Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 2)
DIE FEINDE JUBELN
Die Einkerkerung dieser christlichen Zeugen Jehovas war ein sinnbildlicher Todesstoß, der ihren Feinden Freude und Erleichterung brachte. Die Worte aus Offenbarung 11:10 hatten sich erfüllt: „Und die, die auf der Erde wohnen, freuen sich über sie und sind froh, und sie werden einander Gaben senden, weil diese zwei Propheten die, die auf der Erde wohnen, quälten.“ Die Feinde der „zwei Zeugen“ unter den Geistlichen, Richtern, Militärs und Politikern haben wirklich ‘einander Gaben gesandt’, indem sie sich gegenseitig zu dem Anteil beglückwünschten, den sie am Besiegen ihrer Peiniger gehabt hatten.
In seinem Buch Preachers Present Arms untersucht Ray H. Abrams den Prozeß gegen J. F. Rutherford und seine Mitangeklagten und bemerkt dazu:
„Eine Untersuchung des ganzen Falles führt zu dem Schluß, daß ursprünglich die Kirchen und die Geistlichen hinter dieser Maßnahme standen, um die Russelliten auszurotten. ...
Als die Herausgeber der Kirchenzeitungen davon erfuhren, daß die Angeklagten zu zwanzig Jahren verurteilt worden waren, jubelten sie praktisch alle, ob klein oder groß, über das Ereignis. Ich konnte nicht ein einziges Wort der Anteilnahme in irgendeinem orthodoxen religiösen Blatt finden. ,Es kann kein Zweifel darüber bestehen‘, schloß Upton Sinclair, daß ,die Verfolgung ... zum Teil daher kam, daß sie sich den Haß der „orthodoxen“ Religionen zugezogen haben‘. Was die Kirchen in ihren gemeinsamen Anstrengungen nicht erreichen konnten, schien jetzt die Regierung für sie erfolgreich getan zu haben — die ewige Vernichtung der ,Propheten des Baals‘.“
OPTIMISMUS TROTZ „BABYLONISCHER GEFANGENSCHAFT“
In den Jahren 607 bis 537 v. u. Z. waren die Juden im alten Babylon in Gefangenschaft. In ähnlicher Weise wurden treue Anbeter Jehovas, die mit seinem heiligen Geist gesalbt worden waren, während der Zeit des Ersten Weltkrieges, von 1914 bis 1918, in eine babylonische Gefangenschaft und ins Exil gebracht. Wie bedrückend dieser Zustand war, wurde den acht treuen Brüdern des Hauptbüros der Gesellschaft besonders bewußt, als sie ins Bundesgefängnis von Atlanta (Georgia) eingesperrt wurden.
Während dieser gesamten Zeit der Schwierigkeiten fiel jedoch nicht eine einzige Ausgabe des Wacht-Turms aus. Ein Herausgeberkomitee, das ernannt worden war, hielt die Zeitschrift in Umlauf. Auch die Einstellung, die die treuen Bibelforscher trotz der Schwierigkeiten jener Tage offenbarten, war beispielhaft. Bruder T. J. Sullivan bemerkte dazu: „Ich hatte das Vorrecht, das Bethel Brooklyn im Spätsommer des Jahres 1918 zu besuchen, während die Brüder eingekerkert waren. Die Brüder, die die Verantwortung für die Arbeit im Bethel hatten, waren in keiner Weise furchtsam oder niedergeschlagen. Es war sogar das Gegenteil der Fall. Sie waren optimistisch und zuversichtlich, daß Jehova letzten Endes seinem Volk den Sieg geben wird. Am Montagmorgen hatte ich das Vorrecht, am Frühstückstisch mit dabeizusein, als die Brüder, die während des Wochenendes auf Reisen gewesen waren, ihren Bericht gaben. So konnte man sich ein gutes Bild von der Lage machen. Die Brüder waren alle zuversichtlich und blickten weiterhin zu Jehova um Leitung auf.“
Interessanterweise rief Bruder Rutherford kurz nach dem Prozeß gegen ihn und die anderen Brüder eines Morgens bei R. H. Barber an und bat ihn, zur Pennsylvania Station zu kommen, wo die Brüder einige Stunden auf den Schnellzug nach Atlanta warteten. Bruder Barber und einige andere eilten zum Bahnhof. Dort sagte Bruder Rutherford, daß, falls die Brüder im Hauptbüro zu sehr von der Polizei belästigt werden sollten, sie das Bethel und das Brooklyn Tabernacle verkaufen und entweder nach Philadelphia, Harrisburg oder Pittsburgh umziehen sollten, da die Watch Tower Society eine in Pennsylvanien eingetragene Gesellschaft war. Als Preisidee wurden 60 000 Dollar für das Bethel und 25 000 Dollar für das Tabernacle vorgeschlagen.
Und wie ging es dann aus? Die Brüder, die damals die Verantwortung für die Gesellschaft hatten, sahen sich tatsächlich vielen Problemen gegenüber. Zum Beispiel herrschte Papier- und Kohlenknappheit. Der Patriotismus schlug hohe Wogen, und viele betrachteten Jehovas christliche Zeugen als Verräter, obwohl dies nicht stimmte. In Brooklyn war man der Gesellschaft gegenüber sehr feindlich eingestellt, und es schien unmöglich, die Arbeit dort fortzusetzen. Daher besprach sich das Exekutivkomitee, das damals im Hauptbüro die Verantwortung trug, mit anderen Brüdern, und man beschloß, daß es das beste sei, das Brooklyn Tabernacle zu verkaufen und das Bethel zu schließen. Man verkaufte schließlich das Tabernacle für 16 000 Dollar, erinnert sich R. H. Barber. Später wurden alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, das Bethel an die Regierung zu verkaufen; es mußte nur noch die Übergabe des Geldes stattfinden. Doch etwas kam dazwischen — der Waffenstillstand. So wurde der Verkauf niemals ganz vollzogen.
Am 26. August 1918 hatte jedoch der Umzug des Hauptbüros der Gesellschaft von Brooklyn (New York) nach Pittsburgh (Pennsylvanien) begonnen. „Wenn ich so zurückblicke“, erklärt Hazel Erickson, „kann ich erkennen, daß die Bibelforscher niemals zu predigen aufhörten, obwohl die Inhaftierung der Brüder sie niedergeschmettert hatte. Sie waren vielleicht nur ein wenig vorsichtiger.“ Schwester H. M. S. Dixon erinnert sich, daß „der Glaube der Freunde stark blieb und daß sie die Zusammenkünfte regelmäßig abhielten“. Jehovas christliche Zeugen zeigten weiterhin Glauben an Gott. Es stimmt zwar, daß sie durch die Entbehrungen und die Verfolgung auf eine Feuerprobe gestellt wurden, doch Gottes heiliger Geist war auf ihnen. Wenn sie nur ausharrten, würde der Allmächtige sie sicher vor ihren Verfolgern bewahren und sie aus ihrem Zustand der „babylonischen Gefangenschaft“ befreien.
DIE MONATE IM GEFÄNGNIS
Mitte 1918 waren J. F. Rutherford und die sieben anderen Brüder in der Bundesstrafanstalt von Atlanta (Georgia). Ein Brief, den A. H. Macmillan am 30. August 1918 schrieb, versetzt uns in die Lage, hinter jene Gefängnismauern zu blicken. Die Abschrift, die wir von Melvin P. Sargent erhielten, lautet auszugsweise:
„Sicher möchtet Ihr etwas darüber hören, wie es uns im Gefängnis geht. Ich will Euch kurz etwas über unser Leben hier erzählen. Bruder Woodworth und ich haben zusammen eine Zelle. Unsere Zelle ist sehr sauber, mit viel Licht und Luft. Sie ist ungefähr 3 × 1,8 × 2,1 Meter groß, hat zwei Betten mit Strohmatratzen, zwei Bettlaken, Decken und Kissen, zwei Stühle, einen Tisch und reichlich saubere Handtücher und Seife. Wir haben auch ein kleines Schränkchen, in dem wir unsere Toilettensachen aufbewahren können. ...
Alle Brüder arbeiten zusammen in der Schneiderei. Sie ist gut gelüftet, hat gutes Licht und ist ungefähr 18 × 12 Meter groß. Bruder Woodworth und ich machen Knopflöcher und nähen Knöpfe an Hemden und Gefängnisanzüge. Die Brüder Van Amburgh, Robison, Fisher, Martin und Rutherford fertigen Gefängnisjacken und -hosen an, oder besser gesagt, sie bemühen sich, sie anzufertigen. Insgesamt arbeiten etwa einhundert Männer in dieser Abteilung. Von meinem Arbeitsplatz aus kann ich alle Brüder sehen, und ich sage Euch, es ist interessant, Bruder Van Amburgh an der Nähmaschine zuzusehen, wie er Säume näht, die die linken und rechten Hälften der Hosen miteinander verbinden. ... Bruder Rutherford hat die Hoffnung schon fast aufgegeben, daß er jemals lernen würde, wie man eine Jacke zusammennäht. Ich glaube nicht, daß er bis jetzt eine einzige fertig hat, obwohl er seit etwa drei Wochen daran arbeitet. Wenn ich zu ihm hinübersehe, scheint er beschäftigt zu sein, doch ich glaube, daß er in Wirklichkeit den größten Teil der Zeit versucht, den Faden einzufädeln. [Eine Wache behandelte ihn so flegelhaft, daß einige andere Gefangene die Jacke nahmen und sie fertigstellten. Schließlich wurde Bruder Rutherford an einen Arbeitsplatz versetzt, wo er sich mehr „zu Hause“ fühlte — in die Bücherei.] ...
Wenn wir nach dem Abendessen auf unsere Zellen kommen, lesen wir als erstes die Spätausgaben der Zeitungen. Von sechs bis sieben kann dann jeder, der will, auf irgendeinem Musikinstrument spielen, das er hat. Es herrscht eine solche Verschiedenartigkeit, daß ich glaube, man spielt hier auf jedem Instrument, das es gibt, außer der Maultrommel, und ich habe vor, mir eine zu besorgen, denn das ist das einzige, was ich spielen kann, außer der zehnsaitigen Harfe. Während dieser Musik, die Bruder Woodworth ,Dantes Inferno‘ nennt, spielen wir Domino. Danach lesen wir die Schriftstudien oder die Bibel bis um zehn Uhr, wenn die Lichter ausgemacht werden. Der nächste Tag läuft genauso ab, und so geht es weiter bis zum Samstag. Am Samstagnachmittag gehen alle Insassen hinaus in den Hof. Dort findet ein Baseballspiel statt, das ganz ordentlich ist und an dem die Männer starkes Interesse haben. Ich spiele gewöhnlich den Nachmittag über Tennis. Die anderen Brüder gehen spazieren und unterhalten sich. Die verschiedenen Arten der Gefangenen finden sich in kleinen Gruppen zusammen — Anarchisten, Sozialisten, Banknotenfälscher, Schnapsbrenner, Deutschfreundliche, Bankkassierer, Rechtsanwälte, Apotheker, Ärzte, Bahnräuber, Einbrecher, Prediger (von denen es hier eine ganze Menge gibt) usw., usw., usw. Während des Nachmittags spielt die Gefängniskapelle verschiedene Stücke.“
Die acht eingekerkerten Bibelforscher hatten Gelegenheit, den anderen Insassen die gute Botschaft von Gottes Königreich zu predigen. Alle Gefangenen mußten sonntags morgens dem Gottesdienst beiwohnen, und wer wollte, konnte danach zur Sonntagsschule dableiben. Die acht Brüder bildeten eine eigene Gruppe zum Studium und zur Gemeinschaft. Mit der Zeit schlossen sich ihnen andere Insassen an, und die Brüder wechselten sich im Unterrichten der Gruppe ab. Sogar einige Wärter kamen, um zuzuhören. Das Interesse nahm zu, bis schließlich neunzig Personen anwesend waren.
Die umwandelnde Kraft der Wahrheit Gottes übte eine tiefgreifende Wirkung auf einige der Insassen aus. Einer bemerkte zum Beispiel: „Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt, und ich mußte erst hinter Gitter kommen, um die Wahrheit zu hören. Deshalb bin ich so froh, daß ich ins Zuchthaus gekommen bin. Siebenundfünfzig Jahre lang habe ich Geistlichen Fragen gestellt, doch nie konnte ich zufriedenstellende Antworten bekommen. Jede Frage jedoch, die ich diesen Männern [den gefangenen Bibelforschern] gestellt habe, wurde bisher zu meiner Zufriedenheit beantwortet.“
Dann wütete die „spanische Grippe“, und das bedeutete das Ende der Sonntagsschulklassen. Kurz bevor jedoch die acht Bibelforscher aus dem Gefängnis von Atlanta freigelassen wurden, rief man alle Gruppen, denen sie Unterricht gegeben hatten, zusammen, und J. F. Rutherford sprach etwa fünfundvierzig Minuten zu den Versammelten. Einige der Gefängnisbeamten waren dabei, und viele Insassen vergossen Tränen der Freude wegen der Hoffnung auf Befreiung, die durch die Königreichsherrschaft für die Menschheit kommen soll. Bei ihrer Freilassung ließen die Bibelforscher eine kleine Gruppe im Gefängnis zurück, die treu blieb.
AUSDRUCK DER ZUVERSICHT
Am 11. November 1918 wurde der Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet. Der Erste Weltkrieg war zu Ende; doch die acht Bibelforscher waren immer noch im Gefängnis. Sie blieben auch dort, während ihre Mitgläubigen in Pittsburgh (Pennsylvanien) vom 2. bis 5. Januar 1919 einen Kongreß abhielten. Dieser Kongreß wurde verbunden mit der sehr bedeutenden Jahresversammlung der Watch Tower Bible and Tract Society am Samstag, dem 4. Januar 1919.
J. F. Rutherford erkannte, daß die Gegner innerhalb der Organisation bei dieser Sitzung der Gesellschaft versuchen würden, ihn und die anderen Beamten der Gesellschaft durch Männer ihrer Wahl zu ersetzen. An jenem Samstag, dem 4. Januar, spielte A. H. Macmillan gerade Tennis im Hof des Gefängnisses. Rutherford ging zu ihm hin, und dann spielte sich nach Aussagen Macmillans folgendes ab:
„Rutherford sagte: ,Mac, ich möchte mit dir reden.‘
,Worüber willst du mit mir reden?‘
,Ich möchte mich mit dir darüber unterhalten, was in Pittsburgh los ist.‘
,Ich möchte lieber erst das Turnier hier zu Ende spielen.‘
,Interessierst du dich denn gar nicht für das, was dort los ist? Weißt du nicht, daß heute die Beamten gewählt werden? Man könnte über dich hinweggehen und dich fallenlassen, und dann bleiben wir hier für immer.‘
‚Bruder Rutherford‘, sagte ich, ,ich will dir etwas sagen, woran du vielleicht noch nicht gedacht hast. Dies ist das erste Mal, seitdem die Gesellschaft gesetzlich eingetragen ist, daß deutlich werden kann, wen Jehova Gott als Präsidenten haben möchte.‘
,Was meinst du damit?’
,Damit meine ich, daß Bruder Russell die Stimmenmehrheit hatte und die verschiedenen Beamten ernannte. Jetzt, da wir scheinbar nichts mehr ausrichten können, ist die Sache anders. Wenn wir jetzt jedoch früh genug herauskämen, um bei dem Kongreß an der Sitzung teilzunehmen, würden wir dort ankommen und Bruder Russells Platz mit derselben Ehre, die er empfing, einnehmen. Dann könnte es so aussehen, als wäre es nicht das Werk Gottes, sondern das eines Menschen.‘
Rutherford schaute nur nachdenklich drein und ging weg.“
Es war ein ereignisreicher Tag in Pittsburgh. „Als die Stunde für die Sitzung herankam, war die Spannung groß“, erinnert sich Mary Hannan. „Wir sahen, daß einige der Gegner anwesend waren, die hofften, ihren Mann ins Amt zu setzen.“
Man verlas einen Brief von Bruder Rutherford an die Zuhörerschaft. Darin sandte er herzliche Grüße an alle und warnte vor Satans hauptsächlichen Waffen: Stolz, Ehrgeiz und Furcht. Da er den Wunsch hatte, sich Jehovas Willen unterzuordnen, schlug er sogar demütig geeignete Männer vor für den Fall, daß andere Beamte der Gesellschaft gewählt werden sollten.
Nachdem die Debatte eine ganze Zeit lang angedauert hatte, ergriff Bruder E. D. Sexton das Wort:
„Ich bin gerade angekommen. Mein Zug hatte wegen der schweren Schneefälle achtundvierzig Stunden Verspätung. Ich habe etwas zu sagen, und mir ist leichter, wenn ich es gleich sage. Liebe Brüder, wie auch die meisten unter euch habe ich mir Gedanken über das Für und Wider bei dieser Wahl gemacht. Ohne unseren eigenen Rechtsanwälten zu nahe zu treten, möchte ich sagen, daß wir auch mit anderen Anwälten Kontakt aufgenommen haben. Ich habe herausgefunden, daß sie den Ärzten sehr ähnlich sind. Sie haben nicht immer dieselben Ansichten. Doch ich nehme an, daß ich jetzt alles genauso wiedergebe, wie sie es mir gesagt haben. Es besteht kein gesetzlicher Hinderungsgrund, unsere Brüder, die jetzt im Süden sind, für Stellungen wiederzuwählen, die ihnen rechtmäßig offenstehen. Ich bin mir keiner negativen Auswirkung bewußt — und daran hat auch mein Gespräch mit den Anwälten nichts geändert —, die eine solche Wahl auf die Lage ihres Falles vor dem Bundesgericht oder in der Öffentlichkeit haben könnte.
Ich glaube, das größte Kompliment, das wir unserem lieben Bruder Rutherford machen können, besteht darin, ihn als Präsidenten der Watch Tower Bible and Tract Society wiederzuwählen. Ich glaube nicht, daß in der Öffentlichkeit Unklarheiten über unseren Standpunkt in dieser Angelegenheit bestehen. Wenn auch unsere Brüder auf irgendeine Weise formell gegen ein Gesetz, dessen Einzelheiten sie nicht verstanden, verstoßen haben mögen, wissen wir doch, daß ihre Beweggründe gut waren; und vor dem allmächtigen Gott haben sie sich weder gegen sein Gesetz noch gegen ein menschliches Gesetz vergangen. Wir können ihnen das größte Vertrauen dadurch bezeugen, daß wir Bruder Rutherford als Präsidenten der Vereinigung wiederwählen.
Ich bin kein Rechtsgelehrter, aber wenn es um die Gesetzlichkeit der Angelegenheit geht, so weiß ich etwas vom Gesetz der Loyalität. Loyalität ist das, was Gott verlangt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir Bruder Rutherford gegenüber unser Vertrauen noch besser bekunden könnten als durch eine Wahl, bei der wir Bruder Rutherford als Präsidenten wiederwählen.“
Darauf wurden Kandidaten aufgestellt, und die Abstimmung fand statt. J. F. Rutherford wurde zum Präsidenten gewählt, C. A. Wise zum Vizepräsidenten und W. E. Van Amburgh zum Sekretär-Kassierer. Zurückblickend sagt Anna K. Gardner: „Nach dieser Sitzung waren wir alle sehr glücklich, Jehovas sichtbare Leitung für sein Volk wieder zu sehen.“
Doch zurück zur Strafanstalt in Atlanta. Wir schreiben Sonntag, den 5. Januar 1919. J. F. Rutherford klopft an die Wand von Bruder Macmillans Zelle und sagt: „Strecke deine Hand aus.“ Damit überreicht er Macmillan ein Telegramm. Was steht darin? Rutherford wurde zum Präsidenten wiedergewählt. Später an diesem Tage sagt Bruder Rutherford zu A. H. Macmillan: „Ich möchte dir etwas sagen. Gestern hast du etwas geäußert, was mir im Kopf herumgeht. Es dreht sich darum, daß man uns wie Bruder Russell behandelt hätte und wir die Wahl beeinflußt hätten, wären wir in Pittsburgh gewesen, und daß dann der Herr keine Gelegenheit gehabt hätte, zu zeigen, wen er im Amt haben wollte. Ich sage dir, Bruder, wenn ich jemals hier herauskomme, werde ich mit Gottes Hilfe dieser ganzen Menschenverehrung ein Ende bereiten. Noch mehr, ich werde den Dolch der Wahrheit nehmen und das Innere aus dem alten Babylon herausreißen. Man hat uns jetzt zwar eingesperrt, aber wir kommen heraus.“ Rutherford war es Ernst. Von seiner Freilassung bis hin zu seinem Tode Anfang des Jahres 1942 erfüllte er dieses Versprechen, indem er die Schlechtigkeit der falschen Religion bloßstellte.
BEMÜHUNGEN UM FREILASSUNG
Im Februar 1919 begannen einige Zeitungen im ganzen Land eine Aktion, die die Freilassung J. F. Rutherfords und seiner mit ihm eingekerkerten Verbundenen herbeiführen sollte. Die Bibelforscher schrieben Tausende von Briefen an Herausgeber von Zeitungen, Kongreßabgeordnete, Senatoren und Gouverneure, in denen sie darauf drängten, daß etwas für die acht gefangenen Christen getan werde. Viele, die eine solche Bittschrift erhielten, äußerten sich zugunsten der Freilassung und sagten, sie würden etwas tun, um zu helfen.
Ein Brief des Kongreßabgeordneten E. W. Saunders von Virginia lautete beispielsweise: „Ich bin im Besitz Ihres Briefes über die Angelegenheit der Bibelforscher, die sich jetzt in Atlanta in Haft befinden. Ich erlaube mir zu sagen, daß ich die Begnadigung dieser Männer befürworte und daß ich mich mit Freuden einer diesbezüglichen Empfehlung anschließen werde. Es handelt sich hier nicht um Verbrecher im üblichen Sinn des Wortes, auch wenn sie eines formellen Vergehens gegen das Gesetz schuldig gewesen sein mögen. Doch nun ist der Krieg zu Ende, und wir sollten versuchen, ihn so schnell wie möglich hinter uns zu bringen.“ Der Bürgermeister von Saint Louis (Missouri), Henry W. Kiel, schrieb an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson: „Gestatten Sie mir bitte, mich den Gesuchen anzuschließen, die Ihnen bereits übermittelt wurden, in denen darum gebeten wurde, daß man die Herren Rutherford et al. von der International Bible Students Association gegen Kaution freiläßt, bis eine endgültige Entscheidung ihres Falles vor höheren Instanzen getroffen wird, und daß, wenn möglich, in ihrem Falle eine Begnadigung gewährt wird.“
Im März 1919 wurden neue Anstrengungen unternommen, um die Freilassung Bruder Rutherfords und seiner Mitarbeiter zu erreichen. Man setzte im ganzen Land eine Petition in Umlauf, und innerhalb kurzer Zeit bekam man 700 000 Unterschriften. Dies war die größte Petition jener Zeit. Doch sie wurde Präsident Wilson oder der Regierung niemals vorgelegt, da vorher bereits Maßnahmen getroffen wurden, die acht Bibelforscher freizulassen. Dessenungeachtet war die Petition ein hervorragendes Zeugnis.
Schwester A. L. Claus sagt über die Arbeit in Verbindung mit dieser Petition: „Die Reaktion der Leute war natürlich unterschiedlich. Manche unterschrieben bereitwillig, und wir konnten ihnen ein Zeugnis geben, während andere eine feindselige Haltung einnahmen und sagten: ,Sollen sie doch dort bleiben und verfaulen.’ Normalerweise hätte man dies als eine erniedrigende Tätigkeit betrachtet, doch wir spürten, daß Jehovas Geist uns leitete; deshalb waren wir alle mit Freude dabei und setzten das Werk bis zum Abschluß fort.“
FREILASSUNG AUS DEM GEFÄNGNIS
Am 2. März 1919 sandte Bundesrichter Harland B. Howe, der das Verfahren geleitet hatte, ein Telegramm an den Justizminister Gregory in Washington (D. C.), in dem er „unverzügliche Strafmilderung“ für die acht gefangengehaltenen Bibelforscher empfahl. Gregory hatte Howe ein Telegramm gesandt, in dem er ihn zu diesem Schritt aufgefordert hatte. Es sieht so aus, als habe man dies getan, weil die eingekerkerten Brüder Berufung eingelegt hatten, und weder der Justizminister noch Howe waren daran interessiert, daß dieser Fall vor höhere Instanzen gezogen wurde. (Die acht Brüder waren nur deshalb im Gefängnis — während ihr Berufungsverfahren schwebte —, weil Howe und später Richter Manton ihnen die Gewährung einer Kaution versagt hatten.) Es ist sehr aufschlußreich zu lesen, was Richter Howe in einem Brief vom 3. März 1919 an den Justizminister schrieb:
„An den Herrn Justizminister
Washington (D. C.)
Sehr geehrter Herr Justizminister!
In Beantwortung Ihres Telegramms vom 1. d. M. habe ich Ihnen an jenem Abend folgendes telegrafiert:
,Empfehle unverzügliche Strafmilderung für Joseph Rutherford, William E. Van Amburgh, Robert J. Martin, Fred H. Robison, George H. Fisher, Clayton J. Woodworth, Giovanni DeCecca, A. Hugh Macmillan. Sie alle waren in derselben Sache beim östlichen Bezirksgericht von New York angeklagt. Meines Erachtens sollte man jetzt großzügig verfahren, da der Krieg vorbei ist. Sie haben durch das Predigen und Veröffentlichen ihrer religiösen Lehren viel Schaden angerichtet.‘
Alle Angeklagten erhielten die schwere Strafe von zwanzig Jahren, außer DeCecca, der zehn Jahre erhielt. Es war vor allem meine Absicht, als Warnung an andere ein Exempel zu statuieren, und ich war der Ansicht, daß der Präsident ihnen nach dem Krieg Erleichterungen geben würde. Wie ich bereits in meinem Telegramm gesagt habe, haben sie viel Schaden angerichtet, und man kann sehr wohl fordern, daß sie nicht zu schnell freigesetzt werden. Da sie jetzt jedoch keinen Schaden mehr anrichten können, bin ich dafür, im Bemessen der Strafe ebenso nachsichtig zu sein, wie ich vorher streng war. Ich glaube, daß die meisten von ihnen, wenn nicht sogar alle, aufrichtig waren, und ich bin nicht dafür, solche Leute inhaftiert zu halten, nachdem sie keine Gelegenheit mehr haben, Schwierigkeiten zu machen. Der Fall wurde noch nicht vor dem Kreisberufungsgericht verhandelt.
Hochachtungsvoll
[gez.] HARLAND B. HOWE
US-Bezirksrichter“
Am 21. März 1919 verfügte Louis D. Brandeis, Richter am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten, die Gewährung der Kaution für die acht Brüder im Gefängnis und gab Anweisung, daß ihnen das Recht zu einem Berufungsverfahren am 14. April jenes Jahres gegeben werden sollte. Sie wurden unverzüglich freigelassen und verließen die Strafanstalt von Atlanta am Dienstag, dem 25. März, mit der Bahn. Nach ihrer Ankunft in Brooklyn am 26. März 1919 ließen die Bundesbehörden die Brüder gegen eine Kaution von je 10 000 Dollar bis zur weiteren Verhandlung frei.
GLÜCKLICHE HEIMKEHR
„Die Brüder freuten sich sehr, als sie von ihrer Freilassung hörten, und sie kamen, um sie zu begrüßen“, erinnert sich Louise Paasch und fügt hinzu: „Man bereitete schnell ein großes Festmahl im Bethel Brooklyn vor. Ich kann mich entsinnen, daß mein Vater nach Brooklyn ging, um beim Zurechtmachen der Säle zu helfen und sich mit ihnen zu freuen, als sie die Brüder wieder willkommen heißen konnten.“
Was für eine glückliche Zeit war dies doch! Mabel Haslett schreibt: „Ich kann mich erinnern, daß ich hundert Krapfen gebacken hatte, die den Brüdern anscheinend schmeckten ... Ich sehe immer noch, wie Bruder Rutherford zulangte. Wir werden nie vergessen, wie er und die anderen ihre Erfahrungen erzählten. Ich weiß auch noch, wie Bruder DeCecca, der nicht sehr groß war, sich auf einen Stuhl stellte, damit ihn alle sehen und hören konnten.“ Giusto Battaino sagt darüber: „Es gab Hähnchen, und wir waren so viele, daß wir zum Essen stehen mußten. Wie begeisternd war es dann, den Erfahrungen der Brüder zuzuhören! ... Bruder DeCecca sagte u. a.: ,Brüder, je größer die Schwierigkeiten, desto größer der Segen.‘ Und ich konnte wirklich sehen, wie Jehovas reicher Segen auf seinem Volke ruhte.“
Am 1. April 1919 fand abends im Hotel Chatham in Pittsburgh ein weiteres Festessen für die freigelassenen Brüder statt, das die Belegschaft des Büros der Gesellschaft veranstaltete. T. J. Sullivan bemerkte dazu: „Die Freude, die Jehovas Volk bei der Freilassung unserer Brüder aus dem Bundesgefängnis von Atlanta am Dienstag, dem 25. März 1919, empfand, kannte keine Grenzen. ... Daß sie immer noch Jehova hingegeben waren, zeigte sich darin, daß sie sich sofort daranmachten, dem Volke Gottes überall die Befreiung, die Jehova bewirkt hatte, bekanntzumachen, und zwar geschah dies durch den Kongreß, der 1919 in Cedar Point abgehalten wurde.“
VÖLLIGE REHABILITIERUNG
Am 14. April 1919 sollte die Berufungsverhandlung für die acht Bibelforscher stattfinden. Ihre Verhandlung fand vor dem Zweiten Kreisberufungsgericht des Bundes in New York statt. Am 14. Mai 1919 wurden die Fehlurteile umgestoßen. Den Vorsitz führten die Richter Ward, Rogers und Manton. Richter Ward sagte in der Begründung zur Wiederaufnahme des Verfahrens: „Man verfuhr im Prozeß mit den Angeklagten dieses Falles nicht auf die sachliche, unparteiische Weise, auf die sie ein Anrecht hatten, und aus diesem Grunde wird das Urteil aufgehoben.“
Richter Martin T. Manton schloß sich dieser Meinung nicht an. Der katholische Richter hatte am 1. Juli 1918 Rutherford und seinen Mitangeklagten ohne Angabe eines Grundes die Annahme einer Kaution verweigert, weshalb sie neun Monate lang ungerechterweise eingekerkert waren, während ihr Berufungsverfahren anhängig war. Papst Pius XI. schlug Richter Manton übrigens später zu einem „Ordensritter St. Georgs des Großen“. Doch schließlich wurde Mantons Mißachtung der Gerechtigkeit offenbar. Am 3. Juni 1939 wurde er wegen Mißbrauchs seiner hohen Stellung als Bundesrichter durch Annahme von Bestechungsgeldern in Höhe von 186 000 Dollar für sechs Entscheide zur Höchststrafe von zwei Jahren Gefängnis und zu einer Geldstrafe von 10 000 Dollar verurteilt.
