Kapitel neun
Wer wird die Welt regieren?
1—3. Beschreibe, was Daniel in dem Traum und den Visionen sah, die er im ersten Jahr der Herrschaft Belsazars hatte.
DANIELS spannende Prophezeiung versetzt uns jetzt zurück in das erste Jahr des babylonischen Königs Belsazar. In der langen Zeit, die Daniel schon im Exil in Babylon gelebt hat, ist seine Lauterkeit Jehova gegenüber niemals erschüttert worden. Der treue Prophet, der jetzt in den Siebzigern ist, hat „einen Traum und Visionen seines Hauptes auf seinem Bett“. Wie sehr ihn doch diese Visionen erschrecken! (Daniel 7:1, 15).
2 Daniel ruft aus: „Siehe da, die vier Winde der Himmel wühlten das weite Meer auf. Und vier riesige Tiere kamen aus dem Meer herauf, jedes verschieden von den anderen.“ Welch ungewöhnliche Tiere! Bei dem ersten handelt es sich um einen Löwen, der Flügel hat, und das zweite gleicht einem Bären. Anschließend kommt ein Leopard mit vier Flügeln und vier Köpfen. Das ungemein starke vierte Tier hat große Zähne aus Eisen und zehn Hörner. Zwischen seinen zehn Hörnern steigt ein „kleines“ Horn auf; es hat „Augen wie die Augen eines Menschen“ und ‘ein Maul, das großtönende Dinge redet’ (Daniel 7:2-8).
3 In Daniels Visionen rückt dann der Himmel ins Blickfeld. Der „Alte an Tagen“ nimmt als Richter des himmlischen Gerichts seinen herrlichen Thron ein. ‘Da sind tausend Tausende, die ihm ständig Dienst leisten, und zehntausend mal zehntausend, die fortwährend direkt vor ihm stehen.’ Er verurteilt die vier Tiere, nimmt ihnen die Herrschaft weg und vernichtet das vierte Tier. Die nicht endende Herrschaft über die „Völker, Völkerschaften und Sprachen“ wird ‘einem wie ein Menschensohn’ übertragen (Daniel 7:9-14).
4. (a) Von wem erbat sich Daniel zuverlässige Auskunft? (b) Warum ist das, was Daniel in jener Nacht sah und hörte, für uns von Bedeutung?
4 Daniel schreibt: „Mein Geist war deswegen in mir bekümmert, und die Visionen meines Hauptes, sie begannen mich zu erschrecken.“ Deshalb erbittet er von dem Engel „zuverlässige Auskunft über all dies“. Und tatsächlich erfährt er von ihm „die wahre Deutung der Dinge“ (Daniel 7:15-28). Was Daniel in jener Nacht sah und hörte, ist für uns von großem Interesse, denn es umriß künftige Weltereignisse, die sich bis in unsere Zeit erstrecken, die Zeit, in der ‘einem wie ein Menschensohn’ die Herrschaft über alle „Völker, Völkerschaften und Sprachen“ gegeben wird. Mit der Hilfe des Wortes und des Geistes Gottes können auch wir die Bedeutung dieser prophetischen Visionen verstehen.a
VIER TIERE KOMMEN AUS DEM MEER HERAUF
5. Was wurde durch das sturmgepeitschte Meer versinnbildlicht?
5 „Vier riesige Tiere kamen aus dem Meer herauf“, sagte Daniel (Daniel 7:3). Was wurde durch das sturmgepeitschte Meer versinnbildlicht? Viele Jahre später sah der Apostel Johannes ein siebenköpfiges wildes Tier aus dem „Meer“ heraufkommen. Dieses Meer stellte „Völker und Volksmengen und Nationen und Zungen“ dar — die vielen von Gott entfremdeten Menschen. Das Meer ist demnach ein passendes Symbol für eben diese Menschenmassen (Offenbarung 13:1, 2; 17:15; Jesaja 57:20).
6. Was wurde durch die vier Tiere dargestellt?
6 Der Engel Gottes erklärte: „Was diese riesigen Tiere betrifft, weil es vier sind: Es sind vier Könige, die von der Erde aufstehen werden“ (Daniel 7:17). Wie der Engel deutlich zeigte, handelte es sich bei den vier Tieren, die Daniel sah, um „vier Könige“; diese Tiere stellten somit Weltmächte dar. Aber welche?
7. (a) Was sagen bestimmte Bibelkommentatoren über die Vision, die Daniel im Traum von den vier Tieren hatte, und über Nebukadnezars Traum von dem riesigen Standbild? (b) Was stellen die vier metallenen Teile des Standbildes im einzelnen dar?
