Kapitel neunzehn
Jehova entweiht den Stolz von Tyrus
1, 2. (a) Was für eine Stadt war das alte Tyrus? (b) Was sagte Jesaja über Tyrus voraus?
SIE war „vollkommen an Schönheit“ und verfügte über eine „Fülle an allerlei Gütern“ (Hesekiel 27:4, 12, Menge). Ihre große Flotte segelte in ferne Länder. Sie wurde „sehr herrlich ... im Herzen des offenen Meeres“ und ‘mit ihren wertvollen Dingen machte sie die Könige der Erde reich’ (Hesekiel 27:25, 33). Eine Stadt dieses Ranges war im 7. Jahrhundert v. u. Z. das phönizische Tyrus an der Ostküste des Mittelmeeres.
2 Doch Tyrus sollte zerstört werden. Etwa 100 Jahre bevor Hesekiel die Stadt beschrieb, sagte der Prophet Jesaja den Fall dieser phönizischen Festung voraus sowie die Trauer der von Tyrus Abhängigen. Jesaja prophezeite aber auch, Gott werde der Stadt nach einiger Zeit seine Aufmerksamkeit zuwenden und sie wieder zu Wohlstand kommen lassen. Wie erfüllten sich die Worte des Propheten? Und was können wir aus all dem, was Tyrus widerfuhr, lernen? Ein klares Verständnis dessen, was mit dieser Stadt geschah und warum, wird unseren Glauben an Jehova und an seine Verheißungen stärken.
„Heult, ihr Schiffe von Tarschisch!“
3, 4. (a) Wo lag Tarschisch, und welches Verhältnis bestand zwischen Tyrus und Tarschisch? (b) Wieso werden die Seeleute, die mit Tarschisch Handel treiben, Grund haben zu „heulen“?
3 Unter dem Titel „Der prophetische Spruch über Tyrus“ erklärt Jesaja: „Heult, ihr Schiffe von Tarschisch! Denn es ist verheert worden, damit es kein Hafen sei, damit es kein Ort zum Eingang sei“ (Jesaja 23:1a). Tarschisch hält man für einen Teil Spaniens — weit entfernt von Tyrus im östlichen Mittelmeer.a Die Phönizier waren jedoch erfahrene Seeleute und verfügten über große und seetüchtige Schiffe. Nach Ansicht einiger Historiker waren sie die Ersten, die eine Verbindung zwischen dem Mond und den Gezeiten erkannten und die Gesetze der Astronomie als Navigationshilfe nutzten. Daher war für sie die große Entfernung zwischen Tyrus und Tarschisch kein Hindernis.
4 Für Tyrus ist das entlegene Tarschisch in den Tagen Jesajas ein Markt. Ihm hat es möglicherweise während eines bestimmten Abschnitts seiner Geschichte einen Großteil seines Reichtums zu verdanken. In Spanien gibt es Bergwerke zum Abbau reicher Silber-, Eisen-, Zinn- und anderer Metallvorkommen. (Vergleiche Jeremia 10:9; Hesekiel 27:12.) „Schiffe von Tarschisch“ — wahrscheinlich Schiffe aus Tyrus, die man für den Handel mit Tarschisch einsetzt — werden guten Grund haben zu „heulen“ und die Zerstörung ihres Heimathafens zu beklagen.
5. Wo werden Seeleute, die von Tarschisch kommen, erfahren, dass Tyrus gefallen ist?
5 Wie werden Seeleute auf hoher See davon erfahren, dass Tyrus gefallen ist? Jesaja antwortet: „Aus dem Land Kittim ist es ihnen geoffenbart worden“ (Jesaja 23:1b). Als „Land Kittim“ wird wahrscheinlich die Insel Zypern bezeichnet, die etwa 100 Kilometer vor der phönizischen Küste liegt. Dort legen die ostwärts fahrenden Schiffe aus Tarschisch zum letzten Mal an, bevor sie Tyrus erreichen. Die Seeleute werden also bei einem Zwischenaufenthalt auf Zypern von der Zerstörung ihres geliebten Heimathafens erfahren. Welch ein Schock für sie! Sie werden vor Bestürzung untröstlich sein und „heulen“.