Die Aufhebung der Fehlurteile gegen die acht Bibelforscher am 14. Mai 1919 bedeutete, daß sie frei waren, es sei denn, die Regierung hätte sich entschlossen, die Sache gerichtlich weiterzuverfolgen. Der Krieg war jedoch vorüber, und man wußte, daß es angesichts des wirklichen Tatbestandes unmöglich war, eine Verurteilung zu erreichen. Am 5. Mai 1920 gab daher der Staatsanwalt in Brooklyn vor Gericht öffentlich die Widerrufung der Strafverfolgung bekannt. Die Anklagen wurden wegen Einstellung des Verfahrens fallengelassen. So waren jene acht Christen also von der rechtswidrigen Verurteilung völlig freigesprochen.
Daß die Entscheidung gegen J. F. Rutherford und seine sieben Mitarbeiter aufgehoben wurde und man die Anklagen fallenließ, bedeutete ihre völlige Rehabilitierung. Manchmal wurde Richter Rutherford als „ehemaliger Zuchthäusler“ bezeichnet, doch dies geschah ohne jede Grundlage. Die Gerichtsentscheidung vom 14. Mai 1919 stellte einwandfrei fest, daß er und seine Mitarbeiter aufgrund einer rechtswidrigen Verurteilung eingesperrt worden waren. Daß Bruder Rutherford nicht als „ehemaliger Zuchthäusler“ angesehen wurde, wird entscheidend dadurch bewiesen, daß er später vor dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten als Rechtsanwalt fungieren konnte, was einem Vorbestraften unmöglich gewesen wäre. Im Herbst 1939, zwanzig Jahre nach seiner ungerechten Inhaftierung, hörten sich die neun Richter des Obersten Gerichts die Darlegungen an, die Rutherford im Fall Schneider gegen New Jersey vorbrachte. Das Gericht entschied mit acht zu eins zugunsten von Rutherfords Klientin, Clara Schneider, einer christlichen Zeugin Jehovas.
In den kritischen Jahren 1918 und 1919 sah sich Jehovas Volk großen Schwierigkeiten gegenüber. Doch mit Gottes Hilfe harrte es aus (Röm. 5:3-5). Satan war es durch die verschiedensten Mittel nicht gelungen, die Lobpreiser Gottes zum Schweigen zu bringen. Wie passend war doch der Jahrestext der Bibelforscher für das Jahr 1919, der lautete: „Keiner Waffe, die wider dich gebildet wird, soll es gelingen ... Das ist das Erbteil der Knechte Jehovas“ (Jes. 54:17, Elberfelder Bibel).
EINE NEUE AUFFASSUNG
Nach der problemreichen Zeit von 1917 bis 1919 unterzog sich Jehovas Volk einer Selbstprüfung. Da es erkannte, daß seine Handlungsweise nicht Gottes Billigung hatte, bereute es und bat im Gebet um Vergebung. Daher konnte Jehova ihm vergeben und es segnen (Spr. 28:13).
Einer der Kompromisse war das Herausnehmen der Seiten aus dem Buch Das vollendete Geheimnis, was geschehen war, um die Zensurbehörde zufriedenzustellen. Ein anderer wurde sichtbar, als der Wacht-Turm (engl.) vom 1. Juni 1918 sagte: „In Übereinstimmung mit der Kongreßresolution vom 2. April und der Proklamation des Präsidenten der Vereinigten Staaten vom 11. Mai wird vorgeschlagen, daß das Volk des Herrn den 30. Mai überall zu einem Tag des Gebets und der Fürbitte macht.“ In den weiteren Ausführungen wurden die Vereinigten Staaten gepriesen, was sich mit der christlichen Neutralität nicht vereinbaren ließ (Joh. 15:19; Jak. 4:4).
Während des Ersten Weltkrieges waren unter den Bibelforschern Fragen darüber aufgetaucht, wie sie sich hinsichtlich des Militärdienstes verhalten sollten. Manche weigerten sich, in irgendeiner Form am Krieg teilzunehmen, wohingegen andere sich zum waffenlosen Dienst bereit erklärten. Ebenso war vielen unklar, ob sie Kriegsanleihen und Kriegsmarken kaufen sollten. Wer dies nicht tat, wurde manchmal verfolgt, sogar brutal mißhandelt. Wenn Jehovas Diener heute überlegen, ob sie an einem Vorhaben der Nationen teilnehmen sollen, handeln sie in Übereinstimmung mit biblischen Grundsätzen wie dem, der in Jesaja 2:2-4 zum Ausdruck gebracht wird, in dem es abschließend heißt: „Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden müssen und ihre Speere zu Winzermessern. Nation wird nicht gegen Nation das Schwert erheben, auch werden sie den Krieg nicht mehr lernen.“
Zu Beginn der 1920er Jahre hatte Jehovas Volk eine neue Auffassung. Es hatte schwierige Jahre hinter sich, doch die gesalbten Nachfolger Jesu, die symbolischen „zwei Zeugen“, waren wieder geistig am Leben und standen zur Tätigkeit bereit. Doch wie kam es dazu? Was war in den Monaten geschehen, die unmittelbar auf die Freilassung Bruder Rutherfords und seiner sieben Mitarbeiter aus dem Gefängnis folgten?
EIN ERFOLGREICHER TEST
Als Bruder Rutherford aus dem Gefängnis entlassen wurde, bewegte ihn eine wichtige Frage: Wieviel Interesse besteht noch an der Königreichsbotschaft? Er war ein kranker Mann, und es wäre nur vernünftig gewesen, wenn er sich zuallererst um seine Gesundheit gekümmert hätte, doch er mußte unbedingt eine Antwort auf diese wichtige Frage finden.
Während der Monate ihrer Haft im Zuchthaus von Atlanta hatten Bruder Rutherford und Bruder Van Amburgh zusammen eine Zelle, bei der wegen eines Schadens am Ventilator die Frischluftzufuhr nicht funktionierte. Da ihr Körper nicht genügend Sauerstoff bekam, sammelten sich im Organismus Giftstoffe an. Während seiner Haft zog sich Rutherford ein Lungenleiden zu, das er für den Rest seines irdischen Lebens beibehielt. Kurz nach seiner Freilassung erkrankte er an Lungenentzündung. Bruder Rutherford wurde so krank, daß es nicht sicher war, ob er überleben würde. Wegen seines körperlichen Zustandes und auch weil seine Familie dort wohnte, ging er nach Kalifornien.
Um herauszufinden, wieviel Interesse an der Königreichsbotschaft wirklich noch vorhanden war, bereitete Bruder Rutherford eine öffentliche Zusammenkunft für Sonntag, den 4. Mai 1919, in Clune’s Auditorium in Los Angeles vor. In umfassenden Bekanntmachungen in den Zeitungen hatte er versprochen, in seinem Vortrag zu erklären, warum die Beamten der Watch Tower Society rechtswidrig verurteilt worden waren.
Die Geistlichkeit dort war der Meinung, daß es mit den Bibelforschern und der Gesellschaft aus und vorbei sei und daß niemand zu dem angekündigten Vortrag „Die Hoffnung für die bedrängte Menschheit“ erscheinen würde. Sie hatte sich aber geirrt. Es kamen 3 500 Leute, und ungefähr 600 mußten wegen Platzmangels abgewiesen werden. Rutherford versprach, am Montagabend zu ihnen zu sprechen. Obwohl er den ganzen Tag über krank war, sprach er doch zu 1 500 Personen. Er war dann jedoch so erschöpft, daß nach etwa einer Stunde ein Mitarbeiter weitersprechen mußte. Der Test in Los Angeles war trotzdem ein Erfolg. Es bestand ein beträchtliches Interesse an der Königreichsbotschaft.
„WERDEN WIR WIEDER EIN BETHEL HABEN?“
Das war eine weitere wichtige Frage. Das Tabernacle in Brooklyn hatte man verkauft, und obwohl das Bethel immer noch der Gesellschaft gehörte, so war es doch praktisch ohne Inventar. Die Tätigkeit des Hauptbüros war nach Pittsburgh verlegt worden. Dort hatten die Brüder wenig Geld, und die Räumlichkeiten in der Federal Street reichten bei weitem nicht für eine Erweiterung aus. Es gab keine Druckerei, und sogar viele der Druckplatten, von denen die Gesellschaft die Literatur drucken ließ, waren vernichtet worden. Die Aussichten waren düster.
Während J. F. Rutherford in Kalifornien war, geschah jedoch im Hauptbüro der Gesellschaft in Pittsburgh etwas Bemerkenswertes. Eines Morgens kam George Butterfield, ein Christ, der ein beträchtliches Vermögen hatte, in das Büro. A. H. Macmillan sprach mit ihm im Empfangszimmer und teilte ihm mit, daß Bruder Rutherford in Kalifornien sei. Was dann geschah, erzählt Macmillan selbst:
„Er sagte: ,Hast du hier auch ein Privatzimmer?‘
,Wir brauchen nur die Tür zuzumachen, dann ist es privat. Was hast du vor, George?‘
Während ich mit ihm sprach, begann er, sein Hemd auszuziehen. Ich dachte, er sei nicht mehr ganz normal. Er sah etwas schmutzig und vom langen Reisen ermüdet aus, obwohl er sonst ein sauberes und sehr gepflegtes Aussehen hatte. Als er sich bis zu seinem Unterhemd ausgezogen hatte, bat er um ein Messer. Dann trennte er einen kleinen Flicken auf, der darauf gesetzt worden war, und nahm ein Geldbündel heraus. Es waren etwa 10 000 Dollar in Scheinen.
Er legte das Geld hin und sagte: ,Das wird euch für den Anfang reichen. Ich wollte keinen Scheck senden, weil ich nicht wußte, wer hier sein würde. Ich bin nicht im Schlafwagen gefahren, weil ich nicht wollte, daß mir irgend jemand zu nahe kommt und mir das Geld wegnimmt; deshalb bin ich die ganze Nacht aufgeblieben. Ich hatte keine Ahnung, wer die Verantwortung für das Werk hat, aber jetzt sehe ich euch Brüder hier; und euch kenne ich, und euch kann ich vertrauen. Ich bin froh, daß ich hierhergekommen bin!‘ ... Das war eine angenehme Überraschung und ganz bestimmt ein Auftrieb für uns.“
Bei seiner Rückkehr in das Hauptbüro der Gesellschaft in Pittsburgh wies Bruder Rutherford den Vizepräsidenten der Gesellschaft, C. A. Wise, an, nach Brooklyn zu gehen und zu ermitteln, ob man das Bethel wiedereröffnen und Räumlichkeiten für eine Druckerei mieten könne. Ihre Unterhaltung verlief folgendermaßen:
„Geh und stell fest, ob es der Wille des Herrn ist, daß wir nach Brooklyn zurückkehren.“
„Wie soll ich denn feststellen, ob der Herr will, daß wir zurückkehren?“
„Wir mußten 1918 von Brooklyn nach Pittsburgh zurück, weil wir keine Kohlen bekommen konnten. Dann sollen jetzt die Kohlen den Ausschlag geben. Du gehst hin und bestellst Kohlen.“ (Ende des Krieges waren Kohlen in New York immer noch rationiert.)
„Was meinst du, wieviel Tonnen ich bestellen soll, damit wir Bescheid wissen?“
„Wir wollen sichergehen; bestelle fünfhundert Tonnen!“
So geschah es. Als Bruder Wise bei der Behörde seinen Antrag stellte, erhielt er eine Bescheinigung zum Bezug von fünfhundert Tonnen Kohle. Er schickte sofort ein Telegramm an J. F. Rutherford. Mit so viel Kohle würde die Gesellschaft für einige Jahre versorgt sein. Doch wohin damit jetzt? Man machte einen großen Teil des Kellers im Bethel zum Kohlenkeller. Den Erfolg dieses Versuches sah man als ein unmißverständliches Zeichen dafür an, daß es Gottes Wille war, nach Brooklyn umzuziehen. Dies geschah am 1. Oktober 1919.
EIN FREUDIGES TREFFEN
Kurz vor der Wiedereröffnung des Bethels erlebte Jehovas Volk als Ganzes ein besonders freudiges Treffen. Bruder Rutherford entschied sich kurz nach seinen erfolgreichen öffentlichen Vorträgen in Los Angeles im Mai 1919, einen großen Kongreß abzuhalten. Man wählte schließlich Cedar Point (Ohio) als Tagungsort. Der Kongreß vom 1. bis 8. September 1919 erwies sich als von ungewöhnlich großem geistigen Wert.
Es gab etwa dreitausend Hotelbetten in Cedar Point, und die Bibelforscher hatten vereinbart, die Einrichtungen aller Hotels um die Mittagszeit des ersten Kongreßtages, Montag, 1. September, zu übernehmen. Sie waren etwas enttäuscht, als zum Eröffnungsvortrag nur 1 000 Anwesende da waren. Doch es kamen laufend weitere Delegierte an, sowohl in Sonderzügen als auch mit anderen Transportmitteln. Bald gab es lange Schlangen freudig gestimmter Delegierter, die auf ihre Unterkunft warteten. Und wer stand an der Anmeldung und hatte alle Hände mit dem Ausgeben der Zimmerzuteilungen zu tun? Niemand anders als zwei ehemalige Insassen des Zuchthauses von Atlanta, A. H. Macmillan und R. J. Martin! Doch jetzt sieh bitte dort hinüber. Dort erleben Bruder Rutherford und viele andere ihre große Stunde als Hotelpagen. Sie schleppen Koffer und helfen den Delegierten, ihre Zimmer zu finden. Bis nach Mitternacht waren alle vollauf beschäftigt.
Immer mehr glückliche Delegierte strömten herbei. Die Zahl der Anwesenden stieg von etwa 3 000 am Abend des ersten Tages bis auf 6 000 am Freitag an. Zum öffentlichen Vortrag am Sonntag waren etwa 7 000 anwesend. Auf diesem freudigen Kongreß symbolisierten mehr als 200 ihre Hingabe an Gott, indem sie sich im Wasser taufen ließen.
Arden Pate schreibt über den öffentlichen Vortrag „Die Hoffnung für die bedrängte Menschheit“: „Der öffentliche Vortrag wurde im Freien gehalten, und Bruder Rutherford diente als Redner. ... Bei dieser kleinen Anzahl konnte man ihn gut hören.“
DIE RÄTSELHAFTEN BUCHSTABEN „GA“
Kaum waren die Kongreßdelegierten in Cedar Point eingetroffen, als ihnen etwas Besonderes auffiel. Ursula C. Serenco erinnert sich: „Wir entdeckten ein großes Transparent, das hinter dem Rednerpult quer über die ganze Bühne gespannt war und auf dem zwei große Buchstaben standen: ,GA‘. Wir waren die ganze Woche über gespannt und rätselten, was die zwei Anfangsbuchstaben bedeuten könnten. Als Bruder Macmillan auf die Bühne kam, erzählte er den Zuhörern in seiner gewohnten Art, daß auch er die ganze Woche gerätselt habe, was ,GA‘ sein könnte. Er war zu folgendem Schluß gelangt: ,Freunde, ich glaube, es heißt „Guess Again“ [„Ratet noch mal“].‘ Alles lachte.“
Die Delegierten wurden von ihrer quälenden Neugier erst am Freitag, dem 5. September, befreit, dem „Mitarbeiter-Tag“. Stell dir vor, du wärest inmitten dieser glücklichen Zuhörer, während J. F. Rutherford den Vortrag „Das Königreich Gottes ankündigen“ hält. Er kündigt darin die Veröffentlichung einer neuen Zeitschrift an: Das Goldene Zeitalter.
Das Geheimnis war gelüftet. Die Buchstaben „GA“ bedeuteten Golden Age (Goldenes Zeitalter). Nach Bruder Rutherford sprach R. J. Martin und umriß eine neue Tätigkeit, das Aufnehmen von Abonnements für Das Goldene Zeitalter. Diese 32seitige Zeitschrift sollte alle 14 Tage erscheinen und viel religiösen Stoff enthalten, der die Ereignisse der Gegenwart im Lichte der göttlichen Prophetie erklären würde. In der ersten Ausgabe (1. Oktober 1919) war etwas über folgende Themen zu finden: Arbeit und Wirtschaft, Bergbau und Industrie, Finanzen, Handel und Transport, Landwirtschaft und Ackerbau, Wissenschaft und Erfindungen sowie Religion, einschließlich eines biblischen Artikels mit dem Thema „Kann man mit den Toten reden?“
Das Goldene Zeitalter wurde von einem der Brüder herausgegeben, die mit Bruder Rutherford gemeinsam im Gefängnis gewesen waren. Es war Clayton J. Woodworth. C. James Woodworth, sein Sohn, vermittelt uns folgende interessante Einzelheiten: „Wir zogen wieder nach Scranton [Pennsylvanien]. Als dann 1919 Das Goldene Zeitalter als Begleitzeitschrift zum Wacht-Turm herauskam, ernannte die Gesellschaft meinen Vater zu ihrem Herausgeber. Da er viel Zeit persönlich in Brooklyn verbringen mußte, traf die Gesellschaft freundlicherweise die Vorkehrung, daß er zwei Wochen in Brooklyn und zwei Wochen zu Hause arbeiten konnte. So ging es eine ganze Anzahl Jahre lang. Ich kann mich noch gut erinnern, daß die Schreibmaschine meines Vaters oft morgens früh um fünf Uhr klapperte, da er Stoff für Das Goldene Zeitalter schrieb oder bearbeitete und ihn dann mit der Frühpost nach Brooklyn schickte.“
Clayton J. Woodworth diente treu als Herausgeber des Goldenen Zeitalters und auch der Zeitschrift Trost, die als dessen Nachfolger vom 6. Oktober 1937 bis einschließlich 31. Juli 1946 veröffentlicht wurde. Wegen seines fortgeschrittenen Alters wurde er von dieser Arbeit entbunden, als die neue Zeitschrift Erwachet! mit der Ausgabe vom 22. August 1946 Trost ersetzte. Bruder Woodworth diente jedoch Gott weiterhin treu in anderen Aufgaben, bis er am 18. Dezember 1951 im Alter von 81 Jahren starb.
„WIR MACHTEN UNS AN DIE ARBEIT“
Der Kongreß in Cedar Point im Jahre 1919 trug dazu bei, daß Gottes Volk sich des weltweiten Ausmaßes des Predigtwerkes, das noch vor ihm lag, besser bewußt wurde. A. H. Macmillan drückte das so aus: „In uns begann sich der Gedanke zu festigen: ,Wir müssen jetzt etwas tun.‘ Wir wollten nicht mehr herumstehen und darauf warten, in den Himmel zu kommen. Wir machten uns an die Arbeit.“
Und wirklich, Gottes Volk machte sich an die Arbeit. Es wurde etwas unternommen, die wahre Anbetung voranzutreiben. Beispielsweise wurde 1919 das Kolporteurwerk wiederaufgenommen. Im Frühling des Jahres waren 150 Personen in diesem Zweig des Dienstes Gottes tätig, im Herbst bereits 507.
Das Werk der Pilgerbrüder wurde ebenfalls wiederbelebt. Die Zahl der Vollzeitprediger, die als reisende Vertreter der Gesellschaft dienten, stieg auf 86 an. Sie wurden in die Versammlungen ausgesandt, um alle diejenigen zusammenzubringen, die durch die Verfolgung während des Krieges zerstreut worden waren. Durch diesen engen Kontakt mit dem Hauptbüro der irdischen Organisation Jehovas erweckten sie auch neues Interesse. Es wurden wieder Fortschritte im Ausbreiten der Interessen der wahren Anbetung erzielt.
AUF INS FELD!
Die Wacht-Turm-Ausgabe Oktober/November 1919 enthielt den zweiteiligen Artikel „Glückselig sind die Furchtlosen“. Er zeigte in klarer Sprache, daß im Dienst Gottes treues und furchtloses Handeln nötig ist. Gottes Volk reagierte auf diesen Aufruf zur furchtlosen Tätigkeit mit Mut und Begeisterung, und voll Eifer machte es sich an das Werk der Bekanntmachung des Königreiches, das ihm jetzt aufgezeigt worden war. Als Jehovas Gesandte wurden sie wieder geistig lebendig in seinem Dienst. Auf diese Weise erfüllte sich das prophetische Bild der Auferstehung der „zwei Zeugen“ Gottes, das in Offenbarung 11:11, 12 beschrieben wird.
Im Jahre 1920 wurde den Teilnehmern am Zeugniswerk noch stärker bewußt, daß sie eine persönliche Verantwortung trugen zu predigen, da sie von da an wöchentlich über ihre Tätigkeit berichteten. Vor dem Jahre 1918 hatten nur die Kolporteure über ihren Predigtdienst Bericht erstattet. Um die Predigttätigkeit zu erleichtern, wurde den Versammlungen auch ein bestimmtes, abgegrenztes Gebiet zugeteilt. Und was waren die Ergebnisse? 1920 gab es 8 052 „Bibelklassen“-Arbeiter und 350 Kolporteure. Im Jahre 1922 waren von den über 1 200 Versammlungen in den Vereinigten Staaten 980 wieder voll organisiert, um am Predigtwerk teilzunehmen. In diesen Versammlungen waren 8 801 Arbeiter tätig, die biblische Literatur bei Wohnungsinhabern gegen einen Beitrag abgaben.
Als das Werk mit dem Goldenen Zeitalter begann, wurde es folgendermaßen umrissen: „Die Tätigkeit mit dem Goldenen Zeitalter ist eine Werbeaktion von Haus zu Haus mit der Königreichsbotschaft, die dazu dient, den Tag der Rache unseres Gottes zu verkündigen und die Trauernden zu trösten. Außerdem soll in jeder Wohnung ein Exemplar des Goldenen Zeitalters zurückgelassen werden, ob nun ein Abonnement aufgenommen worden ist oder nicht. Die Probeexemplare sind gratis. ... Bibelklassen-Arbeiter erhalten ihre Probeexemplare vom Vorsteher.“ Versammlungen, die an dieser Tätigkeit teilnehmen wollten, ließen sich bei der Watch Tower Society als Dienstorganisation eintragen. Daraufhin ernannte die Gesellschaft in der Ortsversammlung jeweils einen der Brüder zum „Erntewerksvorsteher“. Da er ernannt war, war er keiner jährlichen Wahl durch die Ortsversammlung unterworfen, wie dies damals bei den Ältesten der Fall war.
Nimm einmal an, wir würden uns jetzt kurz der Tätigkeit mit dem Goldenen Zeitalter anschließen. Elva Fischer erzählt uns darüber folgendes: „Wir bekamen unsere erste Lieferung der neuen Zeitschrift Das Goldene Zeitalter im Jahre 1919. ... Damals hatte noch keiner von uns ein Auto, weshalb mein Mann und Audie Bradshaw, sein leiblicher Bruder, unseren kleinen einsitzigen Pferdewagen mit den Zeitschriften beluden und dann loszogen, die gute Botschaft mit Pferd und Wagen zu verkündigen. Da wir einen Bauernhof hatten, blieb meine Schwägerin zu Hause, um das Vieh zu versorgen und sich um die Kinder zu kümmern. Zwei volle Tage lang verbreiteten die Männer die Zeitschriften, denn sie sollten ein Goldenes Zeitalter in jedem Haus zurücklassen. Wir alle freuten uns sehr über diese Gelegenheit, einen Anteil am Predigtwerk zu haben.“
„Man rief Freiwillige auf, die Abonnements auf die Zeitschrift aufnehmen sollten“, berichtet Fred Anderson und fügt hinzu: „Ich meldete mich und hatte zum ersten Mal wirklich die Freude, ein tätiges Zeugnis zu geben. Ich habe seither viele Abonnements aufgenommen und Hunderte von Exemplaren der Zeitschrift, die jetzt Erwachet! heißt, abgegeben. Sie hat sich als ein schlagkräftiges Hilfsmittel erwiesen, die Menschen in bezug auf die kritischen Zeiten aufzuwecken, und hat ihnen die wunderbare Hoffnung auf Leben und Frieden auf einer gereinigten Erde gegeben.“
DAS „ZG“-WERK
Am 21. Juni 1920 wurde eine Zeitschriftenausgabe des Buches Das vollendete Geheimnis zur Verbreitung freigegeben. Sie wurde allgemein „ZG“ genannt. („Z“ bedeutete Zion’s Watch Tower, der ursprüngliche Name des Wacht-Turms, und „G“ als siebenter Buchstabe des Alphabets bedeutete den siebenten Band der Schriftstudien.) Man hatte diese Sonderausgabe des Wacht-Turms (engl.) vom 1. März 1918 während des Verbotes gelagert und konnte sie jetzt für 20 Cent pro Exemplar an die Öffentlichkeit abgeben.
Beulah E. Covey erinnert sich an ihre Tätigkeit mit dem „ZG“ und sagt: „Es war ein ganzseitiges Bild darin, das das Innere einer Kirche zeigte, in der ... zwei Prediger zwischen den Bänken entlanggingen, wobei sie in der einen Hand ein Gewehr und in der anderen den Kollektenteller hatten. Um das ,ZG‘ abzugeben, brauchten wir nur dieses Bild zu zeigen, und gewöhnlich gaben wir vierzig oder fünfzig davon pro Tag ab.“
Die Tätigkeit mit dieser Zeitschriftenausgabe des Buches Das vollendete Geheimnis brachte gute Ergebnisse. Annie Poggensee schreibt beispielsweise: „Ich sprach bei einer Dame vor, die das ,ZG‘ nahm und dann die Tür zumachte. Ich ahnte damals nicht, was für Ergebnisse das Abgeben dieser Wacht-Turm-Sonderausgabe haben würde. Einige Wochen darauf wurde ein Handzettel an ihrer Tür zurückgelassen. Sie erkannte, daß er aus derselben Quelle stammte, und so besuchte sie den Vortrag, der darauf angekündigt wurde. Sie kam auch weiterhin zu den Zusammenkünften, und schließlich kamen auch ihr Ehemann und ihre beiden Töchter. Bald war die ganze Familie Andreson in der Wahrheit.“
„GA“ NR. 27
Dann erschien die Nr. 27 des Goldenen Zeitalters (engl.). „Das war die Ausgabe vom 29. September 1920. Sie enthielt einen genauen Bericht über die Verfolgung und Mißhandlung der Brüder und Schwestern während der Zeit des Widerstandes“, schreibt Roy E. Hendrix, der an der Verbreitung dieser Nummer teilgenommen hat. Amelia und Elizabeth Losch fügen folgendes hinzu: „Darin wurde die gottlose Verfolgung bloßgestellt, die die Geistlichen der Christenheit und ihre politischen und militärischen Verbündeten während des Ersten Weltkrieges über die Internationalen Bibelforscher gebracht hatten. ... In der Versammlung waren neun, die sich weigerten, an diesem Werk teilzunehmen, und eine Petition dagegen unterschrieben. Sie glaubten nicht an den ,treuen und verständigen Sklaven‘. Daher verbreiteten wir zusammen mit drei anderen, die im Glauben festblieben, in nur zwei Wochen 25 000 Exemplare. Am Ende des Feldzuges waren wir müde, doch wir waren glücklich, da wir wußten, daß wir treu im Lichte des Wortes Gottes wandelten.“
Diese Ausgabe hatte eine Auflage von vier Millionen Exemplaren, die teils verschenkt, teils gegen einen freiwilligen Beitrag von 10 Cent pro Exemplar abgegeben wurden. Die Verbreitung geschah hauptsächlich von Haus zu Haus.
DAS WERK IM AUSLAND
Es entstand eine immer größere Nachfrage nach biblischer Literatur. Das traf beispielsweise auf Kanada zu, wo die Zensurbeschränkungen, die über die Watch-Tower-Literatur verhängt worden waren, am 1. Januar 1920 aufgehoben wurden. In jenem Land schien die Verfolgung das Volk Gottes zu größerem Eifer im Predigen und Unterstützen der wahren Anbetung angeregt zu haben.
Am 12. August 1920 begaben sich J. F. Rutherford und eine kleine Gruppe von Mitarbeitern auf eine Reise nach Europa. Sie hielten Kongresse in London, Glasgow und anderen britischen Städten ab. Zusammen mit einigen anderen bereiste Rutherford Ägypten und Palästina. Sie besuchten verschiedene Büros und Bibelklassen und stärkten sie geistig. In Ram Allah wurde ein Zweigbüro der Gesellschaft gegründet. Bruder Rutherford ließ in seinem Jahresbericht wissen, daß die Gesellschaft im Begriff war, ein zentraleuropäisches Büro einzurichten, das das Predigtwerk in der Schweiz, in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich und Italien beaufsichtigen sollte.
DER „MILLIONEN“-FELDZUG
Zu jener Zeit trug auch ein neuer Predigtfeldzug zum Werk des Jüngermachens bei: der „Millionen“-Feldzug. Dazu gehörte die Verbreitung des 128seitigen Buches Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!, das an die Öffentlichkeit gegen einen Beitrag von 25 Cent pro Exemplar abgegeben wurde. Man setzte das Buch in Verbindung mit einem Programm von öffentlichen Vorträgen ein, das am 25. September 1920 begann und dessen Mittelpunkt ein Vortrag bildete, den J. F. Rutherford am 24. Februar 1918 in Los Angeles gehalten hatte (ursprünglicher Titel: „Die Welt ist am Ende — Millionen jetzt Lebender mögen nie sterben!“) und der 1920 in dem neuen Buch veröffentlicht worden war.
Zurückblickend sagt Lester L. Roper: „Dann war ich an der Reihe, den Vortrag zu halten über das Thema ,Erhebet ein Panier über die Völker — Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!‘ Ich war ja gewohnt, vor Publikum zu sprechen, doch das war etwas anderes. Mir war, als könnte ich jeden Augenblick im Fußboden versinken. Ich glaube, man brauchte allerhand innere Festigkeit, den Leuten zu sagen: ,Millionen jetzt Lebender werden nie sterben‘, wo doch damals erst sehr wenige auf der ganzen Erde in der Wahrheit waren!“
Millionen jetzt Lebender werden nie sterben! wurde später übersetzt und in verschiedenen Sprachen veröffentlicht. Im Gegensatz zum „pastoralen Werk“, bei dem die Bücher ausgeliehen wurden, händigte man die „Millionen“-Bücher gegen einen Beitrag aus, und Interessierte konnten später die Bände der Schriftstudien erhalten. Der „Millionen“-Feldzug dauerte eine ganze Zeit lang an; dadurch wurde ein großes Zeugnis gegeben. Um den Vortrag in der Öffentlichkeit bekanntzumachen, setzte man Annoncen in die Zeitung und verwendete große Plakate, auf denen stand: „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!“ Dieser Feldzug nahm derartige Ausmaße an, daß man sich dieses Schlagwortes noch heute erinnert.
