Der Standpunkt der Bibel
Gibt es für Judas Iskariot eine Rechtfertigung?
IN EINER Ansprache vor einer protestantischen Gemeinde zum Osterfest 1977 verteidigte ein Schweizer Professor den Verrat des Judas an Jesus. Er sagte, ein Verrat könne „heillos“ oder „heilvoll“ sein, und behauptete, der Verrat des Judas sei „heilvoll“ gewesen, da „er ja erst das Heilsgeschehen in Bewegung“ gebracht hätte. Nach Ansicht dieses Professors solle Judas daher „von seiner Sündenbock-Rolle befreit“ werden (Basler Zeitung, 21. 3. 77).
Ähnlich vermutete im 18. Jahrhundert Johann Wolfgang von Goethe, Judas habe im Glauben gehandelt, indem er Jesus mit Gewalt habe nötigen wollen, sich gegen die römischen Herrscher zu behaupten und seine rechtmäßige Stellung als König der Juden an sich zu nehmen. Goethe meinte, Jesu Zögern, die ihm von Judas gebotene Gelegenheit wahrzunehmen, habe zu dem negativen Ausgang des Verrats geführt (Dichtung und Wahrheit, 3. Teil).
Andere sagen, Judas könne nicht zu Recht dafür verurteilt werden, daß er das erfüllt habe, was die inspirierten Schriften vorhergesagt hätten (Ps. 41:9; 55:12, 13; 69:25; 109:8; Apg. 1:16-20). Wäre es richtig, Judas’ Handlungsweise zu rechtfertigen?
Bevor Jesus seine 12 Apostel auswählte, „verbrachte [er] die ganze Nacht im Gebet zu Gott“ (Luk. 6:12, 13). Die verantwortungsvolle Stellung eines Apostels konnte natürlich nicht Männern anvertraut werden, die böse oder im Glauben schwach waren. Die Auswahl des Judas als einer der 12 läßt daher erkennen, daß sowohl Gott als auch Jesus damals gut über ihn dachten. Außerdem wurde ihm die Verwaltung der gemeinsamen Finanzen Jesu und der 12 Apostel anvertraut. Das deutet auf seine Zuverlässigkeit hin, besonders da Matthäus Erfahrungen mit Geld und Zahlen hatte und doch nicht diese Aufgabe erhielt (Matth. 10:3; Joh. 12:6).
Geht aber nicht aus Johannes 6:64 hervor, daß Judas schon untreu war, als Jesus ihn als einen der 12 Apostel auswählte? In diesem Vers heißt es: „Jesus wußte nämlich von Anfang an, ... wer der war, der ihn verraten würde.“ Die Bibel sagt jedoch auch vom Teufel, er habe „von Anfang an gesündigt“ (1. Joh. 3:8). Das bezieht sich nicht auf seine Erschaffung als ein treuer Sohn Gottes, sondern auf den Beginn seiner Rebellion gegen Gott. So war es auch im Fall von Judas Iskariot. Jesus wußte „von Anfang an“ oder schon gleich zu Beginn seiner verkehrten Handlungsweise, daß er ihn verraten würde. Den anderen fiel dies jedoch nicht auf, denn kurz vor dem Verrat hatten die 11 treuen Apostel Judas immer noch nicht als möglichen Verräter erkannt (Joh. 13:27-30).
Judas wandte sich an die Oberpriester und bot ihnen an, ihnen Jesus für 30 Silberstücke auszuliefern. Als sich die Priester damit einverstanden erklärten, „suchte er fortwährend nach einer guten Gelegenheit, ihn zu verraten“ (Matth. 26:15; Mark. 14:10, 11). Der Verrat war somit im voraus geplant und eine wohlüberlegte Handlung. Judas handelte nicht in einer schwachen Stunde, einem plötzlichen Gedanken folgend. In Lukas 22:3 heißt es: „Satan aber fuhr in Judas.“ Wahrscheinlich ist damit gemeint, daß der verräterische Apostel dem Willen des Teufels nachgab und sich als sein Werkzeug gebrauchen ließ. Der vorhergesagte Verrat half zwar, den wahren Messias zu erkennen, er war jedoch nicht nötig, um „das Heilsgeschehen in Bewegung“ zu bringen. Das Heil oder die Rettung des Menschen hing davon ab, daß Jesu Blut vergossen wurde, und nicht davon, daß er verraten wurde.