7 Bibelkommentatoren bringen die Vision, die Daniel im Traum von den vier Tieren hatte, mit Nebukadnezars Traum von dem riesigen Standbild in Verbindung. „Kapitel 7 [des Buches Daniel] gleicht dem Kapitel 2“, heißt es in einem Kommentar (The Expositor’s Bible Commentary). In einem anderen ist zu lesen: „Man ist sich im allgemeinen darin einig, daß die Aufeinanderfolge der vier nichtjüdischen Herrschaftssysteme ... hier [in Daniel, Kapitel 7] die gleiche ist wie die in Kapitel 2 betrachtete“ (The Wycliffe Bible Commentary). Bei den vier Weltmächten, dargestellt durch die vier Metalle, die in Nebukadnezars Traum zu sehen waren, handelte es sich um das Babylonische Reich (das goldene Haupt), um Medo-Persien (Brust und Arme aus Silber), um Griechenland (Bauch und Oberschenkel aus Kupfer) und um das Römische Reich (die Beine aus Eisen) (Daniel 2:32, 33).b Betrachten wir einmal, inwiefern diese Königreiche den vier riesigen Tieren entsprechen, die Daniel sah.
WILD WIE EIN LÖWE, SCHNELL WIE EIN ADLER
8. (a) Wie beschrieb Daniel das erste Tier? (b) Welches Weltreich stellte das erste Tier dar, und inwiefern verhielt es sich wie ein Löwe?
8 Welch imposante Tiere Daniel zu sehen bekam! Eines beschrieb er folgendermaßen: „Das erste war wie ein Löwe, und es hatte die Flügel eines Adlers. Ich schaute weiter, bis seine Flügel ausgerissen wurden, und es wurde von der Erde aufgehoben, und man ließ es gleich einem Menschen auf zwei Füßen stehen, und es wurde ihm eines Menschen Herz gegeben“ (Daniel 7:4). Durch dieses Tier wurde das gleiche Herrschaftssystem versinnbildlicht wie durch das goldene Haupt des riesigen Standbildes, nämlich die babylonische Weltmacht (607—539 v. u. Z.). Wie ein räuberischer „Löwe“ verschlang Babylon die Nationen, einschließlich des Volkes Gottes (Jeremia 4:5-7; 50:17). Ja, wie mit Hilfe von Adlerflügeln eilte dieser „Löwe“ in Eroberungskriegen vorwärts (Klagelieder 4:19; Habakuk 1:6-8).
9. Welche Veränderung ging bei dem löwenähnlichen Tier vor sich, und wie wirkte sich das auf das Tier aus?
9 Schließlich wurden dem ungewöhnlichen, beflügelten Löwen die Flügel „ausgerissen“. Gegen Ende der Herrschaft König Belsazars verlor Babylon seine Schnelligkeit, was Eroberungsfeldzüge betraf, und seine löwenähnliche Überlegenheit gegenüber den Nationen. Es war nicht schneller als ein Mensch auf zwei Füßen. Es wurde schwach, da ihm „eines Menschen Herz gegeben“ wurde. Weil Babylon „das Herz des Löwen“ fehlte, konnte es sich nicht mehr so verhalten wie ein König „unter den Tieren eines Waldes“. (Vergleiche 2. Samuel 17:10; Micha 5:8.) Es wurde von einem anderen riesigen Tier bezwungen.
UNERSÄTTLICH WIE EIN BÄR
10. Welche Herrscherlinie wurde durch den „Bären“ versinnbildlicht?
10 Daniel sagte weiter: „Siehe da, ein anderes Tier, ein zweites, das gleich einem Bären war. Und auf einer Seite war es aufgerichtet, und da waren drei Rippen in seinem Maul zwischen seinen Zähnen; und dies ist, was sie zu ihm sagten: ‚Steh auf, friß viel Fleisch‘ “ (Daniel 7:5). Der durch den „Bären“ versinnbildlichte König war identisch mit dem Königreich, das durch die silberne Brust und die silbernen Arme des großen Standbildes dargestellt wurde — mit der Herrscherlinie von Medo-Persien (539—331 v. u. Z.), die mit Darius, dem Meder, und Cyrus dem Großen begann und mit Darius III. endete.
11. Was wurde dadurch angezeigt, daß der sinnbildliche Bär auf einer Seite aufgerichtet war und drei Rippen in seinem Maul hatte?