6. Beschreibe, welche Verbindung zwischen Tyrus und Sidon bestand.
6 Bestürzt sein wird auch die Bevölkerung an der Küste Phöniziens. Der Prophet sagt: „Seid still, ihr Bewohner des Küstenlandes. Die Kaufleute aus Sidon, die über das Meer Ziehenden — sie haben dich gefüllt. Und auf vielen Wassern ist die Saat des Schihor, die Ernte des Nil, ihr Ertrag gewesen; und sie wurde der Gewinn der Nationen“ (Jesaja 23:2, 3). Die „Bewohner des Küstenlandes“, die Nachbarn von Tyrus, werden sprachlos sein, völlig verblüfft über den verhängnisvollen Sturz der Stadt. Wer sind die „Kaufleute aus Sidon“, die das Küstenland „gefüllt“ oder reich gemacht haben? Ursprünglich war Tyrus eine Kolonie der Hafenstadt Sidon, nur 35 Kilometer nördlich von Tyrus. Auf ihren Münzen bezeichnete sich die Stadt Sidon als Mutter von Tyrus. Tyrus hat Sidon zwar an Wohlstand übertroffen, doch ist es immer noch eine Tochter, die Tochter Sidons, und seine Einwohner bezeichnen sich immer noch als Sidonier (Jesaja 23:12). Der Ausdruck „Kaufleute aus Sidon“ bezieht sich somit wahrscheinlich auf die Handel treibenden Einwohner von Tyrus.
7. Wie haben sidonische Kaufleute Wohlstand verbreitet?
7 Die wohlhabenden sidonischen Kaufleute befahren das Mittelmeer, um ihre Geschäfte zu tätigen. An viele Orte bringen sie die Saat oder das Getreide des Schihor, Getreide aus dem Gebiet des östlichsten Nilarms im ägyptischen Deltagebiet. (Vergleiche Jeremia 2:18.) Die „Ernte des Nil“ schließt auch noch andere Erzeugnisse Ägyptens ein. Der Handel beziehungsweise Tauschhandel mit diesen Waren ist sowohl für diese seefahrenden Händler als auch für die Nationen, mit denen sie Geschäfte machen, äußerst einträglich. Die sidonischen Kaufleute ‘füllen’ Tyrus mit Einkünften. Sie werden tatsächlich über die Verwüstung der Stadt trauern.
8. Wie wird sich die Zerstörung von Tyrus auf Sidon auswirken?
8 Jesaja richtet daraufhin folgende Worte an Sidon: „Sei beschämt, o Sidon; denn das Meer, o du Feste des Meeres, hat gesprochen: ‚Ich habe nicht Geburtsschmerzen gehabt, und ich habe nicht geboren, noch habe ich junge Männer großgezogen noch Jungfrauen emporgebracht‘ “ (Jesaja 23:4). Nach der Zerstörung von Tyrus wird die Küste, an der die Stadt lag, öde und verlassen aussehen. Das Meer wird den Eindruck erwecken, als stoße es Schmerzensschreie aus wie eine Mutter, die ihre Kinder verloren hat und so verstört ist, dass sie jetzt abstreitet, jemals Kinder gehabt zu haben. Die Stadt Sidon wird sich dafür schämen, was mit ihrer Tochter geschieht.
9. Welche anderen Ereignisse rufen eine Bestürzung hervor, die mit der Trauer der Menschen nach dem Sturz von Tyrus zu vergleichen ist?
9 Die Nachricht von der Zerstörung der Stadt Tyrus wird allgemein Trauer auslösen. Jesaja sagt: „So wie bei dem Bericht Ägypten betreffend werden sich die Menschen gleicherweise beim Bericht über Tyrus winden vor Schmerzen“ (Jesaja 23:5). Der Schmerz der Trauernden wird mit dem Schmerz zu vergleichen sein, den der Bericht über Ägypten hervorrief. Welchen Bericht meint der Prophet? Möglicherweise die Erfüllung seines früheren „prophetischen Spruchs gegen Ägypten“b (Jesaja 19:1-25). Vielleicht meint er aber auch den Bericht über die Vernichtung des Heeres Pharaos in Moses’ Tagen, eine Vernichtung, die allgemeine Bestürzung hervorrief (2. Mose 15:4, 5, 14-16; Josua 2:9-11). Jedenfalls werden alle, die von der Zerstörung der Stadt Tyrus hören, heftige Schmerzen verspüren. Sie werden aufgefordert, in dem entfernten Tarschisch Zuflucht zu suchen und ihrem Kummer laut Ausdruck zu verleihen: „Zieht hinüber nach Tarschisch; heult, ihr Bewohner des Küstenlandes“ (Jesaja 23:6).
