehrsamkeit deiner Fähigkeit berauben, die Botschaft, die Jehovas Zeugen dir überbringen, offenen Herzens und Sinnes zu prüfen. Vergleiche sie mit der Bibel, und handle dann den gefundenen Tatsachen entsprechend. Mögen alle im Sinn behalten, daß bei Gott ein gutes Herz mehr zählt als alles Kopfwissen!
[Fußnote]
a Zur Ergänzung des biblischen Berichts über diese Angaben seien hier Geschichtswerke erwähnt wie Galilee in the Time of Christ von Merrill, The World Christ Knew von Deane, Where Jesus Walked von Field, Das Leben Jesu Christi von Neander und The Life of Jesus von Goodspeed.
[Karte auf Seite 436]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
GALILÄA
DAS GROSSE MEER
SEE VON GALILÄA