Über die Auswirkungen des „Millionen“-Feldzuges schreibt Rufus Chappell: „Wir boten das Buch Millionen jetzt Lebender werden nie sterben! in und um Zion [Illinois] an und erzielten dabei bemerkenswerte Ergebnisse. Ich kann mich an eine große Leuchtreklame über dem Gebäude der Färberei und Reinigung Waukegan erinnern — acht Kilometer von Zion entfernt, an der Landstraße nach North Sheridan —, die lautete: ,We Dye for the Millions Now Living Who Will Never Die‘ [,Wir färben für die Millionen jetzt Lebender, die nie sterben werden‘]. Damals sprach man viel über dieses Thema, und viele Leute, die den Satz anzweifelten, lernten die Wahrheit durch dieses Buch kennen.“
EIN NEUES BUCH KURBELT DEN FORTSCHRITT AN
Die Bibelforscher hatten die Bände der Schriftstudien Jahre hindurch gelesen und überall verbreitet. Doch 1921 wurde ein neues, von J. F. Rutherford verfaßtes Buch veröffentlicht: Die Harfe Gottes. Es erreichte schließlich eine Auflage von 5 819 037 Exemplaren in 22 Sprachen. „Als Die Harfe Gottes herauskam, war dies wahrhaftig ein Segen. Unsere Gebete waren beantwortet worden“, sagt Carrie Green. Er fährt fort: „Es machte die Wahrheit einfacher; die verschiedenen Teilgebiete der vollständigen Wahrheit wurden alle durch die ,Saiten einer Harfe‘ veranschaulicht.“
In dieser Veröffentlichung wurde das Vorhaben Jehovas als „die zehn Saiten der Harfe Gottes, der Bibel“, erläutert. Die „zehn Saiten“ oder Überschriften des Buches waren: „Die Schöpfung“, „Gerechtigkeit geoffenbart“, Die Abrahamische Verheißung“, „Die Geburt Jesu“, „Das Lösegeld“, „Auferstehung“, „Geheimnis enthüllt“, „Unseres Herrn Wiederkunft“, „Verherrlichung der Kirche“ und „Wiederherstellung“. Da es ein Buch für Anfänger war, enthielt es Fragen zum Selbst- und auch Gruppenstudium. Bei ihrer Tätigkeit von Haus zu Haus boten die Bibelforscher diese Veröffentlichung zusammen mit einem vollständigen Fernkursus an. Der Kursus bestand aus zwölf Fragebogen in Kartenform. Diese wurden mit der Post versandt, jede Woche eine Karte. So kam es vor, daß eine Durchschnittsversammlung in Verbindung mit diesem Kursus jede Woche 400 bis 500 Karten verschicken mußte. Dieses Werk wurde mehrere Jahre lang fortgesetzt und erwies sich als äußerst nützlich. Hazel Burford erzählt: „Wir führten auch Studien in den Wohnungen der Interessierten durch, so ähnlich, wie wir es heute im Heimbibelstudienwerk tun, außer daß eine ganze Gruppe von Verkündigern dabei war, so wie bei unserem Versammlungsbuchstudium.“
GEBÄUDE ZUR FÖRDERUNG DES PREDIGTWERKES
Die Watch Tower Society wollte in dem Jahr nach dem Ersten Weltkrieg eine große Rotationspresse kaufen, um selbst einen Teil der Druckaufträge erledigen zu können. Damals gab es nur wenige davon im Lande, und sie alle waren in Betrieb. Es sah so aus, als ob für viele Monate keine Möglichkeit bestände, eine solche Maschine zu bekommen. Doch Jehovas Hand ist nicht zu kurz, und im Jahre 1920 nahmen Mitarbeiter des Hauptbüros eine große Rotationspresse in Betrieb. Sie wurde liebevoll das „alte Schlachtschiff“ genannt, und im Laufe der Jahre stellte sie Millionen von Zeitschriften, Broschüren und anderen Veröffentlichungen her.
Nach dem Kauf des „alten Schlachtschiffes“ mietete die Gesellschaft Fabrikräume in der Myrtle Avenue 35 in Brooklyn. Nachdem W. L. Pelle und W. W. Kessler am 22. Januar 1920 im Bethel eingetroffen waren, teilte man sie zur Arbeit in diesem Gebäude ein. Bruder Pelle berichtet uns: „Zuerst mußten wir die Wände im Erdgeschoß des Gebäudes in der Myrtle Avenue 35 waschen. Das war die schmutzigste Arbeit, die ich je getan hatte, doch hier war es anders. Wir waren glücklich. Es war das Werk des Herrn, und dafür lohnte es sich. Wir brauchten etwa drei Tage, um alles sauber zu bekommen, und dann konnte die Versandabteilung eingerichtet werden. Unten, im Keller, wurde die Rotationspresse (das ,Schlachtschiff‘) zusammengesetzt, und oben, im ersten Obergeschoß, wurden die Flachpresse sowie die Maschinen zum Falzen und Heften einsatzbereit gemacht.“
Bald lief alles. Bruder Pelle fährt fort: „An der Flachpresse arbeiteten zwei Brüder, die erfahrene Maschinisten und Drucker waren. Bruder Kessler bediente die Falzmaschine und ich die Heftmaschine. Dann kam der aufregende Augenblick, als das allererste Exemplar des Wacht-Turms (Ausgabe vom 1. Februar 1920) auf unserer eigenen Presse gedruckt wurde. Wir waren damals sehr glücklich. Es dauerte nicht lange, und die ,Schlachtschiff-Presse‘ im Keller druckte Nr. 27 des Goldenen Zeitalters. Der Anfang war zwar klein, doch seither ist die Druckerei ständig gewachsen!
Das Predigtwerk befand sich im Vormarsch. Im Jahre 1922 bestand ein erheblich größerer Bedarf an Literatur. Daher verlegte die Gesellschaft ihre Druckerei am 1. März 1922 in ein sechsstöckiges Gebäude an der Concord Street 18 in Brooklyn. Zu Anfang nahm sie vier Stockwerke ein, später alle sechs. Dort druckte die Gesellschaft zum ersten Mal gebundene Bücher. Das Gebäude in der Myrtle Avenue wurde als Lager für Papier und Bücher verwendet.
Der Transport des „alten Schlachtschiffes“ von der Myrtle Avenue zur Concord Street erwies sich als ein beträchtliches Problem. Lloyd Burtch erzählte einmal, wie man es schaffte:
„Am 1. März 1922 verlegten wir unsere Druckerei von der Myrtle Avenue in die erweiterten Räumlichkeiten an der Concord Street 18 in Brooklyn. Den größten Teil der schweren Ausrüstung transportierten wir mit einem kleinen Lastwagen. Als jedoch die großen Zylinder der ,Schlachtschiff‘-Druckpresse an die Reihe kamen, sahen wir, daß sie für den Lastwagen zu schwer waren. Wir wußten nicht mehr weiter. Keiner wußte, wie wir sie in die neue Fabrik hinüberbekommen würden, doch als wir am nächsten Morgen aufwachten, war unser Problem gelöst.
Während der Nacht waren unerwartet fünf Zentimeter Schnee gefallen, und das löste unser Problem. Wir bauten eine Art Schlitten und rollten die Zylinder darauf. Dann spannten wir den Lastwagen vor den Schlitten und zogen ihn an Ort und Stelle, wobei der Schlitten mit Leichtigkeit über den Schnee glitt. In der Concord Street ließen wir dann die Zylinder durch das Kellerfenster hinab. Noch Jahre danach machte es R. J. Martin, dem Leiter des Betriebes, Freude, den Brüdern auf Kongressen von diesem unerwarteten Schneefall zu erzählen, der unser Umzugsproblem löste.“
Bald darauf rollte das „alte Schlachtschiff“ wieder an, diesmal in der Fabrik in der Concord Street. Das alte Haus wackelte so sehr, daß Martin zu sagen pflegte: „Die Engel halten dieses Gebäude zusammen.“
NUR MIT DER HILFE JEHOVAS
„Daß jemand mit nur wenig oder gar keiner Erfahrung mit Erfolg Bücher und Bibeln auf Rotationspressen drucken konnte, ist ein Beweis dafür, daß Jehova sein Werk beaufsichtigt und es durch seinen Geist leitet“, bemerkt Charles J. Fekel. Er ist schon seit 1921 im Bethel. Bruder Fekel hat die Entwicklungen im Hauptbüro der Gesellschaft während eines halben Jahrhunderts miterlebt und versichert uns: „Für alle Aufgaben fand sich stets jemand, so daß wir nichts zweimal oder umsonst zu tun brauchten. Große Vorhaben, die lange vorher geplant waren, wurden trotz des Widerstandes Satans rechtzeitig fertig.“
Als die Gesellschaft damals, im Jahre 1922, ihre Fabrik in die Concord Street 18 in Brooklyn verlegte, kaufte sie eine vollständige Setzerei, Galvanisiereinrichtung, Druckerei und Buchbinderei, das meiste davon neu. Der Präsident einer der großen Druckereien, die viel für die Gesellschaft gedruckt hatten, sah die Ausrüstung und sagte: „Da haben Sie nun eine erstklassige Druckerei und keinen in dem ganzen Ding, der weiß, wie man mit so was umgeht. Sechs Monate und das Ganze ist ein Haufen altes Eisen; dann werden Sie sehen, daß es doch am besten ist, wenn diejenigen für Sie drucken, die es schon immer getan haben und die sich damit auskennen.“
Es stimmt, daß es äußerst schwierige Probleme gab. Doch mit der Hilfe Gottes machten die Brüder wunderbare Fortschritte. Man beachte folgendes Beispiel: Vor einigen Jahren brauchte ein Fachmann aus Deutschland mit mehreren Gehilfen zwei Monate, um eine große Druckpresse aufzustellen, die die Gesellschaft gekauft hatte. Zwei Jahre später baute ein Bruder aus dem Bethel mit seinen Gehilfen eine Presse von derselben Größe und Art in nur drei Wochen auf.
Die Brüder im Hauptbüro der Gesellschaft strengten sich an. Sie lernten hinzu, und es dauerte nicht lange, bis sie Bücher von guter Qualität herstellten. Zuerst konnten sie nur 2 000 pro Tag binden, doch im Jahre 1927 stellten sie jeden Tag 10 000 bis 12 000 Bücher her.
ZURÜCK NACH CEDAR POINT
Kurz nachdem die Gesellschaft die Arbeit in ihrer Fabrik in der Concord Street in Brooklyn (New York) aufgenommen hatte, versammelte sich Gottes Volk vom 5. bis 13. September 1922 zu einem internationalen Kongreß. Und wo? In Cedar Point (Ohio), wo schon im Jahre 1919 die Hauptversammlung der Bibelforscher abgehalten worden war. Inzwischen war die Organisation gewachsen. Zum Kongreß im Jahre 1922 kamen Delegierte aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa. Täglich waren durchschnittlich 10 000 Personen anwesend, am Sonntag waren es zwischen 18 000 und 20 000. Es wurden 361 Personen getauft. Das Programm wurde zugleich in Englisch und in verschiedenen anderen Sprachen abgehalten; manchmal fanden elf verschiedene Zusammenkünfte zur selben Zeit statt.
Stell dir vor, du wärest in Cedar Point auf dem Kongreß, der geistige Stärkung brachte. Beachte die großen Transparente, die in Holz gearbeiteten kleinen Schilder an den Bäumen und die weißen Plakate an den Stützpfosten und anderswo. Auf allen stehen die Buchstaben „A D V“. Was bedeuten sie? Manche meinen, sie bedeuteten „After Death Victory“ (Nach dem Tod der Sieg), da der gesalbte Überrest immer noch sehr darum besorgt ist, in den Himmel zu kommen. Andere sind der Ansicht, diese Buchstaben würden „Advise the Devil to Vacate“ (Sagt dem Teufel, er soll gehen) bedeuten.
Die Spannung dauerte bis Freitag, den 8. September, der als „Der Tag“ bezeichnet wurde, als Richter Rutherford über das Thema „Das Königreich“ sprach. T. J. Sullivan bemerkte darüber: „Wer bei dieser Zusammenkunft damals mit dabeisein durfte, sieht immer noch Bruder Rutherford vor sich, wie er den paar Unruhigen, die wegen der großen Hitze umherliefen, eindringlich sagte, sich ,HINZUSETZEN‘ und der Ansprache auf jeden Fall ,ZUZUHÖREN‘.“ Bruder Rutherford sprach u. a. über das Ende der Heidenzeiten im Jahre 1914 und zitierte die gotteslästerliche Erklärung des Generalrates der Kirchen Christi, in der der Völkerbund als der „politische Ausdruck des Königreiches Gottes auf Erden“ willkommen geheißen wurde. Stelle dir vor, du säßest in der Zuhörerschaft, während Rutherford sich dem dramatischen Abschluß seines Vortrages nähert. Während du gespannt zuhörst, sagt er:
„... Seit 1914 hat der König der Herrlichkeit seine Macht an sich genommen und herrscht. Er hat die Lippen der Tempelklasse geläutert und sendet sie hinaus mit der Botschaft. Die Wichtigkeit der Botschaft des Königreiches kann nicht stark genug hervorgehoben werden. Es ist die Botschaft aller Botschaften. Es ist die Botschaft des Tages, ja die Botschaft der Stunde. Es ist die Pflicht derer, welche des Herrn sind, sie in alle Welt hinauszurufen. Das Königreich des Himmels ist nahe gekommen; der König regiert; Satans Reich bricht zusammen; Millionen jetzt Lebender werden nie sterben.
Glaubt ihr es? ...
Dann zurück in das Feld, o ihr Söhne des höchsten Gottes! Umgürtet euch mit eurer Waffenrüstung! Seid nüchtern, seid wachsam, seid tätig, seid tapfer! Seid treue und glaubensstarke Zeugen für den Herrn! Geht mutig vorwärts in dem Kampfe, bis jede Spur Babylons wüst und öde gemacht ist! Verkündet die Botschaft weit und breit! Die Welt muß es wissen, daß Jehova Gott ist und daß Jesus Christus König der Könige und Herr der Herren ist! Dies ist der Tag aller Tage. Siehe, der König regiert! Ihr seid seine öffentlichen Verkündiger, um seine Botschaft überallhin bekanntzumachen. Deshalb verkündet, verkündet, verkündet den König und sein Königreich.“
Genau in diesem Augenblick wurde ein dreifarbiges Transparent von zwölf Meter Länge über der Rednertribüne entrollt. Es zeigte in der Mitte ein großes Bild Christi und außerdem die Worte „Advertise the King and Kingdom“ („Verkündet den König und das Königreich“). Nun wußte man es. Die rätselhaften Buchstaben „A D V“ bedeuteten „ADVERTISE“ (verkündet). Was sollte verkündet werden? Das war doch klar: „Verkündet den König und das Königreich“! „Man kann sich die Begeisterung vorstellen“, ruft George D. Gangas aus, „die Freude und die Aufregung, die die Brüder empfanden. So etwas hatten sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. ... Es war etwas, was sich meinem Herzen und meinem Sinn unauslöschlich einprägte, was ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde.“ C. James Woodworth, der damals als sechzehnjähriger Junge im Kongreßorchester saß, erinnert sich: „Das war ein dramatischer Augenblick. Und wie die Zuhörer klatschten! Der alte Bruder Pfannebecker schwenkte seine Geige über dem Kopf hin und her und rief mir zu: ,Ach ja! Und nau wi du it, no?‘ “
ZUM VERKÜNDIGEN DES KÖNIGREICHES ANGEREGT
Und so geschah es. Seither haben Gottes Diener nie aufgehört, mutig den König und das Königreich zu verkünden. Bei ihrer Abfahrt von Cedar Point waren die Bibelforscher glühend im Geiste, sie brannten vor Begeisterung für das Predigtwerk, das vor ihnen lag. „Man kann mit Worten nicht beschreiben, wie wir spürten, daß es vorwärtsging; wir wollten heim und verkündigen“, erzählt Ora Hetzel. Schwester J. W. Bennecoff sagt noch: „Wir waren wachgerüttelt worden durch die Worte: ,Verkündet, verkündet, verkündet den König und das Königreich‘, und das wollten wir mit größerem Eifer und mehr Liebe in unserem Herzen als je zuvor tun.“
Sogar schon vor ihrer Abfahrt von Cedar Point erhielten die Kongreßteilnehmer eine Gelegenheit, das Königreich zu verkünden. Montag, der 11. September 1922, war der „Tag des Dienstes“. Mehrere hundert Autos mit jeweils fünf oder mehr Insassen waren im Einsatz; alle waren gut mit biblischer Literatur versorgt und standen bereit, den König und das Königreich im Predigtdienst zu verkünden. „Meine Karte mit ,Arbeitsanweisungen‘ trug die Nr. 144“, sagt Dwight T. Kenyon. „Darauf stand: ,Die Autos stellen sich pünktlich um 6.30 Uhr morgens an der Seepromenade (in Cedar Point) auf, und zwar in der Reihenfolge ihrer Nummer auf dem Kühler. Dein Auto hat Nr. 215, du bist Arbeiter Nr. 5 ...‘ Insgesamt waren wir sieben Personen im Wagen. Wir fuhren mit einem Wohnbus, der zwei Kolporteuren gehörte. Uns war Milan (Ohio) zugeteilt, ein paar Meilen weit weg. Ich entsinne mich, daß Bruder Rutherford sogar zu dieser frühen Stunde am Treffpunkt war, um uns zu verabschieden.“
Es stimmt, J. F. Rutherford war dort, um sie zu „verabschieden“. Das war jedoch nicht alles. „Bruder Rutherford saß im ersten Auto, das an diesem Morgen abfuhr“, bemerkt Sara C. Kaelin. John Fenton Mickey fügt hinzu: „Bruder Rutherfords Wagen war der erste. Er hatte meine Frau und mich eingeladen sowie Clara Myers, die Schwester meiner Frau, und Richard Johnson mit seiner Frau. Da unsere kleine Tochter krank wurde, konnte ich nicht mitfahren. ... Der erste Wagen hatte als Gebiet die Landstraße zwischen Cedar Point und Sandusky (Ohio) zugeteilt bekommen. Bruder Rutherford nahm das erste Haus, Clara Myers das nächste, und so ging es weiter bis zum Schluß. Dann kehrten sie zum Kongreß zurück.“
AUFRUFE ZU VERMEHRTEM KÖNIGREICHSDIENST HABEN ERFOLG
Jehovas Zeugen hatten zwar schon jahrelang etwas von Haus zu Haus gepredigt, doch jetzt wurde das Werk beschleunigt. Von Oktober 1922 an wurde das Predigen von Tür zu Tür durch die Informationen sehr erleichtert, die in einem monatlich erscheinenden Dienstanweisungsblatt, betitelt Bulletin, erschienen.
Auch durch ihre Zusammenkünfte wurden die Bibelforscher weiterhin reich mit geistiger Speise versorgt. Als erstes wurden 1922 Gruppenstudien anhand des Wacht-Turms eingerichtet. Als Hilfe zum Studium wurden Fragen gedruckt. Der größere Nachdruck, der auf den Predigtdienst gelegt wurde, wirkte sich auch auf die christlichen Zusammenkünfte aus. Dies betraf besonders die in der Mitte der Woche stattfindenden Gebets-, Lobpreisungs- und Zeugnisversammlungen. Lange hatte man gesungen, Zeugnis abgelegt und gebetet. Doch in den frühen 1920er Jahren änderte sich das mit dem Beginn der Verkündigung des Königreiches von Haus zu Haus. James Gardner schreibt über diese Änderung: „Am 1. Mai 1923 setzte ein bedeutsamer Fortschritt ein. Man legte den ersten Dienstag eines jeden Monats als besonderen Tag des Dienstes fest, damit die ,Bibelklassen‘-Arbeiter mit den von der Gesellschaft ernannten ,Vorstehern‘ am Predigtdienst teilnehmen konnten. Um das Werk in Gang zu bringen und die Brüder noch mehr zu ermuntern, sah man vor, daß von nun an in den Gebetsversammlungen, die jeden Mittwochabend stattfanden, die Hälfte der Zeit dazu verwendet werden sollte, Zeugnisse aus dem Predigtdienst zu berichten.“ T. H. Siebenlist fügt hinzu: „Später wurde in den Zusammenkünften am Mittwochabend auch das von der Gesellschaft herausgegebene Dienstanweisungsblatt, das Bulletin, betrachtet. Als daher der Predigtdienst mehr hervorgehoben wurde, war die Versammlung in Shattuck (Oklahoma) bald eifrig beim Predigen und lernte die Zeugnisse auswendig, sobald sie im Bulletin erschienen.“
Die Gesellschaft begann im Jahre 1923 auch, an mehreren Sonntagen im Jahr ein besonderes „weltweites Zeugnis“ vorzusehen. Dies erforderte gemeinsame Anstrengungen, da auf der ganzen Erde zugleich Zusammenkünfte für die Öffentlichkeit abgehalten werden mußten. Alle Bibelforscher wurden ermuntert, Vorträge wie „Satans Reich fällt — Millionen jetzt Lebender werden nie sterben“ anzukündigen.
Anfang 1927 wurde in den Vereinigten Staaten damit begonnen, jeden Sonntag von Haus zu Haus Bücher und Broschüren gegen einen Beitrag zu verbreiten. „Manche fragten sich, wie es wohl ausgehen würde, da sie wußten, daß die Welt gegen uns war“, sagt James Gardner dazu. Er fährt fort: „In manchen Gegenden wurde dadurch oft tatsächlich eine Welle der Verfolgung hervorgerufen. Doch der ,treue und verständige Sklave‘ hatte dazu aufgerufen. Warum sollten wir deshalb zögern? Wir machten uns freudig ans Werk, und obwohl mancher sich beschwerte, daß wir ,sonntags Bücher verkauften‘ usw., stellte es sich doch bald heraus, daß Jehova sein Volk überall in der Welt leitete. Selbst heute noch ist der Sonntag ein günstiger Tag hinauszugehen, und das tun wir auch regelmäßig.“
AN DER TÜR
Möchtest du gern mit einigen Königreichsverkündigern von damals am Predigtwerk von Tür zu Tür teilnehmen? Myrtle Strain erklärt, wie sie es taten: „Meistens erklärten wir, was in den Büchern stand, und dabei zeigten wir uns auch ganz schön geschäftstüchtig. Doch oft wurden wir in die Wohnung eingeladen, und dann erklärten wir kurz das ganze Vorhaben Gottes, wenn der Wohnungsinhaber Interesse zeigte, wobei wir mit dem Sündenfall begannen und fortfuhren bis zur Wiederherstellung des Menschen. Manchmal blieben wir etwa eine ganze Stunde in einem Haus.“
„In jener Zeit mit Jehovas Volk verbunden gewesen zu sein brachte viele unvergeßliche Erinnerungen“, bemerkt Martha Holmes. „Ich erinnere mich, wie wir zu fünft die verstreuten Ortschaften um Des Moines (Iowa) bearbeiteten. Manchmal sind wir vor Sonnenaufgang losgefahren und bis nach Sonnenuntergang unterwegs gewesen. Das Auto, das wir damals hatten, hatte noch kein festes Verdeck, keinen Bremskraftverstärker, keine Lenkhilfe, auch war es nicht mit einer Heizung oder einer Klimaanlage ausgestattet. Meistens mußten wir auf unbefestigte Landstraßen fahren. Wir blieben im Schlamm stecken und mußten Bretter unter die Räder schieben, um den Wagen wieder freizubekommen. Unser Fahrzeug hatte ausknöpfbare Seitenteile aus Stoff, die man verwendete, wenn es regnete oder schneite. Wir nahmen uns Reiseverpflegung mit und aßen im kalten Wagen. Einmal kam ein heftiger Sturm auf, nachdem wir in Newton (Iowa), etwa 50 Kilometer von Des Moines entfernt, mehrere Stunden im Predigtwerk gestanden hatten. Da der Wind Sturmstärke erreichte, war es schwierig, den Wagen auf der Straße zu halten. Dazu hatte sich noch das Segeltuchverdeck gelöst und schlug dauernd im Wind hin und her. Als wir schließlich wieder in Des Moines ankamen, waren wir alle naß bis auf die Haut. Bestimmt haben die Leute, die uns beobachtet haben, gedacht: ,Was für ein verrückter Haufen!‘ “
Oft wurden ihre Bemühungen jedoch durch ausgezeichnete Ergebnisse belohnt. Julia Wilcox erinnert sich beispielsweise immer noch an den Tag in den 1920er Jahren, an dem sie als neuer Königreichsverkündiger allein von Haus zu Haus in Washington (Nordkarolina) arbeitete. Sie traf eine Frau an, die sich sehr für die Broschüre der Gesellschaft, betitelt Kann man mit den Toten reden?, interessierte und Literatur nahm. Schwester Wilcox sagt:
„Als ich mich verabschieden wollte, um sie nicht zu lange aufzuhalten, ließ sie mich nicht gehen. Ihre Geschichte ging so:
,Ich weiß, der Herr hat Sie heute hierhergeschickt. Sie sind die Antwort auf unsere Gebete. Meine Mutter und ich haben gebetet, daß Gott uns zum Licht führen möge. Unser ganzes Leben lang waren wir Mitglieder der Methodisten-Kirche, doch seit kurzem gehen wir nicht mehr zur Kirche, weil sie uns nichts bietet. Alles, was wir dort hören, ist Geld, Geld und noch mehr Geld. Neulich sah meine Mutter in einer Zeitschrift eine Anzeige, in der von einem Buch die Rede war, das vom Spiritismus und davon, wie man direkt mit Gott sprechen kann, handelte. Sie sagte mir, ich solle das Buch bestellen und feststellen, was wir daraus lernen könnten. Ich habe den Brief mit der Bestellung zwar geschrieben, doch aus irgendeinem Grund vergessen, ihn abzuschicken. [Der Brief wurde auch nie abgeschickt.] Jetzt lese ich erst einmal die Bücher, die ich von Ihnen bekommen habe, und wenn meine Mutter mich wieder besucht, wird sie sie ebenfalls lesen. Versprechen Sie mir bitte, uns bald wieder zu besuchen?‘
Ich habe es natürlich versprochen. Dies sollte mein erster Rückbesuch sein. Das Rückbesuchswerk wurde damals noch nicht so hervorgehoben. Man legte Wert darauf, Gebiete zu bearbeiten und Literatur zurückzulassen. Als ihre Mutter kam, ging ich aber trotzdem wieder dorthin, so, wie ich es versprochen hatte. Sie hatten die Literatur, die ich beim ersten Besuch zurückgelassen hatte, ,verschlungen‘ und wollten mehr haben. Von da an nahmen sie alles, was die Gesellschaft veröffentlicht hatte. ... Ich bin sehr froh, berichten zu können, daß Schwester [Sophia] Carty, bei der ich meinen ersten Rückbesuch machte, bis zu ihrem Tode im Jahre 1963 treu war im Dienst und im Besuch der Zusammenkünfte.“
SIEBEN ENGEL BLASEN IHRE TROMPETE
Damals, in den 1920er Jahren, hatten Jehovas Diener alle Hände voll zu tun, den König und das Königreich zu verkünden, und sie erzielten sehr gute Ergebnisse. Doch darüber hinaus hatte Gottes Volk einen Anteil an der begeisternden Erfüllung von Prophezeiungen der Offenbarung, obwohl sie es damals noch nicht erkannten. Während sieben Engel ihre Trompete bliesen, spielten wahre Christen in dramatischen Ereignissen auf der Erde eine Rolle, und sie haben daran bis in die heutige Zeit hinein einen Anteil (Offb. 8:1 bis 9:21; 11:15-19).
Von der Zeit an, da der erste Engel seine Trompete blies, ist auf die Christenheit ein sinnbildlicher verwüstender Hagel herniedergeprasselt — schwerwiegende Enthüllungen, die sich auf die biblische Wahrheit gründen (Offb. 8:7). Dies begann während des Kongresses der Bibelforscher in Cedar Point im September 1922. Gottes Volk nahm dort begeistert eine Resolution an mit dem Titel „Eine Herausforderung“. Darin wurde die Untreue der Geistlichkeit gegenüber Gott freimütig bloßgestellt, weil sie am Krieg teilgenommen hatte und danach sein messianisches Königreich ablehnte, indem sie für den Völkerbund als den politischen Ausdruck dieses Königreiches eintrat. Vom Oktober des Jahres 1922 an wurden 45 000 000 Exemplare der Resolution und anderen Stoffes, der sie unterstützte, in der ganzen Welt verbreitet. Von jener Zeit an wurde der Anspruch der Christenheit (ihrer katholischen und protestantischen Geistlichkeit sowie ihrer Kirchenmitglieder), die wahren Nachfolger Jesu Christi zu sein, als falsch bloßgestellt.
Unter der Führung des zweiten Engels mit seiner Trompete kamen die Bibelforscher vom 18. bis 26. August 1923 zu einem regionalen Kongreß in Los Angeles (Kalifornien) zusammen. Dort wurde mit überwältigender Mehrheit eine Geschichte machende Resolution, betitelt „Ein Warnruf“, angenommen. Sie stellte das Versagen der Geistlichkeit der Christenheit bloß, bei der Verkündigung der Königreichsbotschaft mitzuwirken, und appellierte an schafähnliche Menschen, sich nicht wie die Geistlichkeit dem Völkerbund, sondern Gottes Königreich als „dem einzigen Heilmittel für alle Übel, sowohl für die Übel einzelner als auch ganzer Nationen“, zuzuwenden. Das Versagen der Geistlichkeit in dieser Beziehung ist einer der Hauptgründe für das Aufkommen radikaler, revolutionärer Elemente, die durch das unruhige „Meer“ dargestellt werden. Die Radikalen können jedoch der Menschheit auch kein Leben geben, ebensowenig wie vergossenes Menschenblut Leben geben kann. Im Dezember 1923 begann man mit dem Druck des Traktates Proklamation — Ein Warnruf an alle Christen, das die Kongreßresolution enthielt. In den Vereinigten Staaten wurden davon 13 478 400 gedruckt, dazu noch Millionen weitere in anderen Ländern. Doch die Massenverbreitung dieser Proklamation war nur der Anfang. Bis zum heutigen Tage haben die gesalbten Nachfolger Jesu viele Proklamationen für Gottes Königreich verfaßt (Offb. 8:8, 9).
Als der dritte Engel seine Trompete blies, wurde ein Drittel der Wasser zu Wermut (Offb. 8:10, 11). Bedeutsamerweise nahm Gottes Volk auf dem Kongreß der Bibelforscher, der vom 20. bis 27. Juli 1924 in Columbus (Ohio) abgehalten wurde, begeistert eine Resolution mit dem Titel „Anklage“ an. Darin wurden die verkehrten und Gott entehrenden Lehren der abgefallenen Geistlichkeit der Christenheit bloßgestellt, und es wurde gezeigt, daß der religiöse Weg, auf dem sie und ihre politischen Verbündeten die Menschen leiten, zum Tode führt. Die Geistlichen ließen die Menschen etwas trinken, was so bitter war wie Wermut und ihren geistigen Tod und schließlich Vernichtung herbeiführen würde. Die Kongreßresolution war in dem Traktat Offene Anklage gegen die Geistlichkeit enthalten, von dem 13 545 000 Exemplare in den Vereinigten Staaten gedruckt wurden. Millionen weitere in anderen Sprachen wurden im Ausland gedruckt, so daß schließlich 50 000 000 Exemplare verbreitet wurden. Auch im Wacht-Turm wurde die Anklage veröffentlicht. Wiederum war dies erst der Anfang. Jehovas Diener fuhren fort, durch das Radio, durch Bücher, Broschüren, Zeitschriften und mündliches Zeugnis darauf hinzuweisen, daß die Lehren der Geistlichkeit der Christenheit keine Wasser des Lebens sind, sondern zum Tode führen.
Im Jahre 1925 stand der vierte Engel bereit, seine Trompete zu blasen. Nachdem dies geschehen war, wurde ein Drittel der Sonne, des Mondes und der Sterne geschlagen und verfinsterte sich (Offb. 8:12). Auf einem regionalen Kongreß in Indianapolis (Indiana), der vom 24. bis 31. August 1925 abgehalten wurde, unterstützte Gottes Volk freudig eine Resolution mit dem Titel „Botschaft der Hoffnung“. Darin waren Äußerungen der Anteilnahme enthalten, doch es wurde auch gezeigt, daß die Menschen innerhalb der Christenheit, die das geistige Licht der Welt zu sein behauptet, in Finsternis geraten sind. Die Resolution wurde im Wacht-Turm und im Goldenen Zeitalter veröffentlicht; darüber hinaus wurden viele Millionen Exemplare in mehreren Sprachen in Form eines Traktates verbreitet. Dadurch wurden die Menschen darüber informiert, daß das Licht der himmlischen Wahrheit und der göttlichen Gunst in der Christenheit nicht scheint.