Frohlockend „von ihren frühen Zeiten an“
10—12. Beschreibe Reichtum, Alter und Einfluss von Tyrus.
10 Tyrus ist eine alte Stadt. Daran erinnert uns Jesaja, wenn er fragt: „Ist das eure Stadt, die frohlockend war von den Tagen der Vorzeit, von ihren frühen Zeiten an?“ (Jesaja 23:7a). Der Wohlstand der Stadt hat Geschichte und lässt sich zumindest bis in die Zeit Josuas zurückverfolgen (Josua 19:29). Im Laufe der Jahre ist Tyrus für die gewerbliche Herstellung von Metallgegenständen, Glaswaren und Purpurfarbstoff bekannt geworden. Für Gewänder aus tyrischem Purpur fordert man Höchstpreise, und beim Adel sind die kostbaren Stoffe aus Tyrus sehr begehrt. (Vergleiche Hesekiel 27:7, 24.) Die Stadt ist auch ein Zentrum des Karawanenhandels und ein großer Umschlagplatz für Import und Export.
11 Zudem verfügt Tyrus über militärische Stärke. L. Sprague de Camp schreibt: „Die Phönizier verteidigten ihre Städte zwar nicht wie in einem normalen Krieg — sie waren keine Soldaten, sondern Geschäftsleute —, dafür aber mit fanatischem Mut und mit Hartnäckigkeit. Diese Eigenschaften und ihre starke Flotte befähigten die Tyrier, sich gegen das assyrische Heer, das stärkste seiner Zeit, zu behaupten.“
12 Die Stadt Tyrus macht sich im Mittelmeerraum tatsächlich einen Namen. „Ihre Füße pflegten sie weit fortzutragen, um dort als Fremdling zu weilen“ (Jesaja 23:7b). Phönizier reisen an ferne Orte, gründen Handelsniederlassungen und bauen Anlaufhäfen, die in einigen Fällen zu Kolonien heranwachsen. So ist beispielsweise Karthago an der Nordküste Afrikas eine tyrische Kolonie. Es wird Tyrus jedoch im Laufe der Zeit überflügeln und sich in Bezug auf seinen Einfluss im Mittelmeerraum sogar mit Rom messen können.
Sein Stolz wird entweiht werden
13. Warum wird die Frage aufgeworfen, wer es wage, über Tyrus ein Urteil zu verkünden?
13 Zieht man das Alter und den Reichtum von Tyrus in Betracht, so ist die anschließende Frage passend: „Wer ist es, der diesen Rat gegeben hat gegen Tyrus, die Kronenspenderin, deren Kaufleute Fürsten waren, deren Händler die Geehrten der Erde waren?“ (Jesaja 23:8). Wer wagt es, gegen die Stadt zu reden, die in ihren Kolonien und anderswo Mächtige in hohe Autoritätsstellungen eingesetzt hat und so zur „Kronenspenderin“ geworden ist? Wer wagt es, gegen die Metropole zu reden, deren Kaufleute Fürsten sind und deren Händler Geehrte? Maurice Chehab, früherer Leiter der Abteilung „Altertum“ im Nationalmuseum von Beirut (Libanon), sagte: „Vom 9. bis zum 6. Jahrhundert v. u. Z. war Tyrus von ebenso großer Bedeutung wie London zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“ Wer wagt es also gegen diese Stadt zu reden?