Judas erkannte später, was er getan hatte, und nachdem er erfolglos versucht hatte, die 30 Silberstücke zurückzugeben, die er für den Verrat erhalten hatte, warf er sie in den Tempel und beging Selbstmord. Hätte Judas treu gehandelt, in der Hoffnung, etwas Gutes zu erreichen, hätte er sich dann für seine Dienste bezahlen lassen? Als Jesus seinen 12 Aposteln Anweisungen gab, hob er hervor, daß sie Gutes tun sollten, ohne dafür ein Entgelt zu erwarten. Er sagte: „Kostenfrei habt ihr empfangen, kostenfrei gebt“ (Matth. 10:8). Außerdem ist es sehr unwahrscheinlich, daß jemand, der davon überzeugt ist, daß er etwas „Heilvolles“ getan hat, sich deswegen das Leben nimmt. Judas gab gegenüber den Oberpriestern sogar zu: „Ich habe gesündigt, als ich gerechtes Blut verriet“ (Matth. 27:1-5).
Waren die anderen Apostel auch Verräter?
Der eingangs erwähnte Schweizer Professor bagatellisierte die Schwere der Handlung des Judas weiter, indem er sagte, die anderen Apostel seien in Wirklichkeit nicht besser gewesen als er. Er behauptete, auch sie seien Verräter gewesen, da sie die jüdische Religion verraten hätten, als sie Christen geworden seien. Ist das wahr?
Die Apostel waren Juden. Sie wurden unter dem mosaischen Gesetz geboren und waren verpflichtet, es zu halten. Zu keiner Zeit mißachtete Jesus das Gesetz. Er sagte: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das ,Gesetz‘ oder die ,Propheten‘ zu vernichten. Nicht um zu vernichten, bin ich gekommen, sondern um zu erfüllen“ (Matth. 5:17). Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu waren die Juden nicht mehr verpflichtet, das mosaische Gesetz zu halten (Kol. 2:13, 14). Die Apostel verrieten nicht die wahre Religion, die Gott Israel gegeben hatte; sie bemühten sich lediglich, mit der fortschreitenden Erkenntnis Schritt zu halten.
Judas dagegen mißachtete das Gesetz Mose. Gewiß billigte das Gesetz seine Habgier nicht und daß er für seinen Verrat an einem unschuldigen Menschen ein Bestechungsgeld annahm (2. Mose 20:15-17; 5. Mose 27:25). Somit war Judas ein Verräter, nicht die anderen Apostel — und das auch nach dem jüdischen Gesetz.
Die Bibel sagt uns nicht, was Judas im einzelnen durch den Sinn ging. Einige meinen, er habe politische Ambitionen gehabt und sei darüber enttäuscht gewesen, daß Jesus kein irdisches Königreich aufgerichtet habe, in dem er, Judas, eine prominente Rolle hätte spielen können. Wie dem auch sei — Selbstsucht und Habgier müssen eine Rolle gespielt haben. Das zeigt ein Vorfall, der sich zwei Tage vor dem Tod Jesu abspielte. Bei dieser Gelegenheit rieb Maria, die Schwester des Lazarus, Jesus mit wohlriechendem Öl ein, das 300 Denare wert war, etwa das Jahreseinkommen eines Landarbeiters (Matth. 20:2). Judas verurteilte dies heftig. Er sagte, man habe das Öl verkaufen und den Erlös den Armen geben sollen. „Das sagte er aber nicht, weil ihm an den Armen gelegen war, sondern weil er ein Dieb war und die Kasse hatte und die Einlagen wegzutragen pflegte“ (Joh. 12:2-6).
Wie aus der Bibel zu erkennen ist, verwandelte sich Judas von einem treuen Diener Gottes in einen selbstsüchtigen, habgierigen, betrügerischen Heuchler. Kein Wunder, daß Jesus in der letzten Nacht seines irdischen Lebens über Judas sagte: „Es wäre besser für diesen Menschen, wenn er nicht geboren worden wäre“ (Mark. 14:21). Gemäß der Bibel gibt es für Judas Iskariot keine Rechtfertigung.