Als im Frühjahr 1926 der fünfte Engel seine Trompete blies, wurde damit ein Angriff von symbolischen Heuschrecken angekündigt (Offb. 9:1-11). In jenem Jahr hielten die Bibelforscher vom 25. bis 31. Mai einen internationalen Kongreß in London ab. Die Resolution, die sie dort ganzherzig annahmen, hieß „Ein Zeugnis an die Herrscher der Welt“. Darin und auch in dem erläuternden öffentlichen Vortrag „Warum wanken die Weltmächte? — Das Heilmittel“, den Bruder Rutherford am Sonntag, dem 30. Mai, vor einer gewaltigen Zuhörerschaft in der Royal Albert Hall hielt, wurde der satanische Ursprung des Völkerbundes enthüllt und das Versagen der Geistlichkeit gezeigt, Gottes messianisches Königreich zu unterstützen. In dem neuen Buch Befreiung sowie in der Broschüre Das Panier für das Volk wurden ähnliche Gedanken veröffentlicht. Am Montag früh widmete die Londoner Zeitung The Daily News der Resolution und der Zusammenfassung des Vortrages vom Sonntag eine ganze Seite; außerdem war darin eine Ankündigung der Ansprache Rutherfords für Montagabend. Für den Abdruck in der Zeitung war ein beträchtlicher Betrag bezahlt worden, und etwa eine Million oder mehr Exemplare von dieser Ausgabe wurden veröffentlicht.
Im Laufe der Zeit wurden mehr als 50 000 000 Exemplare der Resolution „Ein Zeugnis“ auf der ganzen Erde als Traktat in vielen Sprachen verbreitet. Die Aufdeckung menschlicher Pläne, die im Namen der Religion gegen Gottes Königreich entworfen worden waren, stach wie der Stich des Schwanzes eines Skorpions, und diese Wirkung besteht auch heute noch.
Als der sechste Engel seine Trompete blies, wurden vier symbolische Engel losgebunden, und 200 000 000 symbolische Pferde gingen daran „ein Drittel der Menschen zu töten“. Jene „Pferde“ stellen die Mittel zur Bekanntmachung einer furchterregenden Gerichtsbotschaft dar, besonders in gedruckter Form. Dies begann mit einem bemerkenswerten Ereignis des Jahres 1927: dem internationalen Kongreß der Bibelforscher in Toronto (Ontario) in Kanada (Offb. 9:13-19). Am Sonntag, dem 24. Juli, hörten dort im Kongreßsaal etwa 15 000 Personen zu, als J. F. Rutherford eine Resolution, betitelt „An die Völker der Christenheit“, verlas; die Christenheit macht etwa ein Drittel der Menschheit aus. Aufrichtige Personen wurden dringend aufgefordert, die Christenheit zu verlassen, um nicht mit ihr vernichtet zu werden. Die Menschen wurden aufgefordert, sich Jehova Gott, seinem König und Königreich völlig hinzugeben und nur ihm ergeben zu sein. Rutherford trug der Zuhörerschaft die Resolution nach seiner Ansprache „Freiheit für die Völker“ vor, worauf sich die Zuhörer erhoben, um mit einem donnernden „Ja“ ihre Zustimmung zu der Resolution zu geben. Millionen von Zuhörern konnten diese Vorgänge durch ein internationales Rundfunknetz von 53 Stationen — dem bis dahin umfangreichsten — im Radio verfolgen. „Rutherford spricht über riesiges Rundfunknetz“, schrieb die New Yorker World am Montag, dem 25. Juli 1927. „Größtes Rundfunknetz strahlt Verurteilung der Geistlichkeit in alle Welt aus.“
Durch die „Gluthitze“ einiger Aussagen dieser aufsehenerregenden Resolution müssen die Anhänger der Christenheit sehr gepeinigt worden sein. Zusammen mit dem öffentlichen Vortrag wurde sie in der Broschüre Freiheit für die Völker veröffentlicht. Mit der Zeit erhielten sowohl das Volk als auch die Herrscher Millionen von Exemplaren. Millionen symbolischer Pferde begannen also einen Angriff auf die Christenheit, und dies unter der Aufsicht des gesalbten Überrestes, der „vier Engel“. Hunderte von Millionen solcher christlicher Veröffentlichungen sind im Laufe der Jahre hergestellt worden. Tausende haben günstig darauf reagiert und Babylon die Große, das Weltreich der falschen Religion, verlassen (Offb. 9:13-19; 18:2, 4, 5).
Aufregendes ereignete sich, als der siebente Engel seine Trompete blies. „Es geschahen laute Stimmen im Himmel, die sprachen: ,Das Königreich der Welt ist das Königreich unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird als König regieren für immer und ewig.‘ “ Obwohl das Königtum über die Menschheit rechtmäßig Jehova Gott gehört, ließ er doch vom Jahre 607 v. u. Z. an zu, daß die Königsherrschaft der gesalbten Nachfolger König Davids während „sieben Zeiten“ oder 2 520 Jahren verfiel oder unterbrochen wurde. Diese Zeitspanne lief um den 4./5. Oktober 1914 u. Z. ab. Die Menschen mußten erfahren, daß Jehova durch das messianische Königreich, das damals aufgerichtet wurde, als König regierte, daß er bald ‘die verderben würde, die die Erde verderben’, und daß alle, die seinen Namen fürchten, zusammen mit ihm daran arbeiten würden, die Erde zu einem Paradies umzuwandeln (Offb. 11:15-18).
Wann sollte etwas Derartiges wie durch das Schmettern der Trompete des „siebenten Engels“ weltweit verkündigt werden? Die erdumspannende Bekanntmachung begann im Jahre 1928, als sich die Bibelforscher vom 30. Juli bis 6. August in Detroit (Michigan) zu einem Kongreß versammelten. Bemerkenswert war besonders der Sonntag (5. August), denn an diesem Tage hörten die Kongreßteilnehmer die bewegende Resolution „Öffentliche Erklärung gegen Satan und für Jehova“ sowie den erklärenden Vortrag J. F. Rutherfords „Ein Herrscher für das Volk“. Unter anderem wurde in der Resolution erklärt, daß Jehova — da Satan seine ungerechte Herrschaft über die Menschen nicht aufgibt — durch seinen Sohn Jesus Christus als Vollstrecker gegen den Teufel und seine bösen Mächte vorgehen wird, was zur Folge haben wird, daß Satan vollständig gebunden und seine Organisation restlos gestürzt werden wird. Außerdem zeigte sie, daß Jehova Gott auf der Erde durch Christus Gerechtigkeit schaffen, die Menschheit vom Bösen befreien und für alle Nationen der Erde ewigwährende Segnungen bringen wird. „Darum“, so hieß es in der Resolution abschließend, „ist die rechte Zeit gekommen, daß alle, die Gerechtigkeit lieben, sich auf die Seite Jehovas stellen und ihm reinen Herzens gehorchen und dienen, damit sie der grenzenlosen Segnungen teilhaftig werden mögen, die der allmächtige Gott für sie in Bereitschaft hält.“
Im Goldenen Zeitalter und im Wacht-Turm erschienen diese „Öffentliche Erklärung gegen Satan und für Jehova“ und der erläuternde öffentliche Vortrag. Darüber hinaus wurde die Resolution und die Ansprache auch in Millionen von Exemplaren der Broschüre Des Volkes Freund in mehreren Sprachen verbreitet. So wurde schon vor über vierzig Jahren eine Botschaft, die Gottes Königreich unter Jesus Christus unterstützte und gegen die Weltherrschaft Satans und seiner Werkzeuge gerichtet war, wie mit Trompetenschall bekanntgemacht. Doch seither haben Jehovas Diener diese Botschaft vom Königreich sowohl durch das gedruckte Wort als auch durch öffentliche Vorträge allen Menschen auf der Erde immer lauter erschallen lassen.
EIN WEGBEREITER DES RUNDFUNKS ERHEBT SEINE STIMME
„Rundfunk berichtet: Das Weltmillennium kommt“ stand in der in Philadelphia erscheinenden Zeitung Record vom 17. April 1922, worauf es weiter hieß: „Vortrag Richter Rutherfords aus der Metropolitan Opera übertragen. Spricht in das Übertragungsgerät. Botschaft wird durch kilometerlanges Bell-Telefonkabel zum Sender Howlett übertragen.“ So fing der Zeitungsbericht über J. F. Rutherfords ersten Rundfunkvortrag an, der am Sonntag, dem 16. April 1922, im Metropolitan Opera House in Philadelphia (Pennsylvanien) gehalten wurde. Wie lautete wohl das Thema? „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!“ Im Vergleich zu den schätzungsweise 50 000 Einwohnern Pennsylvaniens, New Jerseys und Delawares, die den Vortrag über einfache Radiogeräte zu Hause verfolgen konnten, war die sichtbare Zuhörerschaft verschwindend klein.
Damals war der Rundfunk in seinen Anfängen. In den USA wurden erst 1920 regelmäßig Rundfunksendungen von kommerziellen Stationen ausgestrahlt: vom Sender KDKA in Pittsburgh und WWJ in Detroit (Michigan). Die Industrie bot damals Kristall-Detektorempfänger mit Kopfhörern an, und erst in den dreißiger Jahren gab es Radios mit eingebauten Lautsprechern und Antennen.
Anfang der zwanziger Jahre gab es verhältnismäßig wenige Diener Jehovas. Im Jahr 1924 gab es in den Vereinigten Staaten durchschnittlich erst 1 064 Bibelforscher, die wöchentlich von Haus zu Haus predigten. Daher erkannte Gottes Volk während jener Zeit die weitreichende Wirkung des Rundfunks und betrachtete ihn als ein ausgezeichnetes Mittel, eine große Zuhörerschaft mit der Königreichsbotschaft zu erreichen.
Im Jahre 1922 unternahmen J. F. Rutherford und einige seiner Fachberater eine erste Besichtigung eines etwa 10 Hektar großen Grundstücks, das die Gesellschaft auf Staten Island im New Yorker Stadtbezirk Richmond gekauft hatte. Wir gehen zurück in jene bedeutsame Zeit und hören uns an, was Lloyd Burtch einmal sagte: „Eines Sonntagnachmittags nahm der Präsident der Gesellschaft, Bruder Rutherford, einige von uns mit nach Staten Island. Nachdem wir auf dem Grundstück, das wir gekauft hatten, angekommen waren, wies er auf einen Platz in der Mitte des Waldes, der sich auf dem Stück Land befand, und sagte: ,So, Jungs! Hier fangen wir an zu graben. Wir werden eine Radiostation auf unserem Land bauen.‘ Und wie wir anfingen zu graben! Den ganzen Sommer über waren wir an jedem Wochenende damit beschäftigt.“ Der Bau schritt während des Winters und bis in den Sommer 1923 hinein schnell voran. An Wochenenden halfen viele junge Männer vom Hauptbüro der Gesellschaft in Brooklyn mit.
Ralph H. Leffler lehrte 1923 Funktechnik an der Oberschule von Alliance (Ohio). Eines Tages erhielt er einen Brief vom Büro des Präsidenten der Watch Tower Society, in dem es hieß: „Wir haben erfahren, daß Du Funktechnik unterrichtest. ... wärst Du bereit, all Deine Zeit im Dienste des Herrn auf diesem Gebiet einzusetzen?“ Bruder Leffler sah darin deutlich die Hand Jehovas und willigte ein. Mitte Oktober traf er im Bethel ein und wurde mit Geschirrspülen beschäftigt. Später schrieb er: „Ich dachte erst: ,Habe ich in der Armee nicht schon genug Geschirr gespült?‘ Aber dann erinnerte ich mich an die Schriftstelle: ,Jehova, euer Gott, stellt euch auf die Probe, um zu erkennen, ob ihr Jehova, euren Gott, mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele liebt‘ (5. Mose 13:3). Ich kam zu dem Entschluß, daß dies wohl wieder eine Prüfung sein müsse.“ Einen Monat später indessen begann er mit der Arbeit an der Radiostation. „Wir fanden einen kleinen 500-Watt-Sender in der Stadt und kauften ihn“, erinnert sich Bruder Leffler. Er wurde schnell installiert, und dann stand alles für die erste Sendung bereit.
„Alle waren bis aufs äußerste gespannt“, gesteht Bruder Leffler. „Würde die erste Sendung ein Erfolg sein? Würde uns überhaupt jemand hören? Wir hatten eine Sendegenehmigung von der Regierung erhalten und das Rufzeichen WBBR zugeteilt bekommen. Jetzt war alles zur ersten Rundfunkübertragung bereit. Es war Sonntag, der 24. Februar 1924, abends. Ich hatte das Vorrecht, für jene erste Rundfunksendung den Strom einzuschalten, und dann ging es los. Wir hofften, daß es klappen würde.“
Jene erste Sendung von WBBR dauerte zwei Stunden, von 20.30 Uhr bis 22.30 Uhr. Auf dem Programm standen Klaviermusik, Gesang und als Hauptteil dazwischen der Vortrag des Präsidenten der Gesellschaft, J. F. Rutherford, über das Thema „Radio und göttliche Prophezeiung“. Von da an wurden jeden Abend von 20.30 Uhr bis 22.30 Uhr und an Sonntagen von 15 bis 17 Uhr Sendungen mit guter Musik und belehrenden Vorträgen ausgestrahlt.
Bei WBBR boten sich auch Gelegenheiten zu Hörspielen, wobei Maxwell G. Friend mitwirkte. Er hatte am bekannten Stadttheater von Zürich eine gründliche Ausbildung als Schauspieler erhalten. Viele Jahre später erhielt Bruder Friend von Jehova das unerwartete Vorrecht, biblische Hörspiele zu schreiben und zu inszenieren sowie wirklichkeitsgetreue Wiedergaben von Gerichtsverhandlungen gegen Jehovas christliche Zeugen, die in Amerika von Richtern und Staatsanwälten durchgeführt wurden, die von der Geistlichkeit beeinflußt worden waren und Vorurteile hatten. In diesen Bühnenstücken wurden sie öffentlich bloßgestellt, und zur gleichen Zeit wurden Gottes Diener von falschen Anklagen gereinigt. Die erfahrenen Schauspieler und Musiker, die bei diesen Darstellungen mitwirkten, bildeten „The King’s Theater“ (Die Bühne des Königs).
In South Amboy (New Jersey) wurden 1928 einige Diener Jehovas verhaftet, weil sie die gute Botschaft am Sonntag gepredigt hatten. Damit begann die „Schlacht von New Jersey“, die ein Jahrzehnt lang dauerte. „Die Bühne des Königs“ spielte dabei auch eine Rolle. Die Richter in den Verhandlungen gegen wahre Christen waren oft Katholiken, die ihre Vorurteile im Gerichtssaal offenbar werden ließen, eine grobe Sprache führten und sogar durchblicken ließen, wer ihre kirchlichen Verbündeten waren, die im Hintergrund zu bleiben suchten. Der Redewechsel im Gerichtssaal wurde stenographiert. Erfahrene Schauspieler wohnten den Verhandlungen bei und studierten Stimme und Sprechweise des Richters, des Staatsanwaltes usw. Wenige Tage darauf gab „Die Bühne des Königs“ die Vorgänge im Gerichtssaal wirklichkeitsgetreu wieder. Auf diese Weise dienten die Radiowellen dazu, den Feind bloßzustellen, und schließlich waren die Richter so sehr eingeschüchtert — weil man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sie und auf irregeführte Polizisten und Staatsanwälte gerichtet hatte —, daß sie Fälle, die mit Jehovas Zeugen zu tun hatten, klüger handhabten.
Dreiunddreißig Jahre lang verherrlichte WBBR Jehova und breitete die biblische Wahrheit überallhin aus. Anfangs wurden die Sendungen mit einem 500-Watt-Sender ausgestrahlt. Drei Jahre später kaufte man einen neuen 1 000-Watt-Sender. Im Jahr 1947 gestattete die amerikanische Bundesfernmeldebehörde (Federal Communications Commission), die Sendeleistung auf 5 000 Watt zu erhöhen, solange sich dies nicht störend auf andere Sender auswirken würde, die überall verstreut in den Vereinigten Staaten auf derselben Wellenlänge sendeten. Dieses Problem wurde durch die Errichtung einer aus drei Sendetürmen bestehenden Richtantennenanlage gelöst, und durch diese Anordnung stieg die Leistung in Richtung Nordosten, wo die größte Bevölkerungsdichte herrschte, von 5 000 Watt auf über 25 000 Watt an. Man konnte WBBR im Stadtbereich von New York und in den angrenzenden Staaten New Jersey und Connecticut hören. Doch es trafen auch Briefe aus England, Alaska, Kalifornien und anderen weit entfernten Orten als Reaktion auf Sendungen ein.
Am 15. April 1957 verkaufte die Gesellschaft die Radiostation. Weshalb? Als der Sender 1924 seine Arbeit aufnahm, gab es nur eine Versammlung mit etwa 200 Bibelforschern, die alle fünf Stadtbezirke von New York sowie Long Island und sogar Teile von New Jersey bearbeitete. 1957 hingegen gab es in der Stadt New York 62 Versammlungen mit einer Höchstzahl von 7 256 Verkündigern des Königreiches, dazu kamen noch 322 Vollzeitprediger der guten Botschaft. Es wurde also ein gründliches Zeugnis gegeben. Darüber hinaus ist es sehr viel wirkungsvoller, mit den Menschen in ihrer Wohnung zu sprechen, wo sie Fragen stellen und noch weitere Unterweisung aus dem Worte Gottes erhalten können. Das Geld, das man für die Unterhaltung des Radiosenders ausgegeben hatte, konnte jetzt auf andere Weise zur Förderung der Interessen des Königreiches Gottes eingesetzt werden.
Die Gesellschaft tat jedoch noch mehr auf dem Gebiet des Rundfunks. J. F. Rutherford kam eines Tages zu Ralph Leffler ins Büro, breitete eine Karte der Vereinigten Staaten auf seinem Tisch aus und sagte, wobei er auf die Karte deutete: „Ich habe vor, Rundfunksender einzurichten, und zwar da und da und da. Wärest du bereit, diese Sendestationen zu bauen?“ „Ich würde mich sehr freuen“, antwortete er. Anfang November 1924 war Bruder Leffler daher unterwegs, um im Gebiet von Chicago am Bau einer weiteren Radiostation der Gesellschaft mitzuarbeiten, die das Rufzeichen WORD hatte. Bruder Leffler installierte auch Sendeanlagen für andere Rundfunksender, die nicht unmittelbar der Gesellschaft gehörten, aber doch von ihren Vertretern geführt wurden.
EIN BEITRAG ZUR RUNDFUNKGESCHICHTE
Jehovas Volk war in den zwanziger Jahren nicht nur darin bahnbrechend, daß es WBBR, einen der frühen Rundfunksender, einrichtete. Wie bereits berichtet, leisteten Jehovas Diener am Sonntag, dem 24. Juli 1927, einen Beitrag zur Rundfunkgeschichte, als J. F. Rutherford von Toronto (Ontario) in Kanada über ein Rundfunknetz von 53 Stationen sprach, das größte Sendenetz, das man bis dahin eingerichtet hatte.
Wie kam diese beispiellose Rundfunksendung zustande? Eine Reihe von Ereignissen trug dazu bei. Zwischen der New Yorker Radiostation WJZ und WBBR war ein Abkommen getroffen worden, sich die Sendezeit zu teilen; doch dieses Abkommen wurde nicht eingehalten. Später bekam WBBR eine neue Wellenlänge zugeteilt, die dann zu einer ungünstigeren geändert wurde. Daraufhin leitete die Gesellschaft vor der amerikanischen Bundesrundfunkbehörde (Federal Radio Commission) ein Verfahren nach dem Radiogesetz von 1927 ein, mit dem Ziel, eine günstigere Wellenlänge zugeteilt zu bekommen. Bei der Verhandlung am 14. und 15. Juni 1927 hob der Präsident der National Broadcasting Company, Merlin Hall Aylesworth, hervor, wie wichtig die beiden New Yorker Radiosender WEAF und WJZ seien. Er wollte damit offensichtlich sagen, daß es nicht anginge, WBBR einen Teil der Sendezeit zuzusprechen, obwohl sowohl WJZ als auch WEAF andere Wellenlängen hatten. Im Laufe der Verhandlung wurde Aylesworth von J. F. Rutherford gefragt: „Trifft es zu, daß Sie Ihren Hörern durch das Radio die Botschaft der größten Finanzmänner, der prominentesten Staatsmänner und namhaftesten Geistlichen der Welt übermitteln wollen?“ Aylesworth bejahte.
„Wenn Sie überzeugt wären, daß der große Gott des Universums binnen kurzem seinen Plan ausführen wird, alle Familien und Völker der Erde mit Frieden, Wohlstand, Leben, Freiheit und Glück zu segnen, würden Sie das dann über den Rundfunk verbreiten?“ Da es schwierig gewesen wäre, darauf mit Nein zu antworten, sagte Aylesworth: „Ja.“ Daraufhin sagte er von sich aus, er wäre gern bereit, einen Vortrag des Präsidenten der International Bible Students Association zu übertragen. J. F. Rutherford nahm dieses Angebot selbstverständlich an.
Als Bruder Rutherford daher auf dem Kongreß in Toronto (Ontario) in Kanada am Sonntag, dem 24. Juli 1927, zu 15 000 Anwesenden sprach, hörten ihn Millionen von Menschen über ein Rundfunknetz, das es in dieser Größe bis dahin noch nie gegeben hatte. In einem Brief der NBC an die Gesellschaft hieß es: „Ich nehme an, daß Richter Rutherford gestern nachmittag die größte Zahl von Hörern gehabt hat, die irgend jemand je über den Rundfunk hatte.“
Die Bibelforscher hatten auch noch mit einem weiteren bemerkenswerten Ereignis in Verbindung mit dem Rundfunk zu tun. Als J. F. Rutherford am Sonntag, dem 5. August 1928, in Detroit (Michigan) vor 12 000 Zuhörern seinen Vortrag „Ein Herrscher für das Volk“ hielt, wurde er über ein Netz von 107 Rundfunkstationen übertragen, wofür 53 600 km Telefonkabel sowie etwa 146 000 km Telegrafenleitungen in Anspruch genommen wurden. Über Kurzwelle wurde der Vortrag auch nach Australien und Neuseeland gesendet.
Im Jahre 1928 hatte man das Wachtturm-Rundfunknetz, auch „weißes“ Sendenetz genannt, besonders für den Kongreß in Detroit aufgebaut. Es war so erfolgreich, daß sich die Watch Tower Society entschloß, ein solches Netz von Rundfunkstationen in den Vereinigten Staaten und Kanada jede Woche einzusetzen. Ein einstündiges Programm wurde vorbereitet und von WBBR ausgestrahlt. Dabei handelte es sich um Direktübertragungen, deren Mittelpunkt ein Vortrag von Bruder Rutherford bildete. Die Einleitung und den Abschluß bildeten musikalische Darbietungen eines Orchesters, das von der Gesellschaft unterhalten wurde. So konnte man vom 18. November 1928 bis Ende 1930 jeden Sonntag die „Wachtturm-Stunde“ einschalten.
Die Radiosendungen beanspruchten Bruder Rutherford sehr. Dadurch wurde zwar ein sehr gutes Zeugnis gegeben, doch er konnte keine Reisen mehr unternehmen oder in anderen Teilen der Erde Kongresse organisieren. Die Gesellschaft entschloß sich daher 1931, bereits aufgenommene Vorträge anzubieten. 250 Radiostationen wirkten mit, diese fünfzehnminütigen Aufnahmen zu senden, die Rutherford je nach Gelegenheit auf Platte sprach und die von den Rundfunksendern abgespielt wurden, wann sie es wollten. Dieser Rundfunkdienst, den man „Schallplattennetz“ („Wax Chain“) nannte, wurde 1932 auf 340 Sender ausgedehnt. Im Jahr 1933, als man den Höhepunkt erreichte, sendeten 408 Stationen die Botschaft auf sechs Kontinenten, wobei 23 783 verschiedene biblische Ansprachen gesendet wurden, die meisten davon jene fünfzehnminütigen Aufnahmen. Wer damals die Sendereinstellung am Radio drehte, konnte zur selben Zeit Wachtturm-Sendungen von weit auseinanderliegenden Rundfunkstationen empfangen. Oft waren die Ätherwellen angefüllt mit Worten der Wahrheit, die Gott verherrlichten.
EINE EIGENE FABRIK
Jehovas Volk zog immer mehr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Die Geschichte machenden Zusammenschlüsse von Rundfunkstationen waren nicht zu übersehen. Auch die Königreichsverkündiger konnten nicht unbeachtet gelassen werden, denn ihr Predigtwerk von Haus zu Haus dehnte sich beachtlich aus. Es bestand größere Nachfrage nach biblischer Literatur, und damit mußten die Druckereien der Gesellschaft Schritt halten. C. W. Barber blickt auf die zweite Hälfte der 1920er Jahre zurück und bemerkt: „Die Fabrik in der Concord Street 18 [Brooklyn (New York)] war jetzt zu klein geworden und reichte für unseren Bedarf nicht mehr aus.“
Es war offensichtlich, daß die Bibelforscher eine weitere Fabrik benötigten. Man entschloß sich, selbst etwas zu bauen. Da man jedoch für den Bau einer Fabrik kein Geld verwenden konnte, ohne das Werk in anderen Teilen der Erde ernstlich zu benachteiligen, entschloß sich die Gesellschaft, das Geld durch Anleihen und Hypotheken zusammenzubringen, wobei der Grundbesitz der Gesellschaft nicht höher als bis zur Hälfte seines Zeitwertes belastet werden sollte. Die Anleihen wurden in Beträgen von 100 $, 500 $ und 1 000 $ zu je 5 % Zinsen ausgegeben, die jährlich gezahlt werden sollten. In einer Wacht-Turm-Beilage wurde den Bibelforschern Gelegenheit gegeben, für diese Anleihen zu zeichnen, so daß sie nicht auf dem freien Markt verkauft werden mußten.
In den Jahren 1926 und 1927 beobachtete die Bethelfamilie freudig, wie die Fabrik in der Adams Street 117 Formen annahm. Es dauerte nicht lange, bis alle acht Geschosse dieses erstklassigen Stahlbetonbaus, der zahlreiche Fenster hatte, zum Einzug bereitstanden. Das moderne Gebäude war feuersicher und hatte über 6 500 Quadratmeter Bodenfläche. Im Februar 1927 war es Zeit, aus der Concord Street 18 auszuziehen. „Ich erinnere mich noch, wie Bruder R. J. Martin [der Leiter des Betriebes] mit den Jungs vor Freude tanzte, als die Maschinen transportiert wurden“, sagt Harry Petros. Man erkennt Bruder Martins Begeisterung über die neue Fabrik deutlich, wenn man seinen Bericht an den Präsidenten der Gesellschaft liest, der im Jahrbuch 1928 der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung veröffentlicht wurde. Darin bemerkte er, daß selbst die Kritiker jetzt zugaben, dies sei „die beste Druckereianlage des Mittelpunktes des Druckereigewerbes der Welt, der Stadt New York“. Der Bericht enthielt auch die folgende Beschreibung des Arbeitsablaufs in der Druckerei:
„Die allgemeine Anlage ist geradezu vollkommen für unsere Arbeit. Die Arbeit geht in der natürlichen Ordnung von oben nach unten. Im obersten Stockwerke sind die Büros, wo sie auch hingehören. Im nächsten Stockwerk ist logischerweise die Setzerei. Dann gehen die Platten ein Stockwerk tiefer, wo das Drucken geschieht. Wieder ein Stockwerk tiefer, im 5. Stockwerk, werden die Broschüren hergestellt und ist der Postversand. Im vierten Stock ist die Buchbinderei, im dritten das Lager, im zweiten der Frachtversand und im ersten Papierlager, Kraftanlage und Garage. Nichts könnte besser eingerichtet sein.“
Da im Hauptbüro jetzt fast 200 Personen tätig waren, wurde auch das Bethel erweitert. Im Dezember 1926 kaufte die Gesellschaft das Nachbargrundstück zu ihrem Besitz in der Columbia Heights 124 in Brooklyn. Anfang Januar 1927 wurden die drei Gebäude Columbia Heights 122, 124 und 126 abgerissen, und der Bau eines neungeschossigen Gebäudes mit über 80 Zimmern begann. Es wurde mit dem Gebäude der Gesellschaft verbunden, das 1911 auf der Hinterseite des Grundstücks an der Furman Street gebaut worden war.
„VON JEHOVA BELEHRT“
Bestimmt segnete Jehova sein Volk damals, in den 1920er Jahren, und versorgte es mit dem, was es zur Förderung der Interessen des Königreiches brauchte. Er erwies sich auch als ein Gott fortschreitender Offenbarungen. Dies bewirkte, daß die Bibelforscher ihr Denken in manchem anpassen mußten. Sie waren aber dankbar für die Führung Gottes und zeigten sich schnell bereit, „von Jehova belehrt“ zu werden (Joh. 6:45; Jes. 54:13).
Gottes Volk mußte zum Beispiel seine Ansichten über 1925 ändern. Man dachte, daß mit diesem Jahr siebzig Jubeljahrperioden zu je fünfzig Jahren seit dem Einzug der Israeliten in Kanaan enden würden, und damit verband man Erwartungen der Wiederherstellung und des Segens (3. Mose 25:1-12). A. D. Schroeder stellt dazu fest: „Man nahm an, daß dann der Überrest der gesalbten Nachfolger Jesu in den Himmel kommen würde, um einen Anteil am Königreich zu haben, und daß die treuen Männer der alten Zeit, wie Abraham, David und andere, als Fürsten auferweckt werden würden, um die Regierung über die Erde als Teil des Königreiches Gottes zu übernehmen.“
Das Jahr 1925 kam und verstrich. Die gesalbten Nachfolger Jesu waren als Gruppe immer noch auf der Erde. Die Treuen der alten Zeit — Abraham, David und andere — waren nicht auferweckt worden, um Fürsten auf der Erde zu sein (Ps. 45:16). Anna MacDonald erinnert sich: „Das Jahr 1925 war für viele Brüder ein trauriges Jahr. Einige strauchelten; ihre Hoffnungen waren enttäuscht worden. Sie hatten gehofft, daß einige der ,alttestamentlichen Überwinder‘ auferstehen würden. Statt dies als eine ,Wahrscheinlichkeit‘ anzusehen, lasen sie hinein, daß dies mit ,Sicherheit‘ kommen würde, und manche bereiteten alles für ihre lieben Angehörigen vor, da sie deren Auferstehung erwarteten. Die Schwester, die mich in die Wahrheit brachte, schrieb mir einen Brief, in dem sie mir mitteilte, daß sie mir das Falsche gesagt habe. ... [Aber] ich war froh über meine Befreiung aus Babylon. Wohin sollte man sonst gehen? Ich hatte Jehova kennen- und liebengelernt.“
Jehovas treue Diener hatten sich ihm nicht nur bis zu einem bestimmten Jahr hingegeben. Sie waren entschlossen, ihm für immer zu dienen. Für solche Personen war es kein großes Problem, als sich die Erwartungen für 1925 nicht erfüllten, und ihr Glaube wurde nicht nachteilig beeinflußt. James Poulos sagt darüber: „1925 war für die Treuen ein wunderbares Jahr. Jehova erklärte uns durch seinen ,treuen und verständigen Sklaven‘ die Bedeutung von Offenbarung, Kapitel 12. Wir erkannten, daß die ,Frau‘ Gottes Universalorganisation darstellte; Jesus Christus und seine heiligen Engel hatten Krieg im Himmel geführt und Satan und seine Dämonen besiegt und aus dem Himmel vertrieben; das Königreich Gottes war geboren worden.“ Bruder Poulos hatte dabei offensichtlich den bemerkenswerten Artikel „Die Geburt der Nation“ aus dem Wacht-Turm vom 15. April 1925 im Sinn. Durch diesen Artikel erkannte Jehovas Volk deutlich, wie die beiden großen, sich gegenüberstehenden Organisationen — Jehovas und Satans — sinnbildlich dargestellt wurden. Man erkannte damals auch, daß der Teufel seine Tätigkeit auf die Erde beschränken mußte, da er als Ergebnis des „Krieges im Himmel“, der 1914 begonnen hatte, aus dem Himmel hinausgeworfen worden war.