14. Wer verkündet ein Urteil über Tyrus, und warum?
14 Die inspirierte Antwort wird in Tyrus Bestürzung hervorrufen. Jesaja sagt: „Jehova der Heerscharen selbst hat diesen Rat gegeben, um den Stolz aller Schönheit zu entweihen, um all die Geehrten der Erde mit Verachtung zu behandeln“ (Jesaja 23:9). Warum verkündet Jehova ein Urteil über diese wohlhabende Stadt der Antike? Etwa deshalb, weil ihre Einwohner den falschen Gott Baal verehren? Oder wegen der Beziehungen zu Isebel, der Tochter König Ethbaals von Sidon (somit auch von Tyrus), die König Ahab von Israel heiratete und die Propheten Jehovas umbringen ließ? (1. Könige 16:29, 31; 18:4, 13, 19). Die Antwort auf beide Fragen lautet: „Nein.“ Tyrus wird verurteilt wegen seiner Arroganz und seines Stolzes. Die Stadt hat sich an anderen Völkern, wie zum Beispiel den Israeliten, bereichert. Im 9. Jahrhundert v. u. Z. beschuldigte Jehova Tyrus und andere Städte durch den Propheten Joel: „Ihr [habt] die Söhne Judas und die Söhne Jerusalems an die Söhne der Griechen verkauft ..., um sie weit von ihrem eigenen Gebiet zu entfernen“ (Joel 3:6). Kann Gott übersehen, dass sein Bundesvolk von Tyrus wie eine Handelsware behandelt worden ist?
15. Wie wird Tyrus reagieren, wenn Nebukadnezar Jerusalem einnimmt?
15 Tyrus ändert sich auch in hundert Jahren nicht. Wenn das Heer des babylonischen Königs Nebukadnezar 607 v. u. Z. Jerusalem zerstört, wird Tyrus frohlocken: „Haha! Sie [Jerusalem] ist zerbrochen worden, die Tür der Völker! Die Neigung wird gewiss nach mir hin sein. Ich werde angefüllt werden — sie ist verwüstet worden“ (Hesekiel 26:2). Tyrus wird sich freuen und damit rechnen, aus der Zerstörung Jerusalems Nutzen zu ziehen. Es erwartet eine Ausweitung seines Handels, nachdem die judäische Hauptstadt als Konkurrent ausgeschaltet ist. Die selbst ernannten „Geehrten“, die sich stolz auf die Seite der Feinde seines Volkes stellen, wird Jehova mit Verachtung behandeln.
16, 17. Was wird mit den Einwohnern von Tyrus geschehen, wenn die Stadt fällt? (Siehe Fußnote.)
16 Jehovas Verurteilung von Tyrus wird im Buch Jesaja wie folgt fortgesetzt: „Zieh über dein Land wie der Nil, o Tochter Tarschisch. Es gibt keine Werft mehr. Seine Hand hat er über das Meer ausgestreckt; er hat Königreiche erbeben lassen. Jehova selbst hat Befehl gegeben gegen Phönizien, seine Festen zu vertilgen. Und er spricht: ‚Du sollst nie wieder frohlocken, o Bedrückte, du Jungfrau, Tochter Sidon. Steh auf, nach Kittim zieh hinüber. Auch dort wirst du keine Ruhe finden‘ “ (Jesaja 23:10-12).
17 Der hebräische Ausdruck, der in vielen deutschen Bibeln mit „Tochter Tarschisch“ übersetzt worden ist, wird bisweilen auch mit „Tochter Tarschischs“ wiedergegeben.c Er bezieht sich wahrscheinlich auf Tyrus, weil Tarschisch nach der Niederlage von Tyrus mächtiger als dieses sein wird. Die Bewohner des in Trümmer gelegten Tyrus werden zerstreut werden wie ein Hochwasser führender Fluss, dessen Dämme zerstört sind und dessen Wasser sich in alle angrenzenden Ebenen ergießt. Jesajas Botschaft an die „Tochter Tarschischs“ unterstreicht, wie schrecklich das sein wird, was Tyrus widerfährt. Jehova selbst streckt seine Hand aus und gibt den Befehl. Am Ausgang der Sache kann niemand etwas ändern.
18. Warum wird von der „Jungfrau, Tochter Sidon“ gesprochen, und inwiefern wird sich ihr Stand ändern?
18 Jesaja spricht auch von der „Jungfrau, Tochter Sidon“, um anzudeuten, dass diese Stadt noch nie von fremden Eroberern überfallen und geschändet, ja noch nie erniedrigt worden ist.d (Vergleiche 2. Könige 19:21; Jesaja 47:1; Jeremia 46:11.) Jetzt soll sie aber ausgelöscht werden, und einige ihrer Bewohner werden wie Flüchtlinge zur phönizischen Kolonie Kittim übersetzen. Dort werden sie jedoch keine Ruhe finden, da sie ihre wirtschaftliche Macht eingebüßt haben.