11 Der sinnbildliche Bär ‘war auf einer Seite aufgerichtet’, vielleicht um einen Angriff auf Nationen vorzubereiten mit dem Ziel, sie zu unterjochen und so die Weltherrschaft zu behaupten. Oder möglicherweise sollte durch diese Haltung angedeutet werden, daß sich die persische Herrscherlinie über den einzigen medischen König, Darius, erheben würde. Die drei Rippen zwischen den Zähnen des Bären könnten auf die drei Himmelsrichtungen hindeuten, in die der medo-persische „Bär“ durch seine Eroberungsfeldzüge vorstieß, und zwar in den Norden, um 539 v. u. Z. Babylon zu erobern, dann westwärts über Kleinasien bis nach Thrakien, und schließlich eroberte er auf seinem Vorstoß nach Süden Ägypten. Die Zahl Drei ist bisweilen auch ein Symbol der Intensität, weshalb die drei Rippen auch die Eroberungssucht des sinnbildlichen Bären anzeigen mögen.
12. Was war die Folge davon, daß der sinnbildliche Bär der Aufforderung nachkam: „Steh auf, friß viel Fleisch.“?
12 Der Aufforderung „Steh auf, friß viel Fleisch“ entsprechend, griff der „Bär“ Nationen an. Dadurch, daß Medo-Persien in Übereinstimmung mit Gottes Willen Babylon verschlang, war es jetzt in der Lage, dem Volk Jehovas einen wertvollen Dienst zu leisten. (Siehe „Ein toleranter Monarch“, Seite 149.) Durch Cyrus den Großen, Darius I. (Darius der Große) und Artaxerxes I. befreite Medo-Persien die jüdischen Gefangenen Babylons und half ihnen, den Tempel Jehovas wieder aufzubauen und die Mauern Jerusalems auszubessern. Schließlich herrschte Medo-Persien über 127 Gerichtsbezirke, und Ahasverus (Xerxes I.), der Gemahl der Königin Esther, regierte „von Indien bis Äthiopien als König“ (Esther 1:1). Doch der Aufstieg eines anderen Tieres stand bevor.
SCHNELL WIE EIN GEFLÜGELTER LEOPARD
13. (a) Was wurde durch das dritte Tier versinnbildlicht? (b) Was ist über die Schnelligkeit des dritten Tieres und sein Herrschaftsgebiet zu sagen?
13 Das dritte Tier war „wie ein Leopard, aber es hatte vier Flügel eines fliegenden Geschöpfes auf seinem Rücken. Und das Tier hatte vier Köpfe, und es wurde ihm tatsächlich Herrschaft gegeben“ (Daniel 7:6). Wie sein Gegenstück — der kupferne Bauch und die kupfernen Oberschenkel des Standbildes aus dem Traum Nebukadnezars — versinnbildlichte dieser Leopard mit vier Köpfen und vier Flügeln die makedonische oder griechische Herrscherlinie, beginnend mit Alexander dem Großen. Mit der Behendigkeit und Schnelligkeit eines Leoparden rückte Alexander über Kleinasien vor, im Süden bis hinein nach Ägypten und von da bis an die Westgrenze Indiens. (Vergleiche Habakuk 1:8.) Sein Herrschaftsgebiet war größer als das des „Bären“, denn es schloß Makedonien, Griechenland und das Persische Reich ein. (Siehe „Ein junger König erobert die Welt“, Seite 153.)
14. Wie bekam der „Leopard“ vier Köpfe?
14 Als Alexander im Jahre 323 v. u. Z. starb, bekam der „Leopard“ vier Köpfe, und zwar insofern, als vier seiner Generäle in jeweils einem Teil seines Herrschaftsgebiets seine Nachfolge antraten. Seleukos beherrschte Mesopotamien und Syrien. Ptolemaios kontrollierte Ägypten und Palästina. Lysimachos herrschte über Kleinasien und Thrakien, und Kassander erhielt Makedonien und Griechenland. (Siehe „Ein riesiges Reich wird aufgeteilt“, Seite 162.) Doch bald tauchte ein neuer gefährlicher Gegner auf.
EIN FURCHTEINFLÖSSENDES TIER ERWEIST SICH ALS VERSCHIEDEN
15. (a) Wie läßt sich das vierte Tier beschreiben? (b) Was wurde durch das vierte Tier versinnbildlicht, und inwiefern verzehrte und zermalmte es alles, was sich ihm in den Weg stellte?