WELTLICHE FEIERTAGE
„Früher konnte man bei unseren Kongressen einige der Freunde beobachten“, schreibt Anna E. Zimmerman, „wie sie während der Pausen im Gespräch mit anderen ihr Manna-Buch [Täglich himmlisch Manna für den Haushalt des Glaubens] weiterreichten mit der Bitte, Namen und Adresse in ihr Buch zu schreiben. Diese Angaben schrieb man dann auf die leere Seite neben seinem Geburtstag, und wenn dieser Geburtstag dann kam und der Eigentümer des Buches am Morgen den Tagestext las, entschloß er sich vielleicht, eine Postkarte oder einen Brief zu schreiben, in dem er der Person Glückwünsche zum Geburtstag sandte.“
Ja, damals feierten Gott hingegebene Christen noch Geburtstag. Warum sollten sie den sogenannten Geburtstag Jesu nicht feiern? Das taten sie auch viele Jahre lang. Zu Bruder Russells Zeiten wurde das Weihnachtsfest im alten Bibelhaus in Allegheny (Pennsylvanien) begangen. Ora Sullivan Wakefield kann sich erinnern, daß Bruder Russell den Gliedern der Familie des Bibelhauses zu Weihnachten goldene Fünf oder Zehndollarstücke schenkte. Mabel P. M. Philbrick sagt: „Damals feierte man Weihnachten mit einem Weihnachtsbaum im Eßsaal des Bethels — ein Brauch, den man heute bestimmt nicht mehr pflegen würde. Statt des üblichen ,Guten Morgen!‘ wünschte Bruder Russell allen ,Fröhliche Weihnachten‘.“
Was veranlaßte die Bibelforscher, Weihnachten nicht mehr zu feiern? Richard H. Barber gab darauf die folgende Antwort: „Ich wurde gebeten, über ein Rundfunknetz einen Stundenvortrag über das Thema ‚Weihnachten‘ zu halten. Ich hielt ihn am 12. Dezember 1928, und Das Goldene Zeitalter [englisch] brachte ihn in seiner Nummer 241 und wiederholte ihn ein Jahr darauf in Nummer 268. In dieser Ansprache wurde der heidnische Ursprung des Weihnachtsfestes gezeigt. Von da an haben die Brüder im Bethel nie wieder Weihnachten gefeiert.“
„Machte es uns etwas aus, diese heidnischen Dinge abzulegen?“ fragte Ch. J. Brandlein. „Ganz und gar nicht. Wir hatten nur angewendet, was wir neu gelernt hatten; vorher wußten wir doch nicht, daß es heidnisch war. Für uns war es, als ob wir ein schmutziges Kleidungsstück auszogen und es wegwarfen.“ Als nächstes gab man Geburtstagsfeiern und den Muttertag auf, bei denen ebenfalls Menschenverehrung mit im Spiel war. Schwester Lilian Kammerud erinnert sich: „Die Brüder waren sofort bereit, alle diese Feiertage fallenzulassen, und sagten, daß sie froh wären, frei zu sein. Neue Wahrheiten machen uns immer glücklich, und ... wir spürten das Vorrecht, Dinge zu wissen, die andere nicht wußten.“
WEITERE ANSICHTEN ÄNDERN SICH
Das fortschreitende Verständnis des Wortes Gottes brachte noch andere Veränderungen im christlichen Denken mit sich. Dies war nach Ansicht von Grant Suiter besonders Ende der 1920er Jahre der Fall. Er sagt: „Es sah so aus, als ob sich während jener Jahre das Verständnis der Schrift und der Verfahrensweisen ständig änderte. Im Jahre 1927 zeigte der Wacht-Turm beispielsweise, daß die schlafenden treuen Glieder des Leibes Christi nicht 1878 auferweckt worden waren [wie man das angenommen hatte], daß das Leben im Blut ist und daß es angebracht wäre, auf schwarze Kleidung zu verzichten.“ (Siehe Wacht-Turm, Jahrgang 1927, Seite 182—184, 198—201, 271; Jahrgang 1928, Seite 19, 20.) Was die Kleidung betrifft, hatte Bruder Rutherford im Jahr zuvor, auf dem Kongreß in London vom 25. bis 31. Mai 1926, seine Vorträge in einem Straßenanzug gehalten statt im förmlichen schwarzen Gehrock, wie er lange Zeit von Rednern öffentlicher Vorträge der christlichen Zeugen Jehovas getragen worden war.
Eine weitere Änderung der Auffassungen betraf das Symbol von „Kreuz und Krone“, das vom Januar 1891 an auf dem Titelblatt des Wacht-Turms abgebildet war. Lange Zeit trugen auch viele Bibelforscher eine Anstecknadel mit diesem Symbol. C. W. Barber beschreibt, wie sie aussah: „Es war eigentlich mehr ein Abzeichen; den äußeren Rand bildete ein Kranz aus Lorbeerblättern, und in der Mitte befand sich eine Krone, durch die, etwas schräg, ein Kreuz führte. Die Nadel sah recht ansprechend aus und entsprach unserem damaligen Verständnis dessen, was es bedeutete, unser ,Kreuz‘ aufzunehmen und Jesus Christus nachzufolgen, damit wir später einmal die Siegeskrone tragen könnten.“
Lily R. Parnell sagt über das Tragen der Anstecknadeln mit „Kreuz und Krone“: „Für Bruder Rutherford war dies etwas Babylonisches und sollte nicht länger getragen werden. Er sagte uns, daß allein das Predigtwerk — unser Sprechen an den Türen der Menschen — das Zeugnis sei, das gegeben werden solle.“ Daher schreibt Bruder Suiter über den Kongreß, den die Bibelforscher 1928 in Detroit (Michigan) abhielten: „Auf dem Kongreß wurde gezeigt, daß es nicht nur unnötig, sondern auch verkehrt sei, die Abzeichen mit Kreuz und Krone zu tragen. So trugen wir diesen Schmuck nicht länger.“ Das Symbol von Kreuz und Krone verschwand vom Titelbild des Wachtturms etwas über drei Jahre danach (englische Ausgabe vom 15. Oktober 1931, deutsche Ausgabe vom 1. November 1931).
Erst ein paar Jahre darauf erkannte Jehovas Volk, daß Jesus Christus nicht an einem T-förmigen Kreuz gestorben war. Am 31. Januar 1936 gab Bruder Rutherford der Brooklyner Bethelfamilie das neue Buch Reichtum in Englisch frei. Darin hieß es auszugsweise auf Seite 27 in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift: „Jesus wurde nicht an ein Holzkreuz geschlagen, wie dies in vielen Bildern und Gemälden dargestellt wird, die von Menschen gemacht und ausgestellt werden; Jesus wurde gekreuzigt, indem sein Leib an einen Stamm genagelt wurde“ (Seite 25 der deutschen Ausgabe).
„IHR SEID MEINE ZEUGEN, SPRICHT JEHOVA“
Die Welt erlebte am „Schwarzen Dienstag“, am 29. Oktober 1929, einen Schock: den Börsenkrach. In der New York Times erschien die Nachricht darüber unter der Schlagzeile „Börsenkurse stürzen um 14 000 000 000 $ infolge massenhaften Abstoßens von Aktien; Bankiers sollen heute Börsenmarkt unterstützen“. So begann die Weltwirtschaftskrise, die auch noch in den 1930er Jahren andauerte. In dieser Zeit großer wirtschaftlicher Not versorgte Jehova sein Volk reichlich mit geistiger Speise. Auch machte er es auf die tiefe Bedeutung aufmerksam, die in den Worten liegt: „Ihr seid meine Zeugen, spricht Jehova, und ich bin Gott“ (Jes. 43:12, Elberfelder Bibel).
Auf Gottes Namen wurde immer größerer Wert gelegt. Betrachte zum Beispiel die Hauptartikel, die mehrere Jahre lang jeweils in der Ausgabe vom 1. Januar im Wachtturm erschienen. Sie lauteten: „Wer wird Jehova ehren?“ (1926), „Jehova und seine Werke“ (1927), „Ehret seinen Namen“ (1928), „Ich will lobsingen meinem Gott“ (1929) und „Singet Jehova!“ (1930).
In der Verherrlichung des Namens Jehovas war jedoch der Kongreß, den Gottes Volk in Columbus (Ohio) vom 24. bis 30. Juli 1931 abhielt, ein Meilenstein. Dieser Kongreß war einzigartig, weil an 165 anderen Orten auf der Erde Kongresse geplant wurden, die mit diesem Kongreß in Columbus verbunden werden sollten. Aber das war nicht der wichtigste Faktor. Es gab noch etwas weit Bedeutsameres. Das stand im Zusammenhang mit den rätselhaften Buchstaben „JW“, die auf dem Kongreßprogramm und auf der Titelseite der Kongreßzeitung The Messenger standen und an vielen Stellen zu sehen waren. „Als wir zum Kongreßgelände kamen“, erzählt Burnice E. Williams sen., „sahen wir überall die Buchstaben ,JW‘. Aber da wir nicht wußten, wofür sie standen, fragten wir uns alle: ,Was hat nur dieses JW zu bedeuten?‘ “ Schwester Herschel Nelson erinnert sich: „Es wurden Vermutungen angestellt, wofür die Buchstaben JW standen — ,Just Wait‘, ,Just Watch‘ [,Warte einfach ab‘, ,Paß einfach auf‘], und die wahre Bedeutung ...“
Ja, die wahre Bedeutung der Buchstaben „JW“ wurde am Sonntag, dem 26. Juli 1931, enthüllt, als die begeisterten Kongreßteilnehmer von Herzen eine Resolution annahmen, die J. F. Rutherford vortrug und die betitelt war: „Ein neuer Name“. Darin hieß es auszugsweise:
„DARUM wird jetzt zur Bekanntgabe unsrer wahren Stellung, in dem Glauben, daß es in Übereinstimmung mit Gottes in seinem Worte ausgedrücktem Willen geschieht, beschlossen kundzutun:
DASS wir für Bruder Charles T. Russell seines Werkes wegen große Liebe hegen und freudig anerkennen, daß der Herr ihn gebraucht und seine Arbeit überaus gesegnet hat; doch können wir, dem Worte Gottes entsprechend, nicht zustimmen, ,Russelliten‘ genannt zu werden; daß ferner die Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, die Internationale Bibelforscher-Vereinigung und die Volkskanzel-Vereinigung lediglich Namen von Korporationen sind, die wir als eine Gruppe christlicher Leute besitzen, kontrollieren und gebrauchen, unser Werk im Gehorsam gegen Gottes Gebote auszuführen, doch daß keine dieser Bezeichnungen uns als Körperschaft von Christen, die den Fußstapfen unsres Herrn und Meisters, Christus Jesus, nachfolgen, gehörigerweise angeheftet oder beigegeben werden kann; daß wir in der Bibel forschen, aber als eine ... Körperschaft von Christen es ablehnen, den Namen ,Bibelforscher‘ oder ähnliche Namen als Mittel zur Feststellung unsrer richtigen Stellung vor dem Herrn anzunehmen oder uns so nennen zu lassen; daß wir es ablehnen, den Namen irgendeines Menschen zu tragen oder so genannt zu werden;
DASS wir, erkauft durch das teure Blut unsres Herrn und Erlösers, gerechtfertigt und gezeugt durch Jehova Gott und berufen zu seinem Königreiche, ohne Zaudern erklären, daß wir Jehova Gott und seinem Königreiche untertan und ergeben sind; daß wir Knechte Jehovas sind, beauftragt, in seinem Namen und seinem Gebot gehorchend ein Werk zu tun, das Zeugnis Jesu Christi zu überbringen und den Menschen bekanntzumachen, daß Jehova der wahre und allmächtige Gott ist; weshalb wir mit Freuden den Namen, den der Mund des Herrn genannt hat, annehmen und wünschen, unter folgendem Namen bekannt zu sein und also genannt zu werden: J e h o v a s Z e u g e n.“
Jetzt war es offensichtlich. Die rätselhaften Buchstaben „JW“ standen für Jehovah’s Witnesses (Jehovas Zeugen). „Ich werde nie den gewaltigen Ruf und den Beifall vergessen, mit dem die Kongreßstätte erfüllt wurde, als endlich die Bekanntmachung erfolgte“, erklärt Arthur A. Worsley. Herbert H. Boehk fügt hinzu: „In ganz Columbus wurden die Schilder mit der Aufschrift ,Willkommen, I. B. S. A.‘, die an den Schaufensterscheiben der Geschäfte hingen, abgenommen [und neu geschrieben] und lauteten nun ,Willkommen, Jehovas Zeugen‘.“ (I. B. S. A. war die Abkürzung für International Bible Students Association [Internationale Bibelforscher-Vereinigung].)
Die Annahme des Namens „Jehovas Zeugen“ war ein aufregendes Ereignis. Diese Resolution, betitelt „Ein neuer Name“, wurde nicht nur von den vielen tausend in Columbus versammelten gesalbten Nachfolgern Christi angenommen. Später nahmen auch die einzelnen Versammlungen diese Resolution an. Jehovas Zeugen hatten einen Namen, den niemand anders in der Welt tragen wollte. Aber sie waren dafür sehr dankbar (Jes. 43:12).
Als A. H. Macmillan 88 Jahre alt war, besuchte er den Kongreß „Frucht des Geistes“ in der gleichen Stadt. Dort machte er am 1. August 1964 folgende interessanten Bemerkungen darüber, wie die Annahme dieses Namens zustande gekommen war:
„Ich hatte das Vorrecht, im Jahre 1931 hier in Columbus zu sein, als wir ... den neuen Titel oder Namen ... empfingen. Ich war einer von den fünf, die sich dazu äußern sollten, wie sie über die Annahme dieses Namens dachten, und ich sagte kurz, ich dächte, daß dies eine großartige Idee sei, da die Welt durch diesen Titel erfahre, was wir täten und was unsere Aufgabe sei. Bis dahin waren wir Bibelforscher genannt worden. Warum? Weil wir das waren. Und als man dann in anderen Ländern anfing, mit uns zu studieren, wurden wir Internationale Bibelforscher genannt. Aber jetzt sind wir Zeugen für Jehova Gott, und dieser Titel sagt der Öffentlichkeit, wer wir sind und was wir tun. ...
Ich glaube, daß Gott, der Allmächtige, dies überwaltet hat, denn Bruder Rutherford erzählte mir selbst, daß er in der Zeit, in der er die Vorbereitungen für diesen Kongreß traf, eines Nachts aufwachte und sich fragte: ,Warum in aller Welt habe ich einen internationalen Kongreß einberufen, wenn ich doch überhaupt keine besondere Rede oder Botschaft habe? Warum sie alle hierherkommen lassen?‘ Und dann fing er an, sich darüber Gedanken zu machen, und Jesaja 43 kam ihm in den Sinn. Er stand um 2 Uhr nachts auf und schrieb in Kurzschrift an seinem eigenen Schreibtisch eine Disposition für den Vortrag, den er später über das Königreich, die Hoffnung der Welt, und über den neuen Namen hielt. Und alles, was er damals sprach, wurde in jener Nacht oder an jenem Morgen um 2 Uhr vorbereitet. Und ich zweifle heute nicht daran — und habe auch damals nicht daran gezweifelt —, daß ihn der Herr in dieser Sache geleitet hat und daß dies der Name ist, von dem Jehova wünscht, daß wir ihn tragen, und wir sind sehr glücklich und froh, ihn zu haben.“
„DAS KÖNIGREICH — DIE HOFFNUNG DER WELT“
Auf diesem Kongreß in Columbus hielt J. F. Rutherford am Sonntag, dem 26. Juli 1931, seinen hochbedeutsamen öffentlichen Vortrag „Das Königreich — die Hoffnung der Welt“. Die Rundfunkgesellschaften National Broadcasting Company und Columbia Broadcasting System hatten sich geweigert, den Vortrag zu übertragen. Aber Jehovas Diener schlossen eine Kette von Rundfunkstationen zusammen, um die Botschaft von Columbus auszusenden, und die American Telephone and Telegraph Company sagte: „Dieses Sendernetz ist das größte einzelne Sendernetz, das je den Äther benutzt hat.“ Die Botschaft wurde von 163 Rundfunkstationen in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Kuba und Mexiko ausgestrahlt.
Unmittelbar nach dem Radiovortrag „Das Königreich — die Hoffnung der Welt“ verlas Bruder Rutherford eine Resolution, die ebenfalls gesendet wurde, und zwar mit dem Thema: „Warnung von Jehova — an die Herrscher und das Volk!“ Unter anderem hieß es darin ganz offen: „Die Hoffnung der Welt ist Gottes Königreich, und eine andere Hoffnung gibt es nicht.“ In dieser Resolution wurden die Menschen aufgefordert, auf der Seite des Königreiches Gottes Stellung zu beziehen. Als Bruder Rutherford seine sichtbare und unsichtbare Zuhörerschaft aufforderte, die Resolution anzunehmen, standen die Kongreßteilnehmer allesamt auf und riefen laut: „Ja.“ Überall aus dem Land gingen Telegramme ein, die zeigten, daß viele Rundfunkhörer ebenfalls aufgestanden waren und die Resolution angenommen hatten.
Die Weltführer und die Geistlichkeit sollten den Inhalt des Kongreßvortrages Bruder Rutherfords, „Das Königreich — die Hoffnung der Welt“, kennenlernen, und sie sollten auch den Inhalt der Resolution „Warnung von Jehova“ erfahren. Außerdem mußten sie davon unterrichtet werden, daß Jehovas wahre Diener die Resolution „Ein neuer Name“ angenommen hatten und von nun an als „Jehovas Zeugen“ bekannt wären. Dies wurde durch die Verbreitung der Broschüre Das Königreich — die Hoffnung der Welt ermöglicht. Jehovas Zeugen verbreiteten diese Broschüre nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern besuchten auch Geistliche, Politiker, Geschäftsleute und führende Militärs, um ihnen diese Publikation zu überreichen. Innerhalb von zweieinhalb Monaten waren über fünf Millionen Exemplare verbreitet worden, und die Arbeit mit der Broschüre war noch nicht annähernd abgeschlossen.
Über diesen Broschürenfeldzug schreibt Fred Anderson: „Ich sprach bei dem Bischof in La Crosse vor. Er lud mich sehr freundlich ein, in sein Sprechzimmer zu kommen. Dann erklärte ich ihm den Zweck meines Besuches. Ich überreichte ihm die Broschüre. Er sah sie an und sagte nichts. Ich dankte ihm und verabschiedete mich. Da wurde er wütend. Als ich gerade zur Tür hinausging, warf er sie mir nach. Sie fiel auf den Fußboden. Er hob sie wieder auf und warf sie mir noch einmal nach, als ich gerade die Tür hinter mir schloß. Die Broschüre blieb in der Tür hängen. Ich hoffe nur, daß er sie gelesen hat, denn er konnte sie nicht mehr loswerden.“ Schwester C. E. Bartow erzählt uns: „Als ein Geistlicher erkannte, was ich ihm gegeben hatte, schrie er mich an und sagte: ,Sie armseliger Nichtswisser! Sie kommen hierher, um mich zu belehren, der ich schon acht Jahre Theologe bin!‘ Wie glücklich war ich doch, dem wahren Gott zu dienen!“
TAUSCHHANDEL EINGEFÜHRT
In den 1930er Jahren brachte die Weltwirtschaftskrise große Not mit sich. Fabriken wurden geschlossen. Im Jahre 1932 waren über 10 000 000 Bürger der Vereinigten Staaten arbeitslos. Farmer, Stadtbewohner — die Bevölkerung im allgemeinen — spürten die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise.
Das Geld war knapp, aber aufrichtiggesinnte Menschen benötigten die frohe Botschaft der biblischen Wahrheit. Wenn einzelne die biblischen Schriften nicht bezahlen konnten, überließen Jehovas Zeugen sie ihnen oft kostenlos. Doch das war nicht immer möglich. Welche Alternative gab es da? Margaret M. Bridgett erzählt: „Wir tauschten [Literatur] gegen Naturalien wie Eier, Butter, frisches und eingemachtes Obst, Hühner und Ahornsirup; und ich tauschte gegen Handarbeiten — Steppdeckenbezüge, Kissenbezüge, Spitze und kleine Teppiche. Manchmal konnte ich mit einigen dieser Waren meine Zimmermiete bezahlen. ... [Jahre später] besuchte ich eine Gilead-Abschlußfeier [Gilead ist der Name einer Missionarschule], und dort traf ich eine Schwester, die von mir einen Satz Bücher im Austausch für einen Steppdeckenbezug bekommen hatte. Sie hatte die Wahrheit angenommen und war damals Pionier [Vollzeitprediger], und ihr Sohn war interessiert.“
Arden Pate und John C. Booth können sich noch erinnern, daß sie immer kleine Hühnerkörbe im Auto mitnahmen, damit sie die Hühner transportieren konnten, die ihnen Personen, die kein Geld hatten, im Austausch gegen Literatur gaben. Natürlich war es nicht immer einfach, Literatur gegen Hühner einzutauschen. Lula Glover schreibt: „Wir bearbeiteten sehr viel Gebiet in Alabama, Georgia, Florida und Nord- und Südkarolina sowie einen Teil von Tennessee und Mississippi. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie Schwester Green und ich auf den großen Bauernhöfen Hühner jagten?“
Das Eintauschen von Schriften gegen Bodenerzeugnisse und andere Dinge geschah nicht aus selbstsüchtigen Gründen. Die Menschen benötigten die gute Botschaft und auf diese Weise konnten sie sie in gedruckter Form erhalten. „Wir waren Jehova immer dankbar dafür, daß er uns am Leben erhielt“, sagt Maxwell L. Lewis, „und wir hatten immer das, was wir an Nahrung, Obdach und Kleidung benötigten.“
DIVISIONSFELDZÜGE
In dieser Zeit wurde dem Predigtwerk sehr viel Widerstand entgegengesetzt. Im Jahre 1928 begannen Jehovas Zeugen, an Sonntagen von Haus zu Haus zu predigen, und sogleich erhob sich Widerstand. In den 1930er Jahren nahm die Zahl der Verhaftungen zu, und Jehovas Zeugen wurden fälschlich beschuldigt, ohne Gewerbeschein zu hausieren, den Frieden zu stören und die Sonntags- und Sabbatgesetze zu übertreten. Die Watch Tower Society richtete eine Rechtsabteilung ein, um den Zeugen Rat zu geben, und veröffentlichte eine „Gerichtsverfahrensordnung“, um den Königreichsverkündigern zu helfen, sich vor Gericht zu verteidigen. Gegen ungünstige Urteile wurde Berufung eingelegt.
Aber es wurde noch etwas anderes getan. Im Jahre 1933 erklärten sich 12 600 Zeugen in den Vereinigten Staaten bereit, sich kurzfristig zu Sonderaufträgen in Gebiete zu begeben, in denen Widerstand von seiten der Bürger zu erwarten war, und dort von Haus zu Haus zu predigen. Sie wurden zu 78 Divisionen organisiert, und zu jeder Division gehörten eine Anzahl Autos mit je 5 Arbeitern, und dann wurden 10 bis 200 Autos zu dem „Unruheherd“ geschickt. Wenn einige Christen im Predigtdienst verhaftet wurden, wurde dies der Gesellschaft berichtet. Dann erging ein Aufruf, und bald danach trafen sich an einem Sonntag alle Autogruppen einer Division an einem vereinbarten Treffpunkt, im allgemeinen auf dem Lande, empfingen Anweisungen und Gebietszuteilungen und „belagerten“ dann die Stadt wie „Heuschrecken“ und gaben der ganzen Gemeinde Zeugnis, und das manchmal innerhalb von nur 30 bis 60 Minuten (Offb. 9:7-9). In der Zwischenzeit sprach ein Komitee von Brüdern bei der Polizei vor und überreichte ihr eine Liste mit den Namen aller Zeugen, die an jenem Tag dort predigten. Falls ein Königreichsverkündiger während des Feldzuges verhaftet wurde, sollte er bei seiner Ankunft in der Polizeiwache eine bestimmte Telefonnummer wählen. Rechtsanwälte standen dann mit Kautionsgeldern zur Verfügung, um solchen Personen zu Hilfe zu kommen.
Ein Feldzug begann, indem zunächst zehn Autos mit Zeugen ins Gebiet geschickt wurden, wie Burnice E. Williams sen. erzählt. Was geschah dann? „Nach kurzer Zeit riefen diejenigen, die ins Gebiet gefahren waren, an und berichteten uns, sie seien verhaftet worden. Dann wurden zehn weitere Wagen geschickt, bis das Gefängnis gefüllt war. Wenn das Gefängnis dann voll war, schwärmten wir in den Ort. Sie hatten dann nämlich keinen Platz mehr, um uns einzusperren. ... Wenn sie sahen, daß wir entschlossen waren, das Gebiet zu bearbeiten, gaben sie es in der Regel auf, so daß wir hinfahren und es bearbeiten konnten, wann immer wir wollten. Wir konnten uns immer durchsetzen.“
Nicholas Kovalak jr. erzählt, daß die Zeugen darauf eingestellt waren, verhaftet zu werden. „Wenn uns die Polizei verhaftete und uns unsere ,Wertsachen‘ wegnahm, fand sie bei jedem Zeugen eine Zahnbürste“, erinnert er sich. „Der Polizist fragte dann: ,Warum hat denn jeder eine Zahnbürste dabei?‘ Und wir erwiderten alle: ,Wir haben uns schon gedacht, daß wir verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden, und so sind wir gleich vorbereitet gekommen!‘ Sie schlugen dann die Hände über dem Kopf zusammen und sagten: ,Es hat alles keinen Zweck.‘ Sie wußten, daß sie die Zeugen nicht einschüchtern oder ihrem Predigen Einhalt gebieten konnten.“
Obwohl schon Jahrzehnte vergangen sind, seit diese Feldzüge durchgeführt wurden (von 1933 bis 1935), erinnern sich die Teilnehmer noch heute stolz daran. „Das waren“, wie John Dulchinos sagt, „aufregende Jahre, und wir haben kostbare Erinnerungen daran. Jehovas Geist hat uns furchtlos gemacht.“
KAMPF UM DIE ÄTHERWELLEN
Trotz wachsenden Widerstandes verkündigten Jehovas Zeugen Anfang der dreißiger Jahre die Königreichsbotschaft mutig von Haus zu Haus. Aber die gute Botschaft fand auch durch das Radio in Millionen von Haushalten Eingang, und dies sehr zur Bestürzung der Geistlichkeit. Die Watch Tower Society benutzte damals international 408 Rundfunkstationen. Im Frühjahr des Jahres 1933 starteten die Katholiken der Vereinigten Staaten im ganzen Land eine Kampagne, die von Kardinälen, Bischöfen und Priestern geleitet wurde. Ihr Ziel? „Rutherford aus dem Äther zu vertreiben.“
Papst Pius XI. verkündigte das Jahr 1933 als ein „Heiliges Jahr“. Am 23. April 1933 hielt Bruder Rutherford den historischen Vortrag „Wirkung des Heiligen Jahres auf Frieden und Wohlfahrt“, der von 55 Rundfunkstationen gesendet wurde. In diesem Vortrag wurden die vergeblichen Hoffnungen, die die römisch-katholische Hierarchie dem Volk machte, als eine Nachahmung des Friedens und der Sicherheit gebrandmarkt, die durch Gottes Königreich kommen sollen. Es war geplant, den gleichen Vortrag am 25. Juni 1933 noch einmal zu senden, und zwar über 158 Radiostationen. Zur Vorbereitung dieser Rundfunksendung wurden 5 000 000 Flugzettel von Haus zu Haus verteilt. Die Reaktion der Hierarchie war bitter und heftig. Die Katholiken setzten ihre Einschüchterungsversuche verstärkt fort, und einige Direktoren von Rundfunksendern weigerten sich daraufhin, noch weitere Wachtturm-Programme zu senden.
Ende 1933 und Anfang 1934 setzten Jehovas Diener im ganzen Land eine Petition in Umlauf, in der gegen dieses Vorgehen der Katholiken protestiert wurde. Sie war an den Kongreß adressiert und trug schließlich 2 416 141 Unterschriften. Am 4. Oktober 1934 erschien J. F. Rutherford vor der Bundesnachrichtenkommission (Federal Communications Commission). Er führte spezielle Vorfälle und Statistiken an, die zeigten, daß durch den Druck von katholischer Seite der Religionsfreiheit der Zeugen Jehovas und dem Rundfunk, der den Interessen der Öffentlichkeit dienen sollte, ernsthaft geschadet worden war. Doch obwohl die Tatsachen klar auf der Hand lagen, unternahm die Bundesnachrichtenkommission nur wenig, nachdem ihr das Beweismaterial vorgelegt worden war. Daher setzten Jehovas Diener eine weitere Petition überall in den Vereinigten Staaten in Umlauf. Sie war ebenfalls an den Kongreß gerichtet und wurde im Januar 1935 mit 2 284 128 Unterschriften eingereicht. Auch die zweite Petition blieb unbeachtet. Die weiteren Entwicklungen führten schließlich zur Abfassung einer dritten Petition. In dieser Petition protestierten 2 630 000 Unterzeichner gegen die Einschüchterungsmaßnahmen und den Boykott und forderten eine öffentliche Debatte zwischen hohen Geistlichen der katholischen Kirche und Richter Rutherford. Leonard U. Brown sen., der mit dieser Petition arbeitete, erzählt, er habe „viele Katholiken gefunden, die sagten, sie würden sich freuen, wenn sie diese Debatte hören könnten“. Die Petition wurde der Bundesnachrichtenkommission am 2. November 1936 eingereicht, aber auch sie blieb unbeachtet.