Die Chaldäer werden sie verheeren
19, 20. Wer soll der Prophezeiung entsprechend Tyrus erobern, und wie erfüllt sich diese Prophezeiung?
19 Welche politische Macht wird Jehovas Urteil an Tyrus vollstrecken? Jesaja verkündet: „Siehe, das Land der Chaldäer! Das ist das Volk — Assyrien erwies sich nicht als dasselbe —, sie gründeten es für die, die ständig die Wüste aufsuchen. Sie haben ihre Belagerungstürme aufgerichtet; sie haben seine Wohntürme bloßgelegt; man hat es in zerfallende Trümmer gelegt. Heult, ihr Schiffe von Tarschisch, denn eure Feste ist verheert worden“ (Jesaja 23:13, 14). Nicht die Assyrer, sondern die Chaldäer werden Tyrus erobern. Sie werden ihre Belagerungstürme errichten, die Wohnstätten von Tyrus einebnen und diese Feste der Schiffe von Tarschisch zu einem Trümmerhaufen machen.
20 Der Prophezeiung entsprechend rebelliert Tyrus kurze Zeit nach dem Fall Jerusalems gegen Babylon, und Nebukadnezar belagert die Stadt. Da sich Tyrus für uneinnehmbar hält, widersetzt es sich. Im Laufe der Belagerung werden die Häupter der babylonischen Soldaten durch das Scheuern der Helme „kahl gemacht“, und ihre Schultern werden durch das Herbeischleppen des Materials für den Bau des Belagerungswerkes „bloßgerieben“ (Hesekiel 29:18). Für Nebukadnezar ist es eine kostspielige Belagerung. Die Festlandstadt Tyrus zerstört er, doch die Beute entgeht ihm. Der größte Teil der Schätze ist auf eine kleine Insel geschafft worden, die etwa einen Kilometer vom Festland entfernt liegt. Ohne Flotte kann der chaldäische König die Insel nicht einnehmen. Nach 13 Jahren kapituliert Tyrus; doch die Stadt bleibt bestehen, und sie wird noch erleben, wie sich weitere Prophezeiungen erfüllen.
„Sie soll zurückkehren zu ihrem Lohn“
21. In welchem Sinne wird Tyrus vergessen, und wie lange?
21 Jesaja setzt seine Prophezeiung fort: „Es soll geschehen an jenem Tag, dass Tyrus siebzig Jahre vergessen sein soll, gleich den Tagen e i n e s Königs“ (Jesaja 23:15a). Nach der Zerstörung der Festlandstadt durch die Babylonier wird die Inselstadt Tyrus „vergessen sein“. Der Prophezeiung entsprechend wird die Inselstadt Tyrus für die Dauer der Herrschaft „e i n e s Königs“ — des Babylonischen Reiches — keine bedeutende Finanzmacht sein. Durch Jeremia reiht Jehova Tyrus unter die Nationen ein, die den Wein seines Zornes trinken sollen. Er sagt: „Diese Nationen werden dem König von Babylon siebzig Jahre dienen müssen“ (Jeremia 25:8-17, 22, 27). Die Inselstadt Tyrus ist Babylon zwar nicht volle 70 Jahre lang unterworfen, denn das Babylonische Reich fällt im Jahre 539 v. u. Z. Die 70 Jahre stellen offenbar die Blütezeit der Herrschaft Babylons dar, in der sich die babylonische Königsdynastie rühmte, ihren Thron selbst über „die Sterne Gottes“ erhoben zu haben (Jesaja 14:13). Verschiedene Nationen kommen zu unterschiedlichen Zeiten unter diese Herrschaft. Doch am Ende von 70 Jahren wird diese Herrschaft zusammenbrechen. Was wird dann mit Tyrus geschehen?
22, 23. Was wird mit Tyrus geschehen, wenn es nicht mehr unter babylonischer Herrschaft steht?
22 Jesaja fährt fort: „Am Ende von siebzig Jahren wird es Tyrus ergehen wie in dem Lied einer Prostituierten: ‚Nimm eine Harfe, mach die Runde in der Stadt, o vergessene Prostituierte. Tu dein Bestes beim Saitenspiel; lass deiner Lieder viele werden, damit deiner gedacht werde.‘ Und es soll geschehen am Ende von siebzig Jahren, dass Jehova seine Aufmerksamkeit Tyrus zuwenden wird, und sie soll zurückkehren zu ihrem Lohn und Prostitution begehen mit allen Königreichen der Erde auf der Oberfläche des Erdbodens“ (Jesaja 23:15b-17).