15 Daniel beschrieb das vierte Tier als „furchteinflößend und schrecklich und ungewöhnlich stark“. Weiter sagte er: „Und es hatte große Zähne aus Eisen. Es verzehrte und zermalmte, und was übrig war, trat es mit seinen Füßen nieder. Und es war verschieden von all den anderen Tieren, die vor ihm waren, und es hatte zehn Hörner“ (Daniel 7:7). Zu Beginn handelte es sich bei diesem furchteinflößenden Tier um die politisch-militärische Macht Rom. Nach und nach übernahm Rom die vier hellenistischen Teile des Griechischen Reiches, und bis zum Jahre 30 v. u. Z. war es zur neuen Weltmacht der biblischen Prophetie aufgestiegen. Dadurch, daß das Römische Reich alles, was sich ihm in den Weg stellte, durch den Einsatz seiner Streitkräfte unterwarf, expandierte es immer mehr; sein Gebiet erstreckte sich schließlich von den Britischen Inseln über einen großen Teil Mitteleuropas und den gesamten Mittelmeerraum bis hinüber nach Babylon und an den Persischen Golf.
16. Was sagte der Engel über das vierte Tier?
16 Daniel wollte wissen, was es mit diesem ‘außerordentlich fürchterlichen’ Tier auf sich hatte, und hörte aufmerksam zu, als der Engel erklärte: „Was ... [seine] zehn Hörner betrifft, aus jenem Königreich werden zehn Könige aufstehen; und noch ein anderer wird nach ihnen aufstehen, und er selbst wird von den ersten verschieden sein, und drei Könige wird er erniedrigen“ (Daniel 7:19, 20, 24). Worum handelte es sich bei diesen „zehn Hörnern“ oder „zehn Königen“?
17. Was wird durch die „zehn Hörner“ des vierten Tieres versinnbildlicht?
17 Während Rom bei zunehmendem Wohlstand wegen des ausschweifenden Lebens der herrschenden Klasse zusehends entartete, wurde es als Militärmacht immer schwächer. Mit der Zeit zeigte sich ein deutlicher Verfall der militärischen Stärke Roms. Schließlich zerbrach das einst mächtige Reich in viele kleinere Königreiche. In der Bibel wird mit der Zahl Zehn häufig Vollständigkeit angezeigt. Daher stellen die „zehn Hörner“ des vierten Tieres alle Königreiche dar, die durch den Zerfall des Römischen Reiches entstanden. (Vergleiche 5. Mose 4:13; Lukas 15:8; 19:13, 16, 17.)
18. Wie übte Rom selbst nach der Absetzung seines letzten Kaisers noch jahrhundertelang Herrschaft über Europa aus?
18 Die römische Weltmacht endete jedoch nicht mit der Absetzung des letzten Kaisers von Rom im Jahre 476 u. Z. Das päpstliche Rom übte noch viele Jahrhunderte lang politische und insbesondere religiöse Herrschaft über Europa aus. Die Möglichkeit dazu bot das Lehnswesen, durch das der größte Teil der Bevölkerung Europas Lehnsherren unterworfen war und diese wiederum einem König. Alle Könige ihrerseits erkannten die Gewalt des Papstes an. So bestimmte in der langen Zeit des sogenannten finsteren Mittelalters das Heilige Römische Reich mit dem päpstlichen Rom als Mittelpunkt die Angelegenheiten der Welt.
19. Welcher Vergleich läßt sich gemäß einem Historiker zwischen Rom und den vorausgegangenen Weltmächten ziehen?
19 Wer könnte leugnen, daß das vierte Tier „von all den anderen Königreichen verschieden“ war? (Daniel 7:7, 19, 23). Der Historiker H. G. Wells schrieb darüber: „Diese neue Macht, dieses römische Reich ..., war in mancher Hinsicht anders geartet als irgend eines der großen Reiche, die es bis dahin in der zivilisierten Welt gegeben hatte. ... [Es] verleibte sich bald auch fast alle Griechen der Welt ein, und seine Bevölkerung war in viel geringerem Ausmaße hamitisch und semitisch als die in irgend einem der vorhergegangenen Reiche. ... Es war etwas bisher in der Geschichte nicht Dagewesenes ... Das römische Reich wuchs heran, ein ungeplantes und neues Gebilde; und fast ohne sich dessen bewußt zu werden, fand sich das römische Volk in ein ungeheures administratives Experiment verwickelt.“ Doch das vierte Tier sollte noch größer werden.