Kein katholischer Geistlicher war bereit, mit Rutherford zu debattieren, und so veröffentlichte die Gesellschaft im Jahre 1937 die Broschüre „Aufgedeckt“. Darin wurden die Grundlehren der Bibel erklärt und besonders die falschen katholischen Lehren widerlegt. Während der Wohnungsinhaber in der Broschüre mitlas, spielte ein Zeuge auf einem tragbaren Grammophon Bruder Rutherfords Schallplattenserie „Offenbar gemacht“ vor. Mit Hilfe der Fragebroschüre Musterstudium Nr. 1 konnte ein Bibelstudium durchgeführt werden. Darüber schreibt Melvin P. Sargent: „Einmal wurde ich eingeladen, mit dieser Serie in die Wohnung eines Mannes zu kommen, und er lud drei weitere Ehepaare aus seiner Verwandtschaft zu den Studien ein. Es nahm mehrere Wochen in Anspruch, dieses Thema und auch andere Themen, wie zum Beispiel ‚Religion und Christentum‘, zu behandeln. Von den acht Anwesenden gaben sich später sechs Jehova hin.“
Nach dem 31. Oktober 1937 verzichtete Jehovas Volk freiwillig darauf, regelmäßig Rundfunkstationen in Anspruch zu nehmen. Bei späteren Gelegenheiten hielt der Präsident der Gesellschaft öffentliche Vorträge über ein Sendernetz von Rundfunkstationen, und natürlich wurde die Station WBBR weiterhin zur Verherrlichung Gottes benutzt. Aber ab Ende 1937 bis in die vierziger Jahre hinein wurde vermehrt vom tragbaren Grammophon und von Schallplattenaufnahmen mit biblischen Vorträgen Gebrauch gemacht, um die Königreichsbotschaft in die Wohnungen von Millionen Menschen zu bringen.
WER IST DIE „GROSSE SCHAR“?
Das war unter Jehovas Dienern jahrelang eine brennende Frage. Lange hatten sie die „große Schar“ („große Volksmenge“, NW) als eine zweitrangige geistige Klasse betrachtet, die — wie Brautjungfern oder „Gefährtinnen“ der Braut Christi — mit den 144 000 im Himmel vereint sein würde (Ps. 45:14, 15; Offb. 7:4-15; 21:2, 9). Außerdem erkannte man schon 1923, daß die „Schafe“ aus Jesu Gleichnis von den Schafen und Böcken eine heute lebende irdische Klasse sind, die Harmagedon überleben und in Gottes verheißene neue Ordnung gelangen wird (Matth. 25:31-46; Offb 16:14, 16). In dem 1931 erschienenen Buch Rechtfertigung (Band I) wurden die Personen, die zur Bewahrung an der Stirn gekennzeichnet wurden (Hes., Kap. 9), als die „Schafe“ aus Christi Gleichnis identifiziert. Im Jahre 1932 kam man zu dem Schluß, daß diese heute lebende Klasse von „Schafen“ durch Jehus Gefährten Jonadab vorgeschattet worden war. Erst im Jahre 1934 wurde es klar, daß diese „Jonadabe“, die eine irdische Hoffnung hatten, sich „weihen“, d. h. sich Gott hingeben, und sich taufen lassen mußten. Aber die „große Schar“, auf die in Offenbarung, Kapitel 7 Bezug genommen wird, wurde immer noch so verstanden wie früher.
Die Unsicherheit hinsichtlich der „großen Schar“ wurde beseitigt, als Bruder Rutherford auf dem Kongreß der Zeugen Jehovas, der vom 30. Mai bis 3. Juni 1935 in Washington (D. C.) stattfand, dieses Thema besprach. In diesem Vortrag wurde anhand der Bibel gezeigt, daß die „große Schar“ mit den „anderen Schafen“ der Zeit des Endes identisch ist. Webster L. Roe erinnert sich an den entscheidenden Augenblick, als J. F. Rutherford sagte: „Würden alle, die die Hoffnung haben, ewig auf der Erde zu leben, bitte einmal aufstehen? Wie Bruder Roe erzählt, „standen mehr als die Hälfte der Zuhörer auf“, und der Redner sagte dann: „SIEHE! DIE GROSSE SCHAR!“ „Zuerst herrschte Stille“, erinnert sich Mildred H. Cobb, „und dann gab es Freudenrufe, und der Beifall war laut und anhaltend.“
Der Kongreß war bald vorüber, aber er hatte etwas in Gang gesetzt — eine Suche. „Mit großer Begeisterung und neuem geistigen Auftrieb gingen wir in unsere Gebiete zurück, um nach diesen schafähnlichen Menschen zu suchen, die noch eingesammelt werden mußten“, erzählt Sadie Carpenter.
Nach dem Kongreß im Jahre 1935 hörten einige auf, bei der jährlichen Feier des Abendmahls des Herrn von den Symbolen, dem Brot und dem Wein, zu nehmen. Warum? Nicht, weil sie untreu geworden wären, sondern weil sie jetzt erkannten, daß sie eine irdische und nicht eine himmlische Hoffnung hatten. Und während die Schriften der Gesellschaft in früheren Jahren hauptsächlich für Jesu gesalbte Nachfolger bestimmt waren, enthielten Der Wachtturm und andere christliche Schriften vom Jahre 1935 an geistige Speise zum Nutzen der Klasse der Gesalbten und auch ihrer Gefährten, die eine irdische Hoffnung haben.
LASST DIE WAHRHEIT ERSCHALLEN!
In den 1930er Jahren benutzten die Königreichsverkündiger Grammophone auf ihrer Suche nach schafähnlichen Menschen. Henry Cantwell erzählt darüber: „Im Jahre 1933, als die Gesellschaft begann, das Predigtwerk auszudehnen, wurden Vorkehrungen getroffen, Schallplattenaufnahmen der Vorträge Bruder Rutherfords in allen Teilen des Landes abzuspielen. Zu diesem Zweck stellte die Gesellschaft sogenannte elektrische Transkriptionsmaschinen her. Das waren große, von einer Feder angetriebene Grammophone mit batteriebetriebenem elektrischem Tonarm, Verstärker und Lautsprecher. ... Wir hatten verschiedene Arten von Schallplattenaufnahmen. Einige waren in sich vollständig; bei anderen wurden zwei oder vier Schallplatten für einen vollständigen Vortrag benötigt. Wir hatten also 15minütige, 30minütige und einstündige Vorträge. Auf diese Weise konnten wir in den verschiedenen Gebieten, die wir bearbeiteten, Zusammenkünfte für die Öffentlichkeit abhalten.“
Julia Wilcox erklärt dieses Werk weiter und schreibt: „Zuerst suchten wir eine Wohnung und manchmal ein öffentliches Gebäude, eine alte Scheune oder sogar eine Kirche, wo wir einen Stundenvortrag abspielen konnten. Dann gingen wir während des größten Teils des Tages von Haus zu Haus, kündigten den Vortrag an und vereinbarten, zurückzukommen und diejenigen abzuholen, die kein Transportmittel hatten.“
Während einer Serie von zwölf Grammophonzusammenkünften wurde ein und dasselbe Gebiet dreimal mit biblischer Literatur und viermal mit Ankündigungen durchgearbeitet. Die Zusammenkünfte wurden auch durch Plakate an den Schaufensterscheiben und durch Schilder an den Autos der Zeugen angekündigt. Es wurden gute Ergebnisse erzielt, und viele kamen dann zu regelrechten Studien zusammen und beteiligten sich sogar am Predigtwerk.
„Die Gesellschaft benutzte Hunderte dieser Schallplatten mit 33 1⁄3 UpM, um die Königreichsbotschaft über Rundfunk auszusenden“, erzählt Ralph H. Leffler. „Viele wurden in Lautsprecherwagen installiert. ... Auf so mancher Hupe war die Aufschrift ,Königreichsbotschaft‘ zu lesen, und das war natürlich unser Motto. Überall auf den Straßen und auf dem Lande war die Botschaft zu hören. ... Manchmal fuhr man mit dem Lautsprecherwagen auf einen Hügel, von wo aus man die kleine Stadt im Tal überschauen konnte. An einem ruhigen Abend war dann die Botschaft kilometerweit zu hören.“
Über seine Erinnerungen berichtet Henry A. Cantwell: „Wir fuhren in ein bestimmtes Gebiet, spielten einige Musikschallplatten, um die Aufmerksamkeit zu erwecken, machten eine kurze Ankündigung durch das Mikrofon und spielten dann einen der Vorträge ab. Darauf kündigten wir an, daß jemand an den Türen vorsprechen würde, um denen, die es wünschten weiteren Aufschluß zu übermitteln.“ Es gab auch Lautsprecherboote, und sie wurden auf ähnliche Weise eingesetzt.
Der Tondienst, den Jehovas Zeugen durchführten, hatte jedoch auch Gegner. Zum Beispiel schreibt Lennart Johnson:
„An einer Stelle in der 11. Straße einer südlich gelegenen Vorstadt von Rockford [Illinois] gefiel einer Frau die Tätigkeit mit dem Lautsprecherwagen und die Königreichsbotschaft nicht. Von ihren Gefühlen überwältigt, stellte sich diese Frau mit ihrem Auto neben den Lautsprecherwagen und ließ, als ob sie die Worte des Redners ersticken wollte, ihre Hupe drei oder vier Minuten lang ertönen. Die Folge war, daß sich ihre Batterie entleerte, denn der Ton ihrer Autohupe wurde schwächer und schwächer.“
Andere Erfahrungen, die mit Lautsprecherwagen gemacht wurden, waren jedoch ganz amüsant. „Zuerst gerieten einige Leute in Furcht“, bemerkt Julia Wilcox und fügt hinzu: „Manchmal waren sie draußen auf dem Feld bei der Arbeit, weit vom Lautsprecherwagen entfernt, und sie sagten, es habe sich so angehört, als sei die Stimme, die über Gott sprach, aus dem Himmel gekommen. Wir erfuhren, daß einige Familien sogar ihre Arbeit auf der Farm beendeten und nach Hause fuhren, da sie glaubten, der Gerichtstag sei gekommen.“
ZIEHT DAS GRAMMOPHON AUF!
Jahrelang spielte das tragbare Grammophon eine wichtige Rolle beim Predigen des Königreiches. Bedeutsam für die Entwicklung dieses Werkes war die Hauptversammlung der Zeugen Jehovas, die vom 15. bis 20. September 1937 in Columbus (Ohio) stattfand. Elwood Lunstrum erzählt uns folgendes über diese Versammlung:
„Auf diesem Kongreß wurde uns erklärt, wie wir das tragbare Grammophon im Treppenhaus verwenden konnten. Wir hatten zwar schon früher das Grammophon mit in den Dienst genommen, hatten es aber nur abspielen lassen, wenn wir hereingebeten wurden. ...
Auf dem Kongreß in Columbus wurde eine Organisation von ,Sonderpionieren‘ umrissen, die in der Verwendung des Grammophons an den Türen und in der Nacharbeit bei interessierten Personen (damals zunächst ,Nachbesuche‘ genannt) und in der Durchführung von Bibelstudien mit Hilfe der Broschüre Musterstudium führend vorangehen sollten.“
Kurz nach diesem Kongreß wurden etwa 200 besonders ausgewählte Pioniere überall in den Vereinigten Staaten in die Großstädte ausgesandt, wo es schon Versammlungen des Volkes Gottes gab. Ausgerüstet mit tragbaren Grammophonen, gingen diese Vollzeitverkündiger an die Arbeit. Bald wurden Jehovas Zeugen im allgemeinen „grammophonbewußt“, und in der Fabrik der Gesellschaft in Brooklyn mußten innerhalb von nur zwei Jahren 20 000 dieser Apparate hergestellt werden, und selbst dann noch übertraf die Nachfrage bei weitem den Vorrat, denn Tausende von Königreichsverkündigern zogen ihr Grammophon auf und ließen die Wahrheit erschallen, so daß alle sie hören konnten.
Die Grammophone, die die Königreichsverkündiger benutzten, wurden im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Im Jahre 1934 gab es ein starkes, kompaktes Modell mit aufziehbarem Motor, das Platz für mehrere Schallplatten hatte. Zusammen mit sechs Schallplatten wog es 9,5 Kilogramm. Im Laufe der Zeit bekamen Jehovas Zeugen einige Übung damit. Etwa zwei Jahre später hatte die Gesellschaft ein leichteres Grammophon. Dann, auf den Kongressen im Jahre 1940, wurde ein neues, vertikal spielbares Grammophon eingeführt. Es war von Brüdern im Hauptbüro der Gesellschaft entworfen und gebaut worden, und darauf konnten die Platten senkrecht abgespielt werden. Es hatte sogar ein Fach, in dem man Literatur und vielleicht sogar ein Butterbrot unterbringen konnte. Durch dieses Modell wurde die Predigttätigkeit von Haus zu Haus sehr erleichtert.
Stelle dir nun vor, du wärest vor über drei Jahrzehnten als Königreichsverkündiger im Predigtdienst tätig. „Wenn der Wohnungsinhaber die Tür öffnete, sagten wir: ,Ich habe eine Botschaft für Sie.‘ Die Nadel senkte sich, und Bruder Rutherfords Stimme ertönte“, erinnert sich L. E. Reusch. „Am Ende der Botschaft“, erklärt Angelo C. Manera jr., „erwähnte der Sprecher das Buch, das wir anboten, und nannte den Preis. Dann boten wir das Buch an und gaben es dem Wohnungsinhaber, wenn er interessiert war.“ „Wir waren niemals aufdringlich“, äußert sich George L. McKee, „aber wir waren überzeugt davon, daß jeder die gute Botschaft vom Königreich hören mußte.“
Das Grammophonwerk wurde nicht ohne Widerstand durchgeführt. Ernest Jansma erzählt uns: „Es gab Fälle, wo einem das Grammophon buchstäblich wütend vor den Augen zerschmettert wurde. Anderen passierte es, daß es ihnen das Treppenhaus hinuntergeworfen wurde. Im mittleren Westen sah ein Bruder zu, wie ein wütender Farmer sein Gerät mit einer Schrotflinte zerschoß, und hörte dann, wie die Schrotkörner an seinem Auto vorbeipfiffen, als er den Schauplatz verließ. Damals waren die Leute bösartig und waren religiöse Fanatiker.“ Amelia und Elizabeth Losch berichten von einer Begebenheit, als die Schallplatte „Feinde“ am Eingang eines bestimmten Hauses vor einer Menschenmenge abgespielt wurde. Nachdem der Vortrag zu Ende war, nahm eine Frau die Schallplatte vom Gerät, zerbrach sie und rief aus: „So können Sie nicht über meinen Papst sprechen!“
Trotz des Widerstandes wurde das Grammophonwerk fortgesetzt. Doch in den 1940er Jahren wurde dieses Gerät im Predigtdienst immer weniger gebraucht. Nach dem Jahre 1944 wurde der jahrzehntelange Predigtfeldzug mit dem Grammophon durch das mündliche Zeugnisgeben an den Türen ersetzt.
Eines der Mittel zum Zeugnisgeben, die in früheren Jahren angewandt wurden, war die Zeugniskarte, die Ende 1933 eingeführt und bis in die 1940er Jahre hinein verwendet wurde. John und Helen Groh erklären: „Die Verkündiger der guten Botschaft waren damals noch nicht so zahlreich wie heute und waren auch noch nicht so gut geschult. Als Hilfe in unserem Dienst und um das Gebiet besser bearbeiten zu können, benutzten wir eine sogenannte Zeugniskarte. Das waren kurze gedruckte Predigten, die wir den Leuten zu lesen gaben. Wenn sie sich weigerten, sie zu lesen, oder ärgerlich wurden, weil sie ihre Brille nicht zur Hand hatten, erzählten wir ihnen das, was auf der Karte stand.“
EINE ANDERE METHODE, DAS KÖNIGREICH BEKANNTZUMACHEN
Ein bedeutsames Werk, durch das Jehovas Volk die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zog, während es den König und sein Königreich verkündigte, nahm seinen Anfang bei einem Kongreß in Newark (New Jersey) im Jahre 1936. Weiterentwickelt wurde es auf einem Kongreß, der im Jahre 1938 in London (England) stattfand. Jahre später wurde dieser Tätigkeit die Würde gegeben, die sie verdiente, indem sie als „Informationsmärsche“ bezeichnet wurde. Rosa May Dreyer erinnert sich noch an den Kongreß in Newark im Jahre 1936 und erzählt: „ ‚Sandwich-Zeichen‘ oder Plakate, die vorn und hinten an den Schultern herabhingen, wurden verwandt, um den Hauptvortrag anzukündigen. [Die Plakate wurden deshalb „Sandwich-Zeichen“ genannt, weil die Verkündiger zwischen beiden Plakaten eingezwängt waren.] Auch Handzettel wurden verteilt.“
Während des Kongresses in London im Jahre 1938 fanden auf J. F. Rutherfords Anregung hin Informationsmärsche statt, bei denen einige Verkündiger an Stöcken befestigte Plakate mit nachdenklich stimmenden Schlagworten trugen. A. D. Schroeder (der damals die Aufsicht über das Zweigbüro in England hatte) erzählt uns unter anderem folgendes:
„... Am nächsten Abend führten Bruder Knorr und ich die erste aufsehenerregende Parade an, die etwa 9,5 Kilometer lang war und in der fast 1 000 Brüder durch das Hauptgeschäftsviertel Londons marschierten. Jeder zweite in der Gruppe trug das Plakat mit der Aufschrift ,Schau den Tatsachen ins Auge‘ [und kündigte damit den öffentlichen Vortrag an, der in der Royal Albert Hall gehalten werden sollte], während die anderen das Schild mit der Aufschrift ,RELIGION IST EINE SCHLINGE UND EIN GIMPELFANG‘ trugen. War das ein Schauspiel an jenem Abend!
Am nächsten Morgen rief mich Bruder Rutherford in sein Büro, um sich berichten zu lassen, wie alles verlaufen sei. Ich berichtete, daß wir sehr viel Aufsehen erregt und daß viele ,Kommunisten!‘ hinter uns hergerufen hatten. Er dachte ein paar Minuten nach und kritzelte schon wieder mit seinem Federhalter. Dann riß er ein Blatt Papier ab und gab es mir. Darauf stand: ,DIENET GOTT UND CHRISTUS, DEM KÖNIG‘. Er fragte mich, ob durch ein solches Schlagwort auf einem dritten Plakat die ungünstige Reaktion des vorhergehenden Abends neutralisiert werden könne. Ich sagte ja. Daher ließ er dieses Schlagwort drucken und verwandte es für die nächste Parade, die zwei Abende später stattfand. Wir erzielten ausgezeichnete Ergebnisse. Demzufolge führten wir vor dem Kongreß, der vom 9. bis 11. September stattfinden sollte, mehrere bemerkenswerte Paraden mit drei abwechselnd getragenen Schildern durch. Da uns die britische Regierung jahrelang die Verwendung des Rundfunks für unsere Schulungsprogramme und Bekanntmachungen verweigert hatte, erwies sich diese Methode als ein äußerst wirkungsvolles Mittel, die Öffentlichkeit zu informieren.“
Für Gladys Bolton waren die Informationsmärsche „die härteste Tätigkeit von allen“. Sie sagt auch: „Jedes Plakat hatte eine andere Aufschrift, aber eines ist mir noch besonders deutlich im Sinn: ,Religion ist eine Schlinge und ein Gimpelfang‘. Oh, wie die Geistlichkeit das ,liebte‘!“ Über das Schild „Religion ist eine Schlinge und ein Gimpelfang“ bemerkt Ursula Serenco: „Damals unterschieden wir nicht zwischen ,wahrer Religion‘ und ,falscher Religion‘; die Religion war insgesamt schlecht. Die wahre bezeichneten wir als ,Anbetung‘, die falsche dagegen war für uns einfach ,Religion‘.“
Manchmal brach offene Feindseligkeit gegen die Brüder aus, die an Informationsmärschen teilnahmen. „In einigen Städten wie Pittston [Pennsylvanien] wurden wir nicht gastfreundlich empfangen“, erzählt John H. Sovyrda. „Viele Leute spuckten uns an, riefen uns allerlei Schimpfnamen nach und sagten, wir seien Kommunisten. Sie bewarfen uns mit verschiedenen Gegenständen, und einige schlugen uns sogar mit der Faust.“
Warum führten denn Jehovas Zeugen Informationsmärsche durch? „Hauptsächlich, weil wir es für wichtig hielten, daß die Leute über die Tatsachen hinsichtlich der falschen Anbetung und hinsichtlich des Widerstandes gegen unser christliches Werk informiert wurden“, erklärt Charles C. Eberle. Angelo C. Manera jr. meint dazu: „Wir betrachteten jeden neuen Dienstzweig, der uns vorgeschlagen wurde, als ein neues Mittel, Jehova zu dienen, als eine weitere Möglichkeit, ihm unsere Loyalität zu beweisen, als eine weitere Prüfung unserer Lauterkeit, und wir waren darauf bedacht, unsere Bereitschaft zu beweisen, ihm durch jede Methode zu dienen, die er uns zeigte.“
Grant Suiter erinnert uns daran, daß die Informationsmärsche auf eine Ankündigung im Wachtturm hin nach dem Oktober 1939 eingestellt wurden, aber er fügt hinzu: „Diese ungewöhnliche und erfolgreiche Methode, die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf den Dienst der Zeugen Jehovas zu lenken, war damals einzigartig. Die Beendung dieser Tätigkeit wie auch ihre Durchführung zeigt Jehovas Lenkung in dieser Angelegenheit. In unserer Zeit [den 1970er Jahren] werden alle möglichen öffentlichen Demonstrationen durchgeführt, aber wir beteiligen uns daran in keiner Weise, und nichts, was wir tun, kann mit solchen Demonstrationen verwechselt werden.“
DIE „WAHRE WEISHEIT“ DURCH ZEITSCHRIFTEN VERBREITEN
Die Königreichsverkündiger hatten ausgezeichnete Gelegenheiten, beim Einsammeln der „großen Volksmenge“ und bei der Verbreitung der wahren Weisheit mitzuhelfen, indem sie in ihrem Predigtdienst von Haus zu Haus die Zeitschriften Der Wachtturm und Trost im Jahresabonnement anboten. Während des ersten Abonnementsfeldzuges für die Zeitschrift Trost, der in den Monaten April, Mai und Juni des Jahres 1938 durchgeführt wurde, wurden in den Vereinigten Staaten 73 006 neue Abonnements aufgenommen. Der erste Wachtturm-Abonnementsfeldzug fand in den Monaten Januar bis Mai 1939 statt, und Jehovas Zeugen nahmen allein in den Vereinigten Staaten über 93 000 neue Abonnements auf.
Aber die Zeitschriften Der Wachtturm und Trost sollten noch auf eine besondere Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit finden. Die „wahre Weisheit“ sollte regelrecht ‘laut auf den Straßen rufen’ (Spr. 1:20). Wie? Durch den Straßendienst mit Zeitschriften, der im Februar 1940 begann. Bei dieser Tätigkeit stellten sich Jehovas Diener an verkehrsreiche Straßenecken und trugen über den Schultern besonders dafür hergestellte und beschriftete Zeitschriftentaschen, auf denen die Namen der beiden Zeitschriften und der vorgeschlagene Beitrag — 5 Cent pro Exemplar — standen. Der Königreichsverkündiger hielt die Zeitschrift Trost hoch und rief aus: „Veröffentlicht Tatsachen, die keine andere Zeitschrift zu drucken wagt.“ Andere Schlagworte lauteten: „Stellt den religiösen Gimpelfang bloß“ und „Der Wachtturm erklärt die theokratische Regierung“. Die Verkündiger wurden ermahnt, auf der Straße eine gemäßigte, der Botschaft würdige Sprache zu sprechen. Durch diese Tätigkeit wurde natürlich die Aufmerksamkeit der Passanten erregt, und viele reagierten günstig.
Möchtest du gern wissen, wie der Zeitschriftendienst auf der Straße aufkam? S. E. Johnston erinnert sich, daß die Gesellschaft im Jahre 1939 an alle Zonendiener (die Vorgänger der heutigen Kreisaufseher) schrieb und sie bat, verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren, wie man die Zeitschriften Der Wachtturm und Trost in die Hände der Menschen legen könnte. Bruder Johnston dachte an die Zeitungsjungen, die Taschen über ihren Schultern trugen. „Warum nicht so etwas ausprobieren?“ überlegte er sich. Dave und Emma Reusch erklärten sich bereit, Zeitschriftentaschen herzustellen, und ihre Tochter, Vera Coates, beschriftete sie farbenprächtig — „Wachtturm auf der einen Seite, Trost auf der anderen“. Als Bruder Johnston die kleine Versammlung in Concord (Kalifornien) besuchte, schloß sich ihm eine Gruppe im Zeugnisgeben auf der Straße an. Er schreibt: „In der nächsten Woche fertigten uns die Reuschs weitere Zeitschriftentaschen an, und diesmal versuchten wir es auf den Geschäftsstraßen von Oakland. Einige Brüder waren anfänglich etwas ängstlich, aber der Straßendienst fand Anklang, und wir erhielten die ersten Bestellungen von anderen Gruppen [Versammlungen] für Zeitschriftentaschen. Da erstattete ich der Gesellschaft Bericht und schickte ihr eine Mustertasche. ... Die Gesellschaft schrieb mir, bedankte sich bei mir und uns allen für das Experiment und sagte, im Informator würde bald eine Ankündigung erfolgen. Das geschah auch.“
Die Gesellschaft traf Vorkehrungen, um die Verkündiger mit Zeitschriftentaschen auszurüsten. Nicholas Kovalak jr. erzählt uns: „Die Verkündiger der Versammlung Passaic (New Jersey) hatten das Vorrecht, die Zeitschriftentaschen für die Gesellschaft herzustellen. Wir schnitten den Stoff zu und nähten dann die Zeitschriftentaschen. Samstags und sonntags versammelten sich alle, die sich eigneten und die bereit waren, in Bruder Frank Catanzaros großer Fabrik und hatten das Vorrecht, die Zeitschriftentaschen für unsere Brüder im ganzen Land zu nähen. ... die Gesellschaft bedruckte sie dann. Immer, wenn wir eine Zeitschriftentasche sahen, dachten wir daran, daß wir einen kleinen Anteil an der Verkündigung des Königreiches Jehovas gehabt hatten.“
Wie fühlte man sich, wenn man zum erstenmal mit den Zeitschriften Der Wachtturm und Trost im Februar 1940 an der Straßenecke stand? Peter D’Mura antwortet: „Wie gut erinnere ich mich noch an den 1. Februar 1940! ... Wie würden wir aufgenommen werden? Wie würden unsere Nachbarn und die anderen Bürger der Stadt reagieren? Wir waren aufgeregt. Wir wollten dies zwei Stunden lang tun. ... Wir waren überrascht. Als wir angemessene Schlagworte ausriefen und die Menschen ansprachen, hatten wir Erfolg. Jeder von uns gab viele Zeitschriften ab.“
Über die Reaktion der Öffentlichkeit schreibt Grace A. Estep: „Die erste Reaktion war Verblüffung, gemischt mit Belustigung und manchmal auch mit etwas Ärger, und die Leute waren oft recht verlegen, wenn sie von einer Straßenseite auf die andere überwechselten, um ihren Nachbarn auszuweichen, mit denen sie nicht sprechen wollten und die zu ignorieren sie sich schämten. Nach den ersten paar Wochen jedoch gaben sie es auf und unterhielten sich mit den Verkündigern oder sahen sich die Schaufenster an, während sie durch die Reihen der Verkündiger Spießruten liefen.“
Manchmal kam es zu Pöbelaktionen, wenn sich Jehovas Diener in jenen Jahren am Zeitschriftenwerk auf der Straße beteiligten. Zum Beispiel erinnert sich H. S. Robbins an eine wütende Pöbelrotte, die ihn und andere Königreichsverkündiger belästigte, als sie vor Jahren in San Antonio (Texas) auf der Straße Zeitschriften anboten. Die Zeugen wurden dabei zwar nicht verletzt, aber sie — nicht die Pöbelrotte — wurden verhaftet. Bruder Robbins fügt hinzu:
„Als wir freigelassen wurden, gingen wir zum Königreichssaal zurück, um uns neu zu organisieren und um zu sehen, was wir als nächstes tun würden. ... Wir organisierten uns neu und gingen sofort wieder zurück.
Als wir ins Stadtzentrum kamen, war gerade ein ,Extrablatt‘ gedruckt worden, und die Zeitungsjungen riefen aus: ,Jehovas Zeugen aus der Stadt gejagt!‘ Und wir standen wieder überall auf den Straßen. ... Wir hatten uns bestimmt nicht aus der Stadt jagen lassen und hatten dies auch nicht vor.“
„WAHLÄLTESTE“
In der Heiligen Schrift werden Gottes Diener mit Schafen verglichen, deren himmlischer Hirte Jehova ist (Ps. 28:8, 9; 80:1; Hes. 34:11-16). Außer seiner Fürsorge erfreuen sie sich der Hilfe und Anleitung des vortrefflichen Hirten, Jesu Christi, sowie des Beistandes anderer Hirten innerhalb der Christenversammlung (Matth. 25:31-46; Luk. 12:32; Joh. 10:14-16; 1. Petr. 5:1-4). Unter Gottes Volk leiteten von den 1870er Jahren an bis 1932 Männer, die von der Versammlung in das Amt eines Ältesten gewählt worden waren, die Versammlungsbibelstudien und hielten Vorträge. Ihnen halfen Männer, die von der Versammlung in das Amt eines Diakons gewählt worden waren. Wie C. W. Barber erzählt, hatten die Ältesten „die Leitung in geistigen Angelegenheiten inne, sie leiteten die Zusammenkünfte, hielten Ansprachen und hatten die allgemeine Aufsicht“, wohingegen die Diakone „als Ordner eingesetzt wurden, sich der Sitzordnung annahmen und in anderer Hinsicht aushalfen“.