23 Nach dem Sturz Babylons (539 v. u. Z.) wird Phönizien eine Satrapie des Medo-Persischen Reiches. Der persische Monarch, Cyrus der Große, ist ein toleranter Herrscher. Unter dieser neuen Herrschaft wird Tyrus seine frühere Aktivität wieder aufnehmen und sich anstrengen, erneut als ein Zentrum des Welthandels Geltung zu erlangen — wie eine vergessene Prostituierte, die ihre Kunden verloren hat und neue Kundschaft anzulocken sucht, indem sie in der Stadt umhergeht, auf der Harfe spielt und ihre Lieder singt. Wird Tyrus Erfolg haben? Ja, Jehova wird der Stadt Gelingen schenken. Die Inselstadt wird schließlich so wohlhabend sein, dass der Prophet Sacharja am Ende des 6. Jahrhunderts v. u. Z. sagen wird: „Tyrus ging daran, sich einen Wall zu bauen und Silber aufzuhäufen wie Staub und Gold gleich dem Schlamm der Straßen“ (Sacharja 9:3).
‘Ihr Gewinn soll etwas Heiliges werden’
24, 25. (a) Inwiefern wird Tyrus’ Gewinn für Jehova etwas Heiliges? (b) Zu welcher Prophezeiung inspiriert Jehova, obwohl Tyrus Gottes Volk unterstützt?
24 Besonders bemerkenswert sind die folgenden prophetischen Worte: „Ihr Gewinn und ihr Lohn sollen Jehova etwas Heiliges werden. Er wird nicht aufgehäuft noch aufgespeichert werden, denn ihr Lohn wird für die sein, die vor Jehova wohnen, zum Essen bis zur Sättigung und zur prächtigen Bedeckung“ (Jesaja 23:18). Inwiefern wird der materielle Gewinn, den Tyrus erzielt, etwas Heiliges? Jehova lenkt die Dinge so, dass der Gewinn im Einklang mit seinem Willen verwendet wird — damit sein Volk bis zur Sättigung essen kann und „Bedeckung“ oder Kleidung hat. Das geschieht kurz nach der Rückkehr der Israeliten aus dem Babylonischen Exil. Die Tyrier unterstützen sie durch die Lieferung von Zedernholz für den Wiederaufbau des Tempels. Auch erneuern sie ihre Handelsbeziehungen mit Jerusalem (Esra 3:7; Nehemia 13:16).
25 Trotzdem inspiriert Jehova zu einem weiteren prophetischen Spruch gegen Tyrus. Sacharja prophezeit der jetzt wohlhabenden Inselstadt Folgendes: „Siehe! Jehova selbst wird es enteignen, und ins Meer wird er gewiss seine Streitmacht niederschlagen; und es wird im Feuer verzehrt werden“ (Sacharja 9:4). Das erfüllt sich im Juli 332 v. u. Z., als Alexander der Große diese stolze Herrin des Meeres schleift.
Materialismus und Stolz meiden
26. Warum verurteilte Gott Tyrus?
26 Jehova verurteilt Tyrus wegen seines Stolzes, einer Eigenschaft, die er verachtet. „Hohe Augen“ werden unter den sieben Dingen aufgeführt, die Jehova hasst (Sprüche 6:16-19). Paulus brachte Stolz mit Satan, dem Teufel, in Verbindung, und Hesekiel verwendet in seiner Beschreibung des stolzen Tyrus Elemente, die eindeutig auf Satan zutreffen (Hesekiel 28:13-15; 1. Timotheus 3:6). Wieso war Tyrus stolz? Hesekiel wendet sich an Tyrus und sagt: „Dein Herz begann hochmütig zu sein wegen deines Vermögens“ (Hesekiel 28:5). Die Stadt hatte sich dem Handel verschrieben und der Anhäufung von Vermögen. Ihr Erfolg auf diesem Gebiet machte sie unerträglich stolz. Durch Hesekiel sagte Jehova zum „Führer von Tyrus“: „Dein Herz [ist] hochmütig geworden ... und du [sprichst] ständig ...: ‚Ich bin ein Gott. Auf den Sitz Gottes habe ich mich gesetzt‘ “ (Hesekiel 28:2).