EIN KLEINES HORN SCHAFFT DEN AUFSTIEG
20. Was sagte der Engel über das neue, kleine Horn auf dem Kopf des vierten Tieres?
20 Daniel sagte: „Ich betrachtete die Hörner weiter, und siehe, ein anderes Horn, ein kleines, stieg zwischen ihnen auf, und da waren drei von den ersten Hörnern, die vor ihm ausgerissen wurden“ (Daniel 7:8). Was dieses neue Horn betrifft, erklärte der Engel dem Daniel: „Noch ein anderer wird nach ihnen [den zehn Königen] aufstehen, und er selbst wird von den ersten verschieden sein, und drei Könige wird er erniedrigen“ (Daniel 7:24). Wer ist dieser König, wann stand er auf, und welche drei Könige erniedrigte er?
21. Wie wurde Britannien das sinnbildliche kleine Horn des vierten Tieres?
21 Beachten wir die folgende Entwicklung. Im Jahre 55 v. u. Z. fiel der römische Feldherr Julius Cäsar in Britannien ein, konnte aber keine dauerhafte Ansiedlung gründen. Kaiser Claudius begann 43 u. Z. mit einer dauerhafteren Unterwerfung Südbritanniens. Im Jahre 122 u. Z. veranlaßte dann Kaiser Hadrian den Bau eines Walls vom Tyne bis zum Solway Firth — ein Wall, der die Nordgrenze des Römischen Reiches markierte. Anfang des 5. Jahrhunderts zogen sich die römischen Legionen von der Insel zurück. Ein Historiker erklärte: „Im 16. Jahrhundert war England nur eine zweitrangige Macht. Es verfügte im Vergleich zu den Niederlanden nur über einen geringen Wohlstand. Das Land hatte wesentlich weniger Einwohner als Frankreich. Seine Streitkräfte (die Flotte eingeschlossen) waren denen Spaniens unterlegen.“ Britannien war damals offensichtlich ein unbedeutendes Königreich — das sinnbildliche kleine Horn des vierten Tieres. Das sollte sich jedoch ändern.
22. (a) Welche anderen drei Hörner des vierten Tieres bezwang das „kleine“ Horn? (b) Wozu erhob sich Großbritannien infolgedessen?
22 Im Jahre 1588 sandte Philipp II. von Spanien seine gewaltige Armada gegen England aus. Die Flotte, die aus 130 Schiffen bestand und über 24 000 Mann an Bord hatte, segelte den englischen Kanal hinauf. Sie mußte aber von der englischen Flotte eine Niederlage hinnehmen. Gegenwinde und heftige Atlantikstürme besiegelten ihren Untergang. Dieses Ereignis kennzeichnete „den entscheidenden Übergang der Seeherrschaft von Spanien auf England“, wie ein Historiker schreibt. Im 17. Jahrhundert besaßen die Niederländer die größte Handelsflotte der Welt. Doch auf Grund der wachsenden Zahl von Kolonien errang England die Vorherrschaft. Im 18. Jahrhundert kämpften Briten und Franzosen in Nordamerika und Indien gegeneinander; schließlich schlossen sie im Jahre 1763 den Pariser Frieden. Der Autor William B. Willcox schrieb, daß dieser Friedensvertrag „Großbritanniens neue Stellung als vorherrschende europäische Macht in der außereuropäischen Welt bestätigte“. Großbritanniens Vormachtstellung gegenüber Frankreich wurde durch den überwältigenden Sieg über Napoleon 1815 noch untermauert. Die „drei Könige“, die Großbritannien auf diese Weise ‘erniedrigte’, waren Spanien, die Niederlande und Frankreich (Daniel 7:24). Dadurch erhob sich Großbritannien zur größten Handels- und Kolonialmacht der Welt. Ja, das „kleine“ Horn war zur Weltmacht herangewachsen.
23. Auf welche Weise ‘verzehrte’ das sinnbildliche kleine Horn „die ganze Erde“?
23 Der Engel erklärte Daniel, dieses vierte Tier oder vierte Königreich werde „die ganze Erde verzehren“ (Daniel 7:23). Das bewahrheitete sich an der einstigen römischen Provinz Britannien. Daraus wurde schließlich das britische Weltreich, das ‘die ganze Erde verzehrte’. Dieses Weltreich umfaßte einmal ein Viertel der Landoberfläche der Erde und beherrschte ein Viertel der Weltbevölkerung.