Die Ältesten und die Diakone wurden jedes Jahr von allen, die mit der Versammlung verbunden waren, durch Handerheben gewählt. „Was das Wählen betrifft“, erklärt Herbert H. Abbott, „so dachte man damals, daß sich das in Apostelgeschichte 14:23 mit ,ordinierten‘ [King-James-Bibel; „setzten ein“, Neue-Welt-Übersetzung] wiedergegebene griechische Wort auf das Handerheben beziehe und bedeute, daß Klassenführer durch Stimmabgabe gewählt werden müßten. [Siehe Apostelgeschichte 14:23, Rotherham; Elberfelder Bibel.] Wir wußten damals noch nicht, daß die Apostel oder die leitende Körperschaft dieses Wort auch im Sinne von Ernennen oder Einsetzen gebrauchte.“
„Was war ausschlaggebend für die geistige Befähigung derer, die als Aufseher der Versammlung gewählt wurden?“ fragt Henry A. Rheb. Seine Antwort lautet: „Nun, zum Beispiel wurde kein Neuling gewählt, und das war bestimmt biblisch. Vor der Geschäftsversammlung wurden die Befähigungen für das Amt aus 1. Timotheus 3:1-13 und Titus 1:5-9 vorgelesen.“ „Wenn die Kandidaten aufgestellt waren“, sagt Edith R. Brenisen, „wurden wir ernsthaft ermahnt, sorgfältig und gebetsvoll die Befähigungen und Fähigkeiten jedes einzelnen Kandidaten anhand der Bibel zu betrachten und um die Leitung des heiligen Geistes zu bitten, bevor wir unsere Entscheidung träfen. ... zur bestimmten Zeit kamen wir dann wieder zusammen, um diejenigen zu wählen, die nominiert worden waren.“
An einigen Orten gab es bei der Wahl der Ältesten Probleme. Schwester Avery Bristow erinnert sich an „Stimmenfang und Rivalität“ und erzählt: „Dadurch entstanden in einigen Versammlungen unter den Brüdern und Schwestern Spaltungen und Parteien, und einige sprachen noch nicht einmal mit denen, die zu einer anderen Gruppe gehörten.“ James Rettos bemerkt: „Einige wurden sogar sehr ärgerlich, wenn sie nicht gewählt wurden.“
Manchmal entstanden auch Probleme in Verbindung mit dem Predigtdienst. Ursula C. Serenco schreibt: „Alles ging gut, bis die Ankündigung kam, daß alle am Zeugnisgeben von Haus zu Haus und an der Literaturverbreitung teilnehmen sollten, und zwar besonders am Haus-zu-Haus-Dienst an Sonntagen. Das war im Jahre 1927. Unsere Wahlältesten waren dagegen und versuchten, die ganze Klasse davon abzuhalten, sich an dieser Tätigkeit zu beteiligen. Die Klasse begann Partei zu ergreifen, und eine Spaltung wurde sichtbar.“ Einige Älteste hielten den Predigtdienst von Haus zu Haus für sehr wichtig. Und so war dies in manchen Fällen ein entscheidender Punkt bei den jährlichen Wahlen. Wie zum Beispiel H. Robert Dawson erzählt, mußten im Jahre 1929 die Kandidaten für das Amt eines Ältesten oder Diakons in Pittsburgh (Pennsylvanien) folgende Frage beantworten: „Bist du bereit, am Dienstwerk teilzunehmen?“
Gewisse Älteste waren überheblich und wollten nur Vorträge halten, wie Schwester J. M. Norris erzählt. Sie fügt hinzu: „Andere kritisierten Artikel im Wachtturm und waren nicht bereit, ihn weiterhin als Gottes Kanal der Wahrheit anzuerkennen, und sie versuchten immer, andere zu beeinflussen, so zu denken wie sie.“
Man sollte jedoch nicht zu dem Schluß kommen, daß alle Wahlältesten eine falsche Einstellung oder einen schlechten Geist bekundeten. Viele kamen treu ihrer Verantwortung als christliche Hirten des Volkes Gottes nach (1. Petr. 5:1-4). „Nur ein paar warfen immer wieder dem Predigtwerk Hindernisse in den Weg“, sagt James A. Barton. Wie Roy E. Hendrix erzählt, „waren viele von ihnen wirklich ergebene Bibelforscher, echte Zeugen Jehovas“. Clarence S. Huzzey bemerkt diesbezüglich: „Viele dieser Ältesten waren vortreffliche reife christliche Brüder, die um das Wohl der Versammlung besorgt waren.“ Jehova weidete sein Volk, und es gefiel ihm, solche Männer zum Nutzen seiner ihm hingegebenen Anbeter zu gebrauchen.
„Wahlälteste“ führten viele Jahre lang die Aufsicht über die Tätigkeit in der Versammlung. Mit dem Jahre 1932 jedoch ergab sich ein vorübergehender Wechsel. Ältere Glieder der Brooklyner Bethelfamilie erinnern sich noch an die Zusammenkunft, die am Mittwoch, den 5. Oktober 1932 abends im Apollosaal in Brooklyn stattfand. Etwa 300 Glieder der Versammlung New York verabschiedeten damals eine Resolution, durch die die Wahl der Ältesten in New York abgeschafft wurde. (Siehe Wachtturm vom 1. Oktober 1932, S. 298 sowie die Ausgabe vom 15. November 1932, S. 351, 352.) Fast alle anderen Versammlungen hörten sogleich auf, Älteste zu wählen, und verabschiedeten ähnliche Resolutionen. Somit wurden im Jahre 1932 die „Wahlältesten“ durch eine Gruppe reifer christlicher Männer ersetzt, die als „Dienstkomitee“ bezeichnet und von der Versammlung gewählt wurden, um dem örtlichen Dienstleiter zu helfen, der von der Watch Tower Society ernannt worden war.
Die Einführung der neuen Einrichtung im Jahre 1932 brachte einige Probleme mit sich, und einzelne verließen die Organisation. Doch die große Mehrheit der Versammlungen und der Personen, die damit verbunden waren, nahm die organisatorische Änderung dankbar an.
ANDERE ENTWICKLUNGEN IM AUFBAU DER ORGANISATION
Viele Jahre lang bekleideten nur gesalbte Nachfolger Jesu Christi verantwortliche Stellungen in der Christenversammlung. Aber im Jahre 1937 trat ein Wechsel ein. Grant Suiter schreibt diesbezüglich: „In organisatorischer Hinsicht war uns der Rat im Wachtturm vom 1. Mai 1937 [deutsch: 15. August 1937] eine große Hilfe, denn darin hieß es, Personen, die zur Jonadab-Klasse gehörten [d. h. eine irdische Hoffnung hätten], könnten in der Versammlung in Dienststellungen eingesetzt werden. ... In der Ausgabe des Wachtturms vom 15. August [deutsch: 15. September] wurde erklärt, Jonadabe könnten in Dienstkomitees und in ähnlichen Stellungen in den Gruppen [Versammlungen] dienen.“ Wie im Wachtturm gezeigt wurde, konnten „Jonadabe“ „Gruppendiener“ oder vorsitzführender Aufseher werden, falls keine geeigneten Glieder des gesalbten Überrestes zur Verfügung standen. „Wir sehen, wie Jehova den Weg für die große Zunahme ebnete, die noch kommen sollte“, sagte Norman Larson und fügte hinzu: „Dadurch wurden für diejenigen, die zur irdischen Klasse gehörten, wie zum Beispiel für mich, neue Möglichkeiten eröffnet.“
Im Jahre 1938 trat eine weitere bedeutsame organisatorische Entwicklung ein. Die Wachtturm-Artikel „Einheit im Handeln“ (15. Juni) und „Organisation“ (1. und 15. Juli) zeigten, daß die Befugnis, Aufseher und ihre Gehilfen zu ernennen, nicht bei den einzelnen Versammlungen lag. Es wurde vorgeschlagen, daß die Versammlungen überall auf der Welt einen Beschluß faßten, der im Wachtturm dargelegt wurde und die Bitte enthielt, daß die „Gesellschaft“ die Versammlung für den Dienst organisiere „und deren verschiedene Diener bestelle“, das heißt alle, die verantwortliche Stellungen ausfüllen würden. (Siehe Wachtturm von 1938, Seite 101, 102, 215.) Die meisten Versammlungen nahmen diese Resolution an, und die wenigen, die es nicht taten, verloren bald ihre geistige Vision und die Vorrechte, die sie in Verbindung mit dem Königreichsdienst hatten.
DER „KÖNIGREICHSSAAL“
Jehova, der himmlische Hirte, versorgt seine Diener reichlich mit geistiger Speise. Bei ihrer geistigen Ernährung spielen die christlichen Zusammenkünfte eine große Rolle (Hebr. 10:24, 25). Oft haben sich Gottes Diener der Neuzeit in Privatwohnungen versammelt und öffentliche Gebäude gemietet. Und da das himmlische Königreich im Jahre 1914 u. Z. geboren wurde, begann Gottes Volk im Laufe der Zeit, seine Versammlungsstätten als „Königreichssäle der Zeugen Jehovas“ zu bezeichnen.
Wie Domenico Finelli erzählt, wurde der erste Königreichssaal im Jahre 1927 in Roseto (Pennsylvanien) gebaut, und „Bruder Giovanni DeCecca hielt einen öffentlichen Vortrag zur Bestimmungsübergabe“. Doch die Bezeichnung „Königreichssaal“ kam erst von 1935 an allgemein in Gebrauch. In jenem Jahr besuchte der Präsident der Watch Tower Society, J. F. Rutherford, die Hawaii-Inseln und richtete ein Zweigbüro in Honolulu ein. Zu dem Gebäude des Zweigbüros sollte auch ein Versammlungssaal gehören. Dieser Versammlungssaal wurde als „Königreichssaal“ bezeichnet.
Vom Jahre 1935 an haben Jehovas Zeugen an verschiedenen Orten Gebäude gemietet, sie als Versammlungsstätten eingerichtet und als Königreichssäle benutzt. Oft haben Versammlungen Grundstücke gekauft, Gebäude renoviert oder neue Gebäude errichtet, die als Versammlungsstätten zum Bibelstudium und zur Anbetung Gottes dienen sollten. W. L. Pelle erklärte vor kurzem folgendes:
„Die Königreichssäle haben ein ansprechendes Äußeres und sind innen gemütlich und praktisch. Außerdem geben sie, da sie ein ansprechendes Äußeres haben, ein stummes Zeugnis, und Neuinteressierte fühlen sich ,gleich zu Hause‘. Die weitaus größte Arbeit am Bau haben unsere Brüder und interessierte Personen geleistet. Wir mußten uns nicht an Kreditinstitute (der Welt des Teufels) wenden. Das Kapital und die Besitztümer bleiben im Gebrauch des Volkes Jehovas. Das gleiche traf vor langer Zeit auch auf die Israeliten und ihr ‘Zelt in der Wildnis’ zu [Apg. 7:44]. Jemand fragte mich kürzlich: ,Warum nennt ihr euer Gebäude „Königreichssaal“?‘ Ich erwiderte, die erste Bedeutung die in meinem Wörterbuch für ,Saal‘ angegeben werde, laute: ‚ein Gebäude, das einer öffentlichen Sache gewidmet ist‘. Unsere Königreichssäle sind ausschließlich der Sache des allmächtigen Gottes und seines Königreiches gewidmet. Es könnte also keinen passenderen Namen geben.“
ZONENDIENST STÄRKT JEHOVAS VOLK
Während damals, in den 1930er Jahren, die „große Volksmenge“ in immer größerer Zahl in die Königreichssäle strömte, begann eine Tätigkeit, durch die die Versammlungen des Volkes Gottes gestärkt werden sollten (Offb. 7:9). Es war der Zonendienst, der dem heutigen Kreisdienst entsprach. Ungefähr zwanzig Versammlungen in einem bestimmten Gebiet des Landes bildeten eine Zone. Die Gesellschaft ernannte einen Zonendiener, der jede Versammlung besuchen und im allgemeinen eine Woche dort bleiben sollte. Seine Aufgabe bestand darin, die Versammlungen in organisatorischer Hinsicht zu stärken und ihnen auch im Predigtwerk zu helfen. Von Zeit zu Zeit wurden die Versammlungen in einer Zone zu einem Zonenkongreß versammelt, wo sie biblische Belehrung und geistige Hilfe erhielten. Vom Hauptbüro der Gesellschaft wurden besondere Diener zu diesen Kongressen gesandt. Der Zonendienst nahm am 1. Oktober 1938 seinen Anfang und wurde bis zum November des Jahres 1941 fortgesetzt.
Edgar C. Kennedy erklärt, wie Christen den Zonendienst aufnahmen: „Sie hatten einen guten Geist und brachten liebevoll ihre Wertschätzung für unsere Besuche zum Ausdruck. Alle Gruppen [Versammlungen] waren klein, aber man konnte beobachten, daß sie rührig waren. Zufolge ihrer Bereitschaft, theokratische Anweisungen anzunehmen, ihrer Liebe zur Wahrheit, ihrer Reaktion auf den Gruppendienst und ihrer Tätigkeit mit den Musterstudien wurden erste Anzeichen des Wachstums sichtbar. Verschiedene neue Gruppen wurden gebildet.“
„RETTUNG GEHÖRT JEHOVA“
In jenen Tagen war bestimmt eine starke christliche Organisation notwendig, denn Jehovas Zeugen waren der Gegenstand heftiger Verfolgung. Sie begann im Jahre 1935. Wieso? Nun, am Montag, dem 3. Juni, beantwortete Bruder Rutherford auf dem Kongreß in Washington (D. C.) eine Anfrage von Schulkindern über den Fahnengruß. Er sagte den Kongreßteilnehmern, es sei ein Akt der Untreue gegenüber Gott, wenn man ein irdisches Emblem grüße und ihm Rettung zuschreibe. Rutherford sagte, er würde es nicht tun.
H. L. Philbrick bemerkte, Rutherfords Antwort müsse „von einigen jungen Leuten gehört worden sein, denn als in jenem Herbst die Schule wieder begann, erschienen plötzlich in den Zeitungen von Boston Schlagzeilen über einen Jungen aus Lynn (Massachusetts), der sich geweigert hatte, zu Beginn des neuen Schuljahres in der Schule die Fahne zu grüßen. Sein Name war Carleton Nichols. Am gleichen Tag nahm ein junges Mädchen, Barbara Meredith, in ihrer Schule in Sudbury (Massachusetts) die gleiche Haltung ein.“ Aber die Presse erfuhr nichts von ihr, da sie einen toleranten Lehrer hatte, der daraus keine Streitfrage machte.
Als es der junge Carleton B. Nichols jr. am 20. September 1935 ablehnte, die Fahne zu grüßen, wurde dieser Vorfall im ganzen Land publiziert. Die Associated Press wandte sich an den Präsidenten der Watch Tower Society, J. F. Rutherford, und bat ihn um eine offizielle Stellungnahme bezüglich der Ansicht der Zeugen Jehovas in dieser Angelegenheit. Die Stellungnahme wurde gegeben, aber die Presse weigerte sich, sie zu veröffentlichen. Daher sprach Rutherford am 6. Oktober 1935 in einer Rundfunksendung, die im ganzen Land ausgestrahlt wurde, über das Thema: „Eine Fahne grüßen“. Dieser Vortrag wurde in der 32seitigen Broschüre Loyalty veröffentlicht und in Millionen Exemplaren verbreitet. In dieser Antwort an die Presse zeigte Rutherford, daß Jehovas Zeugen die Fahne respektieren, daß ihnen aber ihre biblischen Verpflichtungen und ihr Verhältnis zu Gott strikt verbieten, irgendein Bildnis zu grüßen. Für Jehovas Diener sei dies ein Akt der Anbetung, der im Widerspruch zu den Grundsätzen stehe, die in den Zehn Geboten dargelegt würden (2. Mose 20:4-6). In der Antwort hieß es ferner, daß in erster Linie die christlichen Eltern die Pflicht hätten, ihre Kinder zu belehren, und daß den Kindern die Wahrheit entsprechend dem Verständnis ihrer Eltern über die Heilige Schrift gelehrt werden müsse.
Zwar waren viele Schulbehörden und Lehrer großzügig, aber andere handelten eigenmächtig und verwiesen Kinder von Zeugen Jehovas von der Schule, wenn sie sich weigerten, die Fahne zu grüßen. Zum Beispiel wurden am 6. November 1935 zwei Kinder von Zeugen aus diesem Grund in Minersville (Pennsylvanien) von einer öffentlichen Schule verwiesen. Ihr Vater, Walter Gobitis, strengte einen Prozeß gegen die Schulbehörde, den Minersville School District, an. Der Prozeß begann vor dem US-Bundesbezirksgericht für den östlichen Bezirk Pennsylvaniens und wurde zugunsten der Zeugen Jehovas entschieden. Als gegen das Urteil Berufung eingelegt wurde, gewannen die Zeugen den Fall auch vor dem Kreisberufungsgericht. Aber als nächstes kam der Fall vor das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten. Das Gericht stieß im Juni 1940 mit acht Stimmen gegen eine das günstige Urteil um, und das hatte verhängnisvolle Folgen.
An einem Ort nach dem andern wurden Christen wegen ihrer biblischen Haltung bezüglich des Fahnengrußes verfolgt. Zum Beispiel griff eine Pöbelrotte, der sich einige Polizisten angeschlossen hatten, am 20. Juni 1940 Jehovas Zeugen während einer dem Bibelstudium gewidmeten Zusammenkunft in Rockville (Maryland) an. Nachdem sie in den Königreichssaal eingedrungen war, hielt der Anführer der Pöbelrotte eine Fahne hoch und rief: „Ich gebe euch zwei Minuten amerikanische Zeit, um diese Fahne zu grüßen. Tut ihr es nicht, gibt es Blutvergießen.“ Sotir K. Vassil berichtet: „Eine Minute lang herrschte Stille, dann geriet plötzlich ein Mann, der die Zusammenkunft zum erstenmal besuchte, in Furcht, sprang auf, grüßte die Flagge und ging hinaus ... Niemand anders grüßte die Flagge. Als die zwei Minuten um waren, schlug mir der Anführer alles aus der Hand und gab der Pöbelrotte den Befehl, alles zu zerstören, die Stühle usw., und die Gegenstände begannen zu fliegen. Die beiden Polizisten mit ihren Pistolen an der Hüfte waren mit ihnen im Saal, und ich ging zu ihnen und fragte sie, ob sie nicht etwas unternehmen könnten. Sie hielten es nicht einmal für nötig zu antworten und unternahmen auch nichts, um die Pöbelrotte aufzuhalten.“ Es wurde immer schlimmer. „Sie benahmen sich wie eine Horde Dämonen“, sagt Bruder Vassil, „und stießen und schoben uns aus dem Saal. Ständig riefen sie: ,Tötet sie! Tötet sie! Sie sind Nazis.‘ Einige der Kinder im Saal fingen an zu weinen, und einige von der Pöbelrotte schrien: ,Werft diese Schreihälse aus dem Fenster!‘ Sie jagten uns mit Fußtritten aus dem Gebäude auf die Straße und schrien nun: ,Treibt sie aus der Stadt! Treibt sie aus der Stadt!‘ “
Nachdem Bruder Vassil der Pöbelrotte entronnen war, nahm er mit dem Zonendiener, Charles Eberle, Kontakt auf, und dieser berichtete den Vorfall sofort dem Justizminister der Vereinigten Staaten. Am nächsten Tag wurde der Vorfall vom Bundeskriminalamt (Federal Bureau of Investigation) untersucht. Schließlich kam es zu einer Gerichtsverhandlung, und Bruder Vassil erzählt uns: „Nach dem Prozeß, der zu unseren Gunsten und zu Jehovas Ehre entschieden wurde, ließ die Stadt Rockville unseren Königreichssaal bei jeder Zusammenkunft bewachen, damit ein solcher Vorfall nicht wieder vorkäme. Diesmal war es Satan nicht gelungen, unsere neugegründete Versammlung und unseren Königreichssaal zu vernichten (Jes. 54:17).“
Dieser Bericht ist nur ein Beispiel. Es gab noch viele weitere solche Vorfälle. Zum Beispiel wurde in Connersville (Indiana) ein Rechtsanwalt der Zeugen geschlagen und aus der Stadt gejagt. Diese gewalttätige Verfolgung kam über Jehovas Zeugen, weil sie sich streng an die Heilige Schrift hielten und mutig die Ansicht vertraten, daß ihre Rettung und Befreiung von Feinden und Gefahren nicht von irgendeiner Nation käme, sondern von Gott. Ja, „die Rettung gehört Jehova“ (Ps. 3:8).
KÖNIGREICHSSCHULEN
Der obligatorische Fahnengruß in den Schulen führte dazu, daß viele Schüler, die Zeugen Jehovas waren, von der Schule verwiesen wurden. Doch die Watchtower Society half wahren Christen, ihren Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Das geschah schon 1935, indem private „Königreichsschulen“ eröffnet wurden. In diesen Schulen setzten qualifizierte Lehrer aus den Reihen der Zeugen Jehovas ihre Zeit und Kraft ein und unterrichteten Kinder, die von der Schule verwiesen worden waren. Gottes Volk organisierte und finanzierte diese Privatschulen an verschiedenen Orten.
Eine der Königreichsschulen befand sich in Lakewood (New Jersey). C. W. Erlenmeyer, der diese Schule besuchte, erzählt, daß der Königreichssaal der Versammlung Lakewood sowie der Schulraum, eine Küche und der Speisesaal im ersten Stock waren. Die Schlafzimmer für die Mädchen befanden sich im zweiten Stock und die der Jungen im dritten. „Natürlich“, sagt Bruder Erlenmeyer, „wohnten die meisten von uns dort und fuhren höchstens an den Wochenenden nach Hause. Diejenigen, die weiter weg wohnten, fuhren jedes zweite Wochenende nach Hause, und im letzten Schuljahr fuhren wir wegen der Benzinrationierung im Krieg nur jedes dritte Wochenende nach Hause.“
Es waren auch ein Koch und eine Haushälterin zur Stelle, die reichlich Arbeit hatten. Aber auch die Kinder hatten ihre Arbeitszuteilungen. Sie halfen in der Küche, wuschen und trockneten das Geschirr ab, brachten den Abfall hinaus usw. Am Frühstückstisch wurde der Tagestext behandelt, und jeder Schultag begann mit einem halbstündigen Bibelstudium. Auf diese Weise wurden die Kinder geistig ernährt. Außerdem hatten sie die Gelegenheit, samstags und sonntags das, was sie gelernt hatten, im Predigtdienst anzuwenden.
Eine andere Königreichsschule wurde in Gates (Pennsylvanien) eingerichtet. Dort unterrichtete Grace A. Estep, eine Lehrerin, die entlassen worden war, weil sie in ihrer Klasse Treueid und Fahnengruß nicht leisten ließ. Schwester Estep erinnert sich, daß das erste Jahr der Schule ziemlich „turbulent“ war, da die Behörden auf alle mögliche Weise versuchten, Gründe dafür zu finden, die Schule zu schließen. Sie erzählt: „Oft kamen Schulbeamte und andere Beamte in den Schulraum, um Fehler zu finden oder um zu stören. Auch war ein großer Teil der Bevölkerung von patriotischer Leidenschaft erfüllt. Einmal versammelte sich eine Menschenmenge, um eine Bombe zu legen oder die Schule abzubrennen, und machte dann dem Eigentümer Vorwürfe, daß er uns die Räumlichkeiten vermietet hatte. Aber da der Eigentümer ein führender Bürger der Stadt war und da sie nicht herausfinden konnten, wie sie auf die Schule einen Bombenanschlag verüben konnten, ohne daß der Friseursalon [der sich im gleichen Gebäude befand] in Mitleidenschaft gezogen worden wäre, gaben sie ihr Vorhaben auf.“ Schließlich wurde die Zahl der Schüler immer größer, und es mußten ein Kindergarten, acht Klassen Grundschule und vier Klassen höhere Schule eingerichtet werden.
Wie erging es den Teilnehmern der Königreichsschule, was ihre Ausbildung betrifft? Lloyd Owen, der in Saugus (Massachusetts) lehrte, berichtet: „Wir führten den Leistungstest durch, um zu sehen, wie gut wir unterrichtet hatten. Meistens waren die Schüler eine halbe bis eine ganze Note besser, als sie es hätten sein müssen. ... Wir prüften die Schüler zweimal im Jahr, und sie hielten ihre guten Noten.“
Unter allen, die mit den Königreichsschulen zu tun hatten, herrschte ein guter Geist. „Die Freunde waren einfach wunderbar und boten immer Hilfe an“, erzählt Schwester Estep. „Es war eine Art Gemeinschaftssache, und zu der ,Gemeinschaft‘ gehörte jeder, der irgendwie mit den Königreichsschulen zu tun hatte. Mein Herz fließt von Liebe und Wertschätzung über, wenn ich mich an all die wunderbaren Dinge erinnere, die die lieben Freunde in jenen Tagen taten. Ihre Liebe zu Jehova kannte keine Grenzen. Und obwohl sie nur wenig Geld hatten, setzten sie ihre Zeit und Kraft ein, um uns mit dem Notwendigen zu versehen.“
OBERSTES BUNDESGERICHT STÖSST EIGENES URTEIL UM
Am 8. Juni 1942 entschied das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten im Fall Jones gegen Opelika, bei dem es um die Gewerbescheingebühr ging, mit fünf zu vier Stimmen gegen Jehovas Zeugen. Interessanterweise jedoch vertraten die Richter Black, Douglas und Murphy nicht nur eine abweichende Meinung, sondern widerriefen ihr Urteil im Fahnengruß-Fall Gobitis vom Jahre 1940. Diesen Anlaß nahm der Rechtsanwalt der Watchtower Society wahr, um bei dem Bezirksgericht für den südlichen Bezirk von West Virginia eine gerichtliche Verfügung gegen das Erziehungsministerium von West Virginia zu erwirken. Wozu? Um die Durchsetzung des Gesetzes über den obligatorischen Fahnengruß zu verhindern. Ein aus drei Richtern bestehendes Gericht entschied einstimmig zugunsten der Zeugen Jehovas, aber das Erziehungsministerium von West Virginia legte Berufung ein. Am Tag der Fahne, am 14. Juni 1943, revidierte das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten seine Haltung im Fall Gobitis, indem es (im Fall West Virginia State Board of Education gegen Barnette) entschied, daß die Schulbehörde nicht das Recht habe, Kinder von Zeugen Jehovas, die den Fahnengruß verweigerten, von der Schule zu verweisen und ihnen somit die Ausbildung zu versagen.
Durch diese Entscheidung widerrief das Oberste Bundesgericht das Urteil, das es im Fall Gobitis gefällt hatte. Damit waren zwar nicht alle Probleme beseitigt, die mit der christlichen Einstellung gegenüber dem Fahnengruß zusammenhingen, aber die Königreichsschulen waren nicht länger notwendig. Daher konnten die Kinder von Jehovas Zeugen nach acht Jahren zum erstenmal wieder öffentliche Schulen besuchen.
„VERTEIDIGUNG UND GESETZLICHE BEFESTIGUNG DER GUTEN BOTSCHAFT“
Jehovas christliche Zeugen, ob alt oder jung, sind auf Verfolgung gefaßt, denn Jesus sagte seinen Jüngern: „Ihr werdet um meines Namens willen Gegenstand des Hasses aller Leute sein“ (Matth. 10:22). „In der Tat“, so schrieb Paulus, „werden alle, die in Gemeinschaft mit Christus Jesus in Gottergebenheit leben wollen, auch verfolgt werden“ (2. Tim. 3:12). Bisweilen hat die Verfolgung dazu geführt, daß Christen aufgrund falscher Anklagen verhaftet wurden, manchmal, weil sie ohne Genehmigung Waren verkauft oder den Frieden gestört hätten. Anfangs führte man noch keine Statistiken darüber, doch im Jahre 1933 wurden in den Vereinigten Staaten 268 Verhaftungen gemeldet. 1936 waren es schon 1 149. Man stufte Jehovas Zeugen unrichtigerweise als Vertreter oder Hausierer statt als Verkündiger des Evangeliums ein.
Jehovas Zeugen ließen sich aber keineswegs widerstandslos verhaften, aburteilen und ins Gefängnis werfen. Grundsätzlich legten sie bei jeder Verurteilung vor Gericht Berufung ein. Mit Jehovas Hilfe konnten sie ‘die gute Botschaft verteidigen und gesetzlich befestigen’ (Phil. 1:7).
Es ist unmöglich, auf so wenigen Seiten den ganzen spannenden Ablauf wiederzugeben und die vielen Szenen tapferen theokratischen Kriegszuges lebendig werden zu lassen, in denen Jehovas Diener für die Freiheit zu predigen kämpften. Doch es mag gut sein, mit der bewegenden „Schlacht von New Jersey“ zu beginnen. Der „erste Schuß“ fiel 1928, als einige Diener Gottes in South Amboy (New Jersey) festgenommen wurden. Der Mittelpunkt des katholischen Schlachtfeldes gegen die Zeugen in diesem Gebiet wurde jedoch Plainfield.
ZWISCHENFALL IN PLAINFIELD
Da das Volk Jehovas in Plainfield besonders stark verfolgt wurde, beschloß J. F. Rutherford, dort einen Vortrag über das Thema „Warum gibt es in diesem Land heute religiöse Unduldsamkeit?“ zu halten. Am 30. Juli 1933 erschienen zu dieser besonderen Veranstaltung über fünfzig Polizisten, die weder eingeladen noch erwünscht oder nötig waren, angeblich, um den Theatersaal zu bewachen. Sie waren ohne Zweifel auf Veranlassung der katholischen Geistlichkeit gekommen, die sich sehr bemühte, die Zusammenkunft zu vereiteln und vielleicht auch den Redner loszuwerden.
Bei seiner Ankunft im Theater sieht Bruder Rutherford, daß hinter den Vorhängen zwei Maschinengewehre der Polizei aufgestellt sind, die auf ihn und die Zuhörerschaft gerichtet sind. Er protestiert, doch die Polizisten mit ihren Gewehren rühren sich nicht von der Stelle. Sie sagen, sie hätten einen Hinweis bekommen, daß es Zusammenstöße geben würde, und sie seien da, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. George Gangas berichtet, daß die Atmosphäre während der ganzen Ansprache gespannt war. Ihn berührten besonders die folgenden Äußerungen, die Rutherford gegen Ende seiner Ansprache machte:
„Schmach und Schande aber über die Priester und Pfarrer, die in geheimem Einverständnis mit den Verfolgern der Zeugen Jehovas stehen und die Verfolgung veranlaßt haben, um das Volk in Unwissenheit über die Wahrheit zu halten und sich so vor Bloßstellung zu schützen; Schmach und Schande über die öffentlichen Beamten, die zur Förderung ihrer selbstsüchtigen Ziele Jehovas Zeugen bereitwillig als eigennützige Hausierer und Straßenverkäufer klassifiziert haben; Schmach und Schande über die Juristen, die auf dem Richterstuhl sitzen oder als Rechtsanwälte tätig sind und die aus Furcht, sie könnten etliche persönliche Vorteile verlieren, der zur Entscheidung vorliegenden Frage aus dem Wege gegangen sind und es unterlassen und sich geweigert haben, eine unparteiische Entscheidung darüber zu fällen, ob man durch das Erlassen und Durchführen von Gemeindeverordnungen gegen Hausierer und Straßenverkäufer am Predigen des Evangeliums vom Königreiche Gottes gehindert werden darf oder nicht.“
Bruder Gangas gesteht ein: „Ich sagte mir: ,Jetzt schießen sie! Jetzt werden sie ihn festnehmen!‘ Doch es war so, wie es in der Einleitung der Broschüre Intoleranz steht: ,Der Engel des Herrn lagert sich um die her, welche ihn fürchten, und er befreit sie‘ “ (Ps. 34:7). Trotz der gespannten Lage hielt Bruder Rutherford seinen Vortrag ohne Zwischenfälle. Die Ansprache wurde begeistert aufgenommen, ebenso auch die Broschüre Intoleranz, die später veröffentlicht und weit verbreitet wurde.
EIN DIKTATOR HÖRT VON JEHOVAS ZEUGEN
Jehovas Zeugen kämpften nicht nur in den Vereinigten Staaten um Rede- und Religionsfreiheit. Im Juni 1933, im sogenannten „Heiligen Jahr“, beschlagnahmte das Hitlerregime das Eigentum der Watch Tower Society in Magdeburg. Jehovas Volk in Deutschland wurde nicht mehr gestattet, Zusammenkünfte abzuhalten und Literatur zu verbreiten, wenn auch das Eigentum im Oktober zurückgegeben wurde. Am 7. Oktober 1934 fanden sich die Zeugen in Deutschland in Gruppen zusammen und sandten nach einem ernsten Gebet ein Protesttelegramm an Mitglieder der Hitler-Regierung. Gottes Diener in anderen Ländern sahen dem indessen nicht tatenlos zu.