27, 28. In welche Falle mögen Menschen gehen, und wie veranschaulichte Jesus dies?
27 Dem Stolz und einer falschen Einstellung zum Reichtum können Einzelpersonen ebenso erliegen wie ganze Nationen. Jesus erzählte ein Gleichnis, aus dem hervorgeht, wie tückisch diese Falle sein kann. Er sprach von einem Reichen, dessen Felder sehr ertragreich waren. Froh darüber plante er, größere Lagerhäuser für seine Ernteerträge zu bauen, und freute sich auf ein langes, bequemes Leben. Aber seine Erwartungen erfüllten sich nicht. Gott sagte zu ihm: „Du Unvernünftiger, in dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Wer soll dann die Dinge haben, die du aufgespeichert hast?“ Der Mann starb, und sein Reichtum nützte ihm nichts (Lukas 12:16-20).
28 Jesus schloss dieses Gleichnis mit den Worten: „So ergeht es dem Menschen, der Schätze für sich aufhäuft, aber nicht reich ist Gott gegenüber“ (Lukas 12:21). Wohlhabend zu sein war an sich nicht verkehrt, und eine gute Ernte einzubringen war keine Sünde. Der Fehler des Mannes bestand darin, dass er diese Dinge zum Wichtigsten in seinem Leben machte. Er vertraute nur auf seinen Reichtum. Wenn er in die Zukunft blickte, ließ er Jehova Gott außer Acht.
29, 30. Wie warnte Jakobus davor, auf sich selbst zu vertrauen?
29 Jakobus betonte nachdrücklich den gleichen Gedanken. Er sagte: „Kommt nun, ihr, die ihr sagt: ‚Heute oder morgen wollen wir in diese Stadt reisen und wollen dort ein Jahr zubringen, und wir wollen Geschäfte treiben und Gewinn machen‘, wobei ihr nicht wisst, was euer Leben morgen sein wird. Denn ihr seid ein Dunst, der für eine kleine Weile erscheint und dann verschwindet. Stattdessen solltet ihr sagen: ‚Wenn Jehova will, werden wir leben und auch dies oder jenes tun‘ “ (Jakobus 4:13-15). In seinen weiteren Worten zeigte Jakobus die Verbindung zwischen Reichtum und Stolz, indem er sagte: „Nun aber setzt ihr euren Stolz in eure anmaßenden Prahlereien. All dieses Stolzsein ist böse“ (Jakobus 4:16).
30 Noch einmal: Ein Geschäft zu betreiben ist keine Sünde. Die Sünde besteht in dem Stolz, der Arroganz und dem Selbstvertrauen, die durch den Erwerb von Reichtum entstehen können. Ein weiser Spruch aus alter Zeit lautet: „Gib mir weder Armut noch Reichtum.“ Durch Armut kann das Leben sehr erschwert werden. Aber Reichtum kann dazu führen, dass man ‘Gott verleugnet’ und sagt: „Wer ist Jehova?“ (Sprüche 30:8, 9).
31. Welche Fragen sollte sich ein Christ stellen?
31 Wir leben in einer Welt, in der viele der Habgier und Selbstsucht erliegen. Da das Denken der Allgemeinheit vom Kommerz geprägt wird, legt man starken Nachdruck auf Reichtum. Ein Christ tut daher gut daran, sich zu überprüfen, damit er nicht in dieselbe Falle geht wie die Handelsstadt Tyrus. Verwendet er so viel seiner Zeit und Kraft für materielle Bestrebungen, dass er faktisch ein Sklave des Reichtums ist? (Matthäus 6:24). Beneidet er Personen, die materiell besser gestellt sind als er? (Galater 5:26). Meint er womöglich, nur weil er zufällig wohlhabend ist, stünden ihm größere Aufmerksamkeit und mehr Vorrechte zu als anderen? (Vergleiche Jakobus 2:1-9.) Ist er eventuell, falls er nicht reich ist, „entschlossen ..., reich zu werden“, koste es, was es wolle? (1. Timotheus 6:9). Nehmen ihn geschäftliche Angelegenheiten so sehr in Beschlag, dass ihm nur noch ein winziger Teil seiner Zeit dafür verbleibt, Gott zu dienen? (2. Timotheus 2:4). Wird er von seinem Streben nach Reichtum derart in Anspruch genommen, dass er sich bei seinen Geschäftspraktiken über christliche Grundsätze hinwegsetzt? (1. Timotheus 6:10).
32. Welche warnenden Worte schrieb Johannes, und wie können wir sie befolgen?
32 Ganz gleich, in welcher wirtschaftlichen Lage wir uns befinden, sollte das Königreich in unserem Leben immer an erster Stelle stehen. Niemals sollten wir die Worte des Apostels Johannes außer Acht lassen: „Liebt nicht die Welt noch die Dinge in der Welt. Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm“ (1. Johannes 2:15). Freilich müssen wir uns der wirtschaftlichen Einrichtungen der Welt bedienen, damit wir am Leben bleiben (2. Thessalonicher 3:10). Wir machen also „von der Welt Gebrauch“, aber wir machen „nicht vollen Gebrauch von ihr“ (1. Korinther 7:31). Wenn wir materielle Dinge — die Dinge in der Welt — übermäßig lieben, lieben wir nicht mehr Jehova. „Die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und die auffällige Zurschaustellung der Mittel, die jemand zum Leben hat“, zum Mittelpunkt seines Strebens zu machen ist mit dem Tun des Willens Gottes nicht zu vereinbaren.e Aber gerade den Willen Gottes zu tun führt zu ewigem Leben (1. Johannes 2:16, 17).
33. Wie können Christen es vermeiden, in die gleiche Falle wie Tyrus zu gehen?
33 Das Streben nach materiellen Dingen allem anderen voranzustellen wurde Tyrus zur Falle. Die Stadt erlebte eine wirtschaftliche Blüte, die sie überaus stolz werden ließ, und für diesen Stolz wurde sie bestraft. Einzelpersonen und ganzen Nationen ist sie heute ein warnendes Beispiel. Wie viel besser ist es doch, auf den Apostel Paulus zu hören, der Christen ermahnte, „nicht hochmütig zu sein und ihre Hoffnung nicht auf unsicheren Reichtum zu setzen, sondern auf Gott, der uns alle Dinge reichlich darbietet zum Genuss“! (1. Timotheus 6:17).
[Fußnoten]
a Einige Gelehrte identifizieren Tarschisch mit Sardinien, einer Insel im westlichen Mittelmeer. Auch Sardinien war von Tyrus weit entfernt.
b Siehe Kapitel 15, Seite 200—207 des vorliegenden Buches.
c Ist der hebräische Ausdruck als „Tochter Tarschisch“ zu verstehen, dann bezieht sich dieser Teil der Prophezeiung auf die Einwohner von Tarschisch. In einem Nachschlagewerk heißt es: „Was das Reisen und den Handel betrifft, ist die Bevölkerung Tarschischs nun ebenso frei wie der Nil, der sich seinen Weg sucht.“ Dennoch liegt der Nachdruck auf den drastischen Folgen des Sturzes von Tyrus.
d Der mit „Jungfrau, Tochter Sidon“ übersetzte hebräische Ausdruck wird allerdings auch oftmals mit „jungfräuliche Tochter Sidons“ wiedergegeben. Nach diesem Verständnis würde sich dieser Teil der Prophezeiung auf Tyrus, eine Kolonie Sidons, beziehen.
e „Auffällige Zurschaustellung“ ist die Wiedergabe des griechischen Wortes alazonía und bezeichnet „eine unfromme und leere Anmaßung, die auf die Stabilität irdischer Dinge baut“ (The New Thayer’s Greek-English Lexicon).
[Karte auf Seite 256]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
EUROPA
SPANIEN (Mögliche Lage von TARSCHISCH)
MITTELMEER
SARDINIEN
ZYPERN
ASIEN
SIDON
TYRUS
AFRIKA
ÄGYPTEN
[Bild auf Seite 250]
Tyrus sollte sich nicht Assyrien, sondern Babylon unterwerfen
[Bild auf Seite 256]
Melkart, der Hauptgott von Tyrus, auf einer Münze dargestellt
[Bild auf Seite 256]
Modell eines phönizischen Schiffes