„Eines Abends während einer Dienstzusammenkunft im Jahr 1934 wurden wir gebeten, am Sonntagmorgen um 9 Uhr im Königreichssaal zu sein; es sei etwas Besonderes geplant“, erinnert sich Gladys Bolton. „Alle waren aufgeregt! Was konnte das sein? Am Sonntagmorgen war das Haus voll. Der Redner gab bekannt, daß sich heute Jehovas Zeugen in der ganzen Welt träfen, um zur gleichen Zeit Telegramme an Hitler zu schicken, in denen er aufgefordert werde, die Verfolgung gegen Jehovas Zeugen in Deutschland einzustellen.“ Nach einem Gebet sandte jede Gruppe folgendes Telegramm: „Hitler-Regierung, Berlin, Deutschland. Ihre schlechte Behandlung der Zeugen Jehovas empört alle guten Menschen und entehrt Gottes Namen. Hören Sie auf, Jehovas Zeugen weiterhin zu verfolgen, sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten.“ Die Botschaft war mit „JEHOVAS ZEUGEN“ unterzeichnet, gefolgt von dem Namen der Stadt, in der sie sich versammelt hatten.
Die Telegramme verursachten damals beträchtliche Aufregung, sogar in einigen Telegrammannahmestellen in den Vereinigten Staaten. „In Keysville (Virginia) und auch in anderen Städten“, sagt Melvin Winchester, „fiel der Telegrafist beinahe in Ohnmacht, als die Freunde ihr Telegramm aufgaben.“
Wie reagierte das Naziregime darauf? Die Verfolgung gegen Jehovas Zeugen wurde schlimmer. Doch Gottes Volk in Deutschland und in der übrigen Welt war auf den Widerstand und die Schwierigkeiten, die ihm bevorstanden, vorbereitet worden. Jehova sorgte zur rechten Zeit dafür, daß es die notwendige Belehrung und Ermunterung aus der Schrift erhielt. Dies war gegen Ende 1933 durch den Wachtturm-Artikel „Fürchtet euch nicht“ geschehen. Darin wurde die Feindseligkeit der römisch-katholischen Kirche bloßgestellt, und der Artikel wies darauf hin, daß die Verfolgung den Tod einiger treuer Diener Gottes bedeuten könnte. Doch Gottes Volk wurde angespornt, mutig und freudig für seinen Namen Zeugnis abzulegen, so daß es an der Rechtfertigung dieses heiligen Namens einen Anteil hätte.
HILFE BEI DER VERTEIDIGUNG
Dies waren Zeiten der Glaubensprüfung für Christen. Sie kamen zwar nicht bei jedem offenen Widerstand, auch nicht bei jeder Festnahme, gleich vor Gericht. Doch es kam oft vor, daß Jehovas Diener Rechtsbeistand benötigten, um sich vor den Gerichten der Vereinigten Staaten erfolgreich zu verteidigen. Um den Königreichsverkündigern zu helfen, richtete die Watchtower Society im Hauptbüro in Brooklyn (New York) eine Rechtsabteilung ein.
Zurückblickend, erinnert sich Robert E. Morgan: „In unseren wöchentlichen Dienstzusammenkünften studierten wir eine Broschüre, die die Gesellschaft über das Vorgehen vor Gericht herausgegeben hatte [Order of Trial], und waren bemüht, für den Umgang mit Polizisten und Richtern gewappnet zu sein, die uns ständig im Predigtdienst belästigten. Wir lernten in den Dienstzusammenkünften, wie man sich verhält, wenn man von der Polizei angehalten wird, welche Rechte wir als Staatsbürger haben und wie man verfahren muß, um eine solide rechtliche Handhabe zur Verteidigung der guten Botschaft zu haben, falls wir wegen einer Verurteilung gezwungen wären, vor höhere Instanzen zu gehen.“
„In Demonstrationen während der Dienstzusammenkünfte wurde das Verfahren von der Verhaftung bis zum Ende der Verhandlung und der Erledigung des Falles vorgeführt“, entsinnt sich Ray C. Bopp und fügt hinzu: „Diener in der Versammlung übernahmen die Rollen des Staatsanwaltes und des Verteidigers; manche ,Verhandlungen‘ dauerten einige Wochen lang.“
VON DER VERHAFTUNG GLEICH INS GEFÄNGNIS
Die Rechtsbroschüren der Gesellschaft und die gute Schulung in den Dienstzusammenkünften waren Gottes Dienern eine große Hilfe. Doch für das harte Leben hinter Gittern konnte nur Jehova selbst sein Volk stärken. Paulus sagte: „Für alles bin ich stark durch den, der mir Kraft verleiht“ (Phil. 4:13).
Hunderte von christlichen Zeugen Jehovas wurden während der aufregenden 1930er und 1940er Jahre verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Homer L. Rogers sagt über die rechtlichen Probleme, denen sich Gottes Volk in einer Gegend gegenübersah, folgendes: „In der Stadt La Grange [Georgia] hatte man sich eine Verordnung ausgedacht, nach der niemand an irgendeiner Tür in La Grange vorsprechen konnte, um dem Wohnungsinhaber irgend etwas Gedrucktes anzubieten. Dies war gegen Jehovas Zeugen gerichtet und wurde auch nur gegen Jehovas Zeugen angewendet.“ Woher konnte er das so genau wissen? Einwohner der Stadt bestätigten, daß alle möglichen anderen Druckschriften in La Grange verbreitet wurden, ohne daß die Behörden irgend etwas unternommen hätten.
Am 17. Mai 1936 wurden 176 Zeugen in La Grange festgenommen, weil sie gepredigt hatten; alle kamen ins Gefängnis. Am Tag darauf ließ man die Frauen frei, doch die 76 Männer wurden 14 Tage lang im Kreisgefängnis, 6 Kilometer vor der Stadt, festgehalten. Die Insassen dieses Gefängnisses mußten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Straßenbauarbeiten verrichten, wobei sie in Trupps aneinandergekettet waren. Das Gericht sprach die Zeugen schuldig und verurteilte jeden zu einer Geldstrafe von einem Dollar oder 30 Tagen Gefängnis, wie C. E. Sillaway erzählt. Da die Strafverfolgungsbehörde angeordnet hatte, daß von den Brüdern keine Sicherheitsleistung angenommen werden sollte, wurde ihnen nach amerikanischem Recht praktisch die Möglichkeit genommen, in die Berufung zu gehen. Am 28. Mai 1937 kehrten daher 57 von ihnen ins Gefängnis zurück, um ihre 30 Tage Haft zu beenden. Obwohl unschuldig, trugen diese Zeugen Gefangenenkleidung, mußten sich in den kalten Nächten zu zweit eine Decke teilen und verrichteten schwere Arbeit im Straßenbau und anderswo.
Die Gefangenen mußten viel ertragen. Doch sie hatten auch Gelegenheit, andere geistig zu stärken. Bruder C. E. Sillaway schreibt: „Gegen Ende unserer 30 Tage teilte man meine Gruppe und eine weitere, zusammen 12 Gefangene, zur Arbeit auf einem abseits gelegenen Farbigenfriedhof zu. Während des Vormittags kam ein Leichenzug zum Haupteingang herein und wartete dort, während der Leichenbestatter auf uns zukam. Es schien, daß die Familie nicht genügend Geld gehabt hatte, um sich einen Prediger für das Begräbnis zu leisten; daher hatte niemand eine Predigt gehalten oder ein Gebet gesprochen. Man fragte, ob wohl jemand von uns Predigern bereit wäre, ein paar Worte zu sprechen. Wir hatten das Vorrecht, zu der kleinen Gruppe von Leuten über den wahren Zustand der Toten und die Hoffnung der Auferstehung zu sprechen. Ihnen machte es nichts aus, daß wir Gefangenenkleidung trugen.“
Theresa Drake erzählt, daß sie die Unduldsamkeit gegen Gottes Volk zum ersten Mal zu Beginn der 1930er Jahre zu spüren bekam, als man sie in Bergenfield (New Jersey) das erste Mal verhaftete. Sie fährt fort: „In Plainfield (New Jersey) nahm man mir zum ersten Mal die Fingerabdrücke ab. Dort mußte ich zusammen mit 28 anderen Schwestern die Nacht verbringen. Man hatte uns in eine kleine Zelle gesteckt, und da wir 29 Personen waren, hatten wir keinen Platz, uns zum Schlafen hinzulegen. Schließlich brachte man uns in den Gymnastikraum desselben Gebäudes, und dort gab es Matten, auf denen wir liegen konnten. Ich kann mich erinnern, wie ein Polizist die Tür öffnete, zu uns hereinschaute und sagte: ,Wie Schafe, die zur Schlachtung geführt werden.‘ “
Über einen anderen Fall schreibt Schwester Drake: „In Perth Amboy nahm man uns fest und hielt uns von 10 Uhr morgens bis 8 Uhr abends gefangen. Damals lernte ich Bruder Rutherford kennen. Er kam, um für uns 150, die verhaftet worden waren, Kaution zu hinterlegen. Man hatte uns in einen großen Saal des Gerichtsgebäudes gesperrt. Draußen holten die Leute Bücher und Literatur aus unseren Autos und verstreuten sie vor dem Gerichtsgebäude über den gesamten Rasen. Im Gerichtssaal wartete hinten ein halbes Dutzend Männer, die Bruder Rutherford fassen wollten. Sie stießen zwar Drohungen aus, bekamen ihn jedoch nicht in ihre Gewalt, da wir alle um ihn herum waren, als er das Gerichtsgebäude verließ und dann schnell mit einem fremden Wagen wegfuhr.“
Edna Bauer berichtet über einige Städte in Ohio und West Virginia: „Viele der Freunde wurden festgenommen und mit Feuerwehrautos ins Gefängnis gebracht, deren Sirenen heulten und somit lautstark die Aufmerksamkeit auf die Festnahme lenkten.“ Oft wurden viele auf einmal ins Gefängnis geworfen, wobei man keinerlei Rücksicht auf das Alter nahm. Schwester J. W. Bennecoff erinnert sich zum Beispiel an einen Vorfall in Columbia (Südkarolina), „bei dem 200 Personen auf einmal ins Gefängnis geworfen wurden, von denen der Jüngste 6 Wochen alt war“.
Der Gefängnisaufenthalt konnte sehr beschwerlich sein. Earl R. Dale erinnert sich, wie er in Somersworth (New Hampshire) als Christ zu Unrecht gefangengehalten wurde, und schreibt: „Ich versuchte zu schlafen, doch das Gefängnis war nicht allzu sauber. Nachts krabbelten kleine Lebewesen über uns hinweg, für die ich nicht viel übrig hatte, die aber viel für mich übrig hatten.“ Bruder und Schwester R. J. Adair waren 1941 78 Tage im Gefängnis, weil sie die gute Botschaft in Caruthersville (Missouri) gepredigt hatten. Schwester Adair beschreibt ihren Aufenthaltsort als ein „Verlies“. Während ihrer Einkerkerung nahm ihre Gesundheit Schaden. „Es war nicht gerade angenehm, 78 Tage lang mit einer Decke und einem Kissen auf dem Betonfußboden zu schlafen“, gibt sie zu. „Doch das wichtigste war, daß wir Jehova treu blieben.“
Wenn Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten auch oft ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie die Königreichsbotschaft predigten, wurden sie dadurch doch nicht zum Schweigen gebracht. Sie predigten die gute Botschaft einfach als Gefangene weiter. Dora Wadams hatte zum Beispiel mehrmals Gelegenheit, im Gefängnis zu predigen. Als in einem Gefängnis von Newark (New Jersey) bekannt wurde, daß die Zeugen freigelassen werden würden, erinnert sie sich, daß folgendes geschah: „Eines Abends, als wir in unseren Zellen eingesperrt waren, hörten wir die Gefangenen um uns herum sagen: ,Morgen kommen die Bibelforscher hier heraus. So wie jetzt wird es im Gefängnis nie wieder sein. Es ist, als ob sie Engel wären, die zu uns geschickt wurden.‘ “
IHR AUFTRETEN VOR GERICHT
Jehovas Diener waren bereit, sich und ihr von Gott aufgetragenes Werk zu verteidigen, falls ihre Verhaftung zu einer Verhandlung führte. Manches Mal stand ihnen nicht einmal ein Anwalt zur Seite. Im Jahre 1938 beispielsweise erhielt Roland E. Collier aus der Versammlung Orange (Massachusetts) die Genehmigung, im nahe gelegenen Ort Athol einen Lautsprecherwagen einzusetzen. Er war zusammen mit einem anderen Bruder in dem Lautsprecherwagen und spielte die Schallplattenaufnahme „Feinde“ ab, während andere Königreichsverkündiger von Tür zu Tür predigten. Man nahm Bruder Collier fest und klagte ihn an, er sei von Haus zu Haus gegangen, obwohl er das bei dieser Gelegenheit nicht getan hatte. Er berichtet: „Wir blickten der Verhandlung mit Interesse entgegen und bereiteten uns vor. Ich studierte die Broschüre Order of Trial sorgfältig, die die Gesellschaft herausgegeben hatte, damit man sich auf Gerichtsverhandlungen vorbereiten könnte. Am Tag der Verhandlung waren einige Brüder im Saal anwesend, um mir Mut zu machen. Ich folgte genau der Verfahrensweise, die die Gesellschaft beschrieben hatte, wobei ich sogar mit dem Polizeichef ein Kreuzverhör anstellte. Nachdem die Beweisaufnahme im Verlauf eines vollständigen Gerichtsverfahrens abgeschlossen war, wurde ich freigesprochen, und in der Zeitung stand die Schlagzeile ,BÜRGER VON ORANGE PREDIGT SICH AUS DEM GEFÄNGNIS HERAUS‘.“
Einige Rechtsanwälte, die keine Zeugen Jehovas waren, gaben sich bei der Verteidigung des Volkes Gottes große Mühe. Doch oft vertraten Anwälte, die selbst Zeugen waren, ihre Mitgläubigen vor Gericht. Unter ihnen war Victor Schmidt. Seine Frau Mildred sagt unter anderem: „Nachdem das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten in der Frage des Flaggengrußes gegen uns entschieden hatte, ging eine Lawine von Pöbelaktionen und Verhaftungen auf unsere Brüder an vielen Orten in der Nähe von Cincinnati [Ohio] nieder. Da mein Mann nicht Auto fahren konnte, mußte ich ihn zu all diesen Orten hinfahren. Eine Zeitlang mußten wir fast jeden Tag woandershin. Ich konnte deshalb nicht mehr Pionier sein. ... Victors Glaube an Jehova war sehr stark, und dies gab mir die Kraft, genauso fest im Glauben zu sein. Wenn wir uns einer Stadt näherten, in der er unsere Brüder vor Gericht vertreten sollte, ließ er mich von der Straße abbiegen und betete zu Jehova, daß er ihm einen Weg zeigen möge, wie unseren Brüdern geholfen werden könnte, und er bat auch darum, wenn dies der Wille Jehovas sei, daß er uns doch beschützen und uns beistehen möge, niemals der Menschenfurcht nachzugeben. Oft konnten wir sehen, wie stark die Engel Jehovas waren, die für uns kämpften.“
BIS VOR DAS OBERSTE BUNDESGERICHT DER USA
Verschiedene Rechtsfälle, die mit Jehovas Zeugen zu tun hatten, kamen schließlich vor das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten. Einer davon war der Fall Lovell gegen Stadt Griffin. Obwohl Gottes Diener in Griffin (Georgia) schon oft verhaftet worden waren, weil sie die gute Botschaft gepredigt hatten, wurden in einem Fall mehrere von ihnen wegen angeblicher Verletzung einer Verordnung der Stadt verhaftet, durch die „die Verbreitung ... von Literatur irgendwelcher Art ... ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Stadtdirektors von Griffin“ verboten worden war. Bruder G. E. Fiske sagt dazu: „In der Gruppe gab es mehrere Brüder, die über 1,80 Meter groß waren, und die Beamten fragten, ob die Brüder damit einverstanden wären, wenn sie einen aus der Gruppe auswählen würden, der für die anderen sprechen würde. Unsere Aufseher waren damit einverstanden. Darauf wählten sie eine kleine, schmächtige Schwester aus, weil sie dachten, mit ihr würden sie schnell fertig werden. Doch sie [Alma Lovell] hatte die Broschüre Order of Trial studiert. ... Nicht einer von den Männern hatte sich so gut vorbereitet wie diese kleine Schwester, und als der Fall verhandelt wurde, sprach sie über eine Stunde lang vor dem Gericht, wobei sie ein großartiges Zeugnis gab. Doch der Richter war nicht einmal daran interessiert und legte seine Beine auf den Tisch. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er die Beine vom Tisch und fragte: ,Sind Sie fertig?‘ Sie antwortete: ,Jawohl, Euer Ehren.‘ Darauf sprach er sie alle schuldig. Der Anwalt der Gesellschaft legte sofort Berufung ein.“ Am 28. März 1938 entschied das Oberste Bundesgericht einstimmig, daß die fragliche Verordnung schon ihrem Wortlaut nach rechtsunwirksam sei.
Newton Cantwell, ein Zeuge Jehovas, wurde am 26. April 1938 zusammen mit seinen beiden minderjährigen Söhnen verhaftet, während er in seiner Predigttätigkeit die Schallplatte „Feinde“ abspielte und das gleichnamige Buch verbreitete. Zwei Katholiken beschwerten sich, und so kam der Fall vor die Gerichte Connecticuts. Man warf ihm Friedensbruch und die Verletzung eines Gesetzes von Connecticut vor, das das Sammeln von Spenden für wohltätige oder religiöse Zwecke ohne Genehmigung des Ministers für öffentliche Wohlfahrt verbot. Die Gerichte Connecticuts sprachen den Angeklagten schuldig. R. D. Cantwell schreibt: „Die Gesellschaft legte Berufung ein und ging vor das Oberste Bundesgericht der USA ..., das Urteil wurde aufgehoben und das Gesetz von Connecticut, in dem eine Genehmigung für das Anbieten religiöser Literatur zum Verkauf oder das Annehmen von Spenden für religiöse Zwecke gefordert wurde, in seiner Anwendung auf Jehovas Zeugen für verfassungswidrig erklärt. Dies war ein weiterer Sieg des Volkes Jehovas!“
Jehovas Zeugen verloren aber einen wichtigen Fall, als das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten am 8. Juni 1942 im Fall Jones gegen Stadt Opelika mit fünf zu vier Stimmen gegen sie entschied. Bei diesem Fall ging es um den Straßendienst mit Zeitschriften und die Frage, ob Rosco Jones zu Recht für schuldig befunden worden war, eine Verordnung der Stadt Opelika (Alabama) verletzt zu haben, weil er „Bücher verkauft“ hatte, ohne im Besitz eines Gewerbescheins zu sein und ohne die gesetzlichen Abgaben zu entrichten.
EIN GROSSER TAG FÜR GOTTES VOLK
Doch dann kam der 3. Mai 1943, den man gut als „großen Tag“ für die Zeugen Jehovas bezeichnen kann. Weshalb? An diesem Tag wurden 12 von 13 Fällen zu ihren Gunsten entschieden. Eine wichtige Rolle nahm besonders der Fall Murdock gegen Pennsylvanien ein, in dem es um die Frage des Gewerbescheins und der damit verbundenen Abgaben ging. Mit dieser Entscheidung wich das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten von seiner eigenen Rechtsprechung im Fall Jones gegen Stadt Opelika ab. In der Urteilsbegründung zum Fall Murdock hieß es: „Man behauptet, die Tatsache, daß die Gewerbescheinabgabe diese Tätigkeit unterdrücken oder kontrollieren könne, sei, wenn sie sich nicht so auswirke, unwichtig. Doch das hieße den Charakter dieser Abgabe verkennen. Es handelt sich um eine Gewerbescheinabgabe — eine allgemeine Abgabe, die für die Beanspruchung eines Rechts erhoben wird, das die Bill of Rights gewährt. Ein Staat darf keine Abgabe für den Genuß eines von der Bundesverfassung gewährleisteten Rechts erheben.“ Über den Fall Jones hieß es. „Der Entscheid, der im Fall Jones gegen Opelika gefällt wurde, ist heute aufgehoben worden. Befreit von diesem dominierenden Präzedenzfall, können wir die Freiheitsrechte der reisenden Evangelisten, die ihre religiösen Ansichten und Glaubenssätze durch Verteilung von Druckschriften verbreiten, wieder an ihren hohen, ihnen von der Verfassung gegebenen Platz setzen.“ Der günstige Entscheid im Fall Murdock gebot den Anklagen gegen Jehovas Volk Einhalt, die wegen der Gewerbescheinabgabe erhoben wurden.
Diese Bemühungen beeinflußten die ganze Rechtsprechung. Es war daher passend, als man schrieb: „Es ist klar, daß die von der Verfassung geschützten Freiheitsrechte, so, wie das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten sie maßgeblich auslegt, heute viel umfassender sind, als sie es vor dem Frühjahr 1938 waren, und daß diese Erweiterung zum größten Teil durch die 31 Rechtsfälle der Zeugen Jehovas (16 entscheidende Urteile), von denen der Fall Lovell gegen Stadt Griffin der erste war, erreicht worden ist. Wenn ,das Blut der Märtyrer das Wachstum der Kirche förderte‘, was schuldet dann das Verfassungsrecht dem Kampfgeist und der Beharrlichkeit — oder vielleicht sollte ich sagen: dem Eifer und der Hingabe dieser seltsamen Gruppe?“ (Minnesota Law Review, Jahrg. 28, Nr. 4, März 1944, S. 246).
PÖBELGEWALT BRINGT LOBPREISER JEHOVAS NICHT ZUM SCHWEIGEN
Während Jehovas Zeugen vor Gericht für Religionsfreiheit und ihr Recht, die gute Botschaft zu predigen, kämpften, sahen sie sich in ihrer Tätigkeit manches Mal gewalttätigen Pöbelrotten gegenüber. Doch das war nichts Neues, denn selbst Jesus Christus hat Erfahrungen dieser Art gemacht (Luk. 4:28-30; Joh. 8:59; 10:31-39). Der treue Stephanus erlitt den Märtyrertod unter den Angriffen einer erregten Menschenmenge (Apg. 6:8-12; 7:54 bis 8:1).
Der weltweite christliche Kongreß, der vom 23. bis 25. Juni 1939 stattfand, wurde von Schlägern als eine Gelegenheit angesehen, Gottes Volk zu belästigen. Der Kongreß in New York diente als Ausgangspunkt und war direkt mit anderen Kongreßorten in den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Australien und Hawaii verbunden. Bei der Ankündigung des Vortrages „Herrschaft und Friede“ von J. F. Rutherford fanden Jehovas Diener heraus, daß Anhänger der Katholischen Aktion planten, am 25. Juni die Zusammenkunft für die Öffentlichkeit zu verhindern. Gottes Volk bereitete sich also auf Schwierigkeiten vor. Blosco Muscariello erzählt uns: „Wir waren bewaffnet wie zu Nehemias Zeiten, der die Mauern Jerusalems baute und seine Leute sowohl mit Werkzeugen als auch mit Waffen ausrüstete (Neh. 4:15-22). ... Einige von uns jüngeren Männern erhielten besondere Anweisungen als Ordner. Wir bekamen alle einen dicken Knüppel, den wir einsetzen sollten, falls jemand den Hauptvortrag stören würde.“ Doch R. D. Cantwell fügt hinzu: „Wir wurden angewiesen, ihn nur im äußersten Notfall zu gebrauchen.“
Obwohl es allgemein nicht bekannt war, stand es um Bruder Rutherfords Gesundheit nicht gut, als er an jenem Sonntagnachmittag, am 25. Juni 1939, im Madison Square Garden in New York zum Podium schritt. Der Vortrag begann. Unter den Zuspätkommenden befanden sich etwa 500 Anhänger des römisch-katholischen Geistlichen Charles E. Coughlin, eines bekannten „Radiopriesters“ der 1930er Jahre, der in seinen regelmäßigen Sendungen Millionen von Zuhörern hatte. Da die unteren Ränge des Saales für die Zeugen reserviert und von ihnen besetzt waren, mußten sich Coughlins Anhänger, darunter auch Priester, in die obersten Ränge hinter den Redner setzen.
„Sonst rauchte niemand im Zuhörerraum“, schrieb ein Trost-Korrespondent, „doch achtzehn Minuten nach Beginn des Vortrages zündete sich vorn links in dieser Gruppe ein Mann eine Zigarette an, worauf sich noch vorn rechts ein anderer eine anzündete; darauf ging das Licht in diesem Bereich an und aus, und nur von dort kamen Buhrufe, Schreie und Pfiffe.“ „Ich saß gespannt da“, sagt Schwester E. Broad, „und wartete darauf, daß sich die Unruhe über den ganzen Saal ausbreitete. Doch kurz darauf merkte ich, daß sich die ganze Aufregung lediglich auf eine Gruppe direkt hinter dem Redner beschränkte. Ich fragte mich: ,Was wird er jetzt wohl tun?‘ Es sah so aus, als ob es unmöglich wäre weiterzusprechen, da Dinge auf die Bühne geworfen wurden und man nicht wußte, ob nicht jeden Moment das Mikrofon weggenommen werden würde.“ Esther Allen erinnert sich, daß „wüstes Geheul und Rufe wie ,Heil Hitler!‘, ,Vivat Franco!‘ und ,Bringt den verdammten Rutherford um!‘ den Saal erfüllten“.
Würde Bruder Rutherford als kränklicher Mann solchen gewalttätigen Gegnern nachgeben? „Je lauter sie brüllten, um die Stimme des Redners zu übertönen, desto lauter wurde die Stimme Richter Rutherfords“, sagt Schwester A. F. Laupert. Aleck Bangle bemerkt dazu: „Der Präsident der Gesellschaft wurde nicht furchtsam, sondern sagte mutig: ,Die Nazis und die Katholiken möchten diese Versammlung sprengen, doch Gottes Gnade läßt dies nicht zu.‘ “ „Das war der Anlaß, den wir brauchten, um aufrichtig Beifall zu klatschen und dem Redner begeistert unsere Zustimmung zu versichern“, schreibt Roger Morgan. Er fährt fort: „Bruder Rutherford behielt die Oberhand bis zum Schluß. Wir waren später jedesmal begeistert, wenn wir Aufnahmen von diesem Vortrag in den Wohnungen der Menschen abspielten.“
C. H. Lyon erzählt uns: „Die Ordner leisteten gute Arbeit. Ein paar der widerspenstigeren Anhänger Coughlins bekamen eins mit dem Knüppel über den Kopf, und dann wurden sie alle ohne viel Federlesen die Aufgänge hinunter- und aus dem Saal hinausgeworfen. Einer erregte einiges Aufsehen in der Öffentlichkeit, als am nächsten Tag ein Bild von ihm in einer Boulevardzeitung erschien, das ihn mit einem Verband um den Kopf zeigte, so, als ob er einen Turban aufhätte.“
Drei Ordner wurden festgenommen und des „tätlichen Angriffs“ angeklagt. Ihr Fall wurde am 23. und 24. Oktober 1939 vor dem aus drei Richtern (zwei Katholiken und einem Juden) bestehenden Sondergericht der Stadt New York verhandelt. Man wies vor Gericht darauf hin, daß die Ordner sich in den Teil des Madison Square Garden begeben hätten, wo die Unruhe ausgebrochen sei, um gegen die Unruhestifter vorzugehen. Als diese die Ordner angriffen, hätten sie Widerstand geleistet und seien gegen einige der Aufrührer energisch vorgegangen. Die Zeugen der Staatsanwaltschaft widersprachen sich in vielen Punkten. Das Gericht sprach die drei Ordner nicht nur frei, sondern entschied auch, daß ihr Vorgehen rechtmäßig war.
DER WELTKRIEG SCHÜRT DAS FEUER DER GEWALTTAT
Gewaltanwendung durch Pöbelrotten hatte auf dem Kongreß 1939 begonnen. Das Feuer der Gewalttat würde jedoch mit Ausbruch des Weltkrieges noch weit stärker angefacht werden. Es sollte zwar bis Ende 1941 dauern, bis die Vereinigten Staaten Deutschland, Italien und Japan den Krieg erklären würden, doch schon lange vorher herrschte im ganzen Land ein starker Nationalismus.
Während der ersten Monate des Zweiten Weltkrieges traf Jehova Gott ganz besondere Vorkehrungen für sein Volk. Im englischen Wachtturm vom 1. November 1939 (deutsch: 1. Dezember 1939) erschien ein Artikel mit dem Thema „Neutralität“. Folgende Worte Jesu Christi über seine Jünger bildeten den Leittext: „Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin“ (Joh. 17:16, Elberfelder Bibel). Das Studium der christlichen Neutralität zu diesem Zeitpunkt bereitete Jehovas Zeugen im voraus auf die schweren Zeiten vor, die noch kommen würden.
BRANDSTIFTUNG AUF DER KÖNIGREICHSFARM ANGEDROHT
Die Königreichsfarm in der Nähe von South Lansing (New York) versorgte die Glieder des Hauptbüros der Gesellschaft ausreichend mit Obst, Gemüse, Fleisch, Milch und Käse. David Abbuhl arbeitete auf der Königreichsfarm, als der Friede und die Stille dort 1940 ein Ende nahmen. „Einen Tag vor dem Flaggentag, am Abend des 13. Juni 1940“, berichtet Bruder Abbuhl, „sagte uns ein alter Mann, der hier jeden Tag auf dem Weg zur Wirtschaft in South Lansing vorbeikam, wo er sich Whisky kaufte, daß die Bewohner des Ortes zusammen mit Anhängern der American Legion vorhatten, alle unsere Gebäude niederzubrennen und unseren Maschinenpark zu zerstören.“ Man benachrichtigte den Sheriff.
Schließlich trafen die Feinde ein. John Bogard, damals Farmdiener, gab einmal folgenden anschaulichen Bericht der Ereignisse: „Ungefähr um 6 Uhr abends begannen sich die Unruhestifter zusammenzurotten; ein Wagen nach dem anderen kam angefahren, insgesamt waren es schließlich 30 oder 40 vollbesetzte Wagen. Der Sheriff und seine Leute waren jedoch zur Stelle. Sie hielten jeden Wagen an, prüften die Papiere der Fahrer und warnten sie davor, irgend etwas gegen die Königreichsfarm zu unternehmen. Bis spät in die Nacht hinein fuhren die Unruhestifter die Straße, die an unserem Grundstück vorbeiführte auf und ab. Aber die Polizei sorgte dafür, daß sie auf der Straße bleiben mußten, und vereitelte so ihren Plan, Schaden zu stiften. Es war für uns alle dort auf der Farm eine sehr aufregende Nacht, aber wir dachten an die Zusicherung, die Jesus seinen Nachfolgern durch die Worte gegeben hatte: ,Ihr werdet um meines Namens willen Gegenstand des Hasses aller Menschen sein. Und doch wird bestimmt kein Haar von eurem Haupt verlorengehen‘ (Luk. 21:17, 18).“
So wurden der Angriff und die Brandstiftung abgewendet. Schätzungsweise 1 000 Autos mit möglicherweise 4 000 Mann waren aus dem ganzen Westen des Staates New York herbeigekommen, um das Eigentum der Gesellschaft auf der Königreichsfarm zu zerstören, doch umsonst. Kathryn Bogard schreibt: „Ihr Vorhaben mißlang jedoch, und einige von denen, die zu der Rotte gehörten, sind heute selbst Zeugen Jehovas, ja sie stehen sogar im Vollzeitpredigtdienst.“