24. Was sagte ein Historiker über die Verschiedenartigkeit des britischen Weltreichs?
24 Das römische Weltreich hatte sich von früheren Weltmächten unterschieden, und auch der durch das „kleine“ Horn dargestellte König war „von den ersten verschieden“ (Daniel 7:24). Über das britische Weltreich schrieb der Historiker H. G. Wells: „Nichts dergleichen hat je zuvor bestanden. An erster Stelle, als Mittelpunkt des ganzen Systems, stand die ‚gekrönte Republik‘ der vereinigten britischen Königreiche, ... das britische Reich als Ganzes [ist] niemals von einem einzelnen Amte oder von einem einzelnen Menschen zusammenfassend verwaltet worden ... Es war ein Gemisch von Zuwüchsen und Neuerwerbungen, durchaus verschieden von allem, was man bisher ein Reich genannt hatte.“
25. (a) Was stellt das sinnbildliche kleine Horn in seiner letzten Entwicklung dar? (b) In welchem Sinne hat das „kleine“ Horn „Augen wie die Augen eines Menschen“ und ‘ein Maul, das großtönende Dinge redet’?
25 Zum „kleinen“ Horn gehörte aber nicht nur das britische Weltreich. Großbritannien anerkannte 1783 die Unabhängigkeit seiner 13 amerikanischen Kolonien. Schließlich verbündeten sich die Vereinigten Staaten von Amerika mit Großbritannien und gingen aus dem Zweiten Weltkrieg als die führende Nation der Welt hervor. Und die starken Bindungen zu Großbritannien sind bestehengeblieben. Die so entstandene anglo-amerikanische Doppelweltmacht wird durch das „Horn, das Augen hatte“, versinnbildlicht. Diese Weltmacht ist wirklich aufmerksam und schlau. Sie ‘redet großtönende Dinge’, diktiert einem Großteil der Welt die Politik und handelt als ihr Wortführer, als „falscher Prophet“ (Daniel 7:8, 11, 20; Offenbarung 16:13; 19:20).
DAS KLEINE HORN WIDERSTEHT GOTT UND SEINEN HEILIGEN
26. Was sagte der Engel voraus in bezug auf die Äußerungen des sinnbildlichen Horns und über sein Verhalten gegenüber Jehova und seinen Dienern?
26 Daniel setzte die Beschreibung seiner Vision mit den Worten fort: „Ich schaute weiter, wie gerade jenes Horn Krieg gegen die Heiligen führte, und es gewann die Oberhand über sie“ (Daniel 7:21). Über dieses „Horn“ oder diesen König sagte Gottes Engel voraus: „Er wird sogar Worte gegen den Höchsten reden, und die Heiligen des Allerhöchsten wird er andauernd befehden. Und er wird beabsichtigen, Zeiten und Gesetz zu ändern, und sie werden für eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit in seine Hand gegeben werden“ (Daniel 7:25). Wie und wann hat sich dieser Teil der Prophezeiung erfüllt?
27. (a) Wer sind die „Heiligen“, die von dem „kleinen“ Horn verfolgt wurden? (b) Auf welche Weise versuchte das sinnbildliche Horn, „Zeiten und Gesetz zu ändern“?
27 Die „Heiligen“, die von dem „kleinen“ Horn (der anglo-amerikanischen Weltmacht) verfolgt wurden, sind Jesu geistgesalbte Nachfolger auf der Erde (Römer 1:7; 1. Petrus 2:9). Viele Jahre vor dem Ersten Weltkrieg machte der Überrest dieser Gesalbten die Öffentlichkeit warnend darauf aufmerksam, daß 1914 die „bestimmten Zeiten der Nationen“ enden würden (Lukas 21:24). Als in jenem Jahr Krieg ausbrach, wurde offenkundig, daß das „kleine“ Horn diese Warnung außer acht gelassen hatte, denn es fuhr fort, die gesalbten „Heiligen“ zu befehden. Die anglo-amerikanische Weltmacht widersetzte sich sogar ihrem Bemühen, dem Gebot (oder „Gesetz“) Jehovas nachzukommen, die gute Botschaft vom Königreich weltweit zu einem Zeugnis zu predigen (Matthäus 24:14). Auf diese Weise versuchte das „kleine“ Horn, „Zeiten und Gesetz zu ändern“.
28. Wie lang sind „eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit“?
28 Jehovas Engel sprach von einem prophetischen Zeitabschnitt: „eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit“. Wie lang ist dieser Zeitabschnitt? Bibelkommentatoren stimmen im allgemeinen darin überein, daß damit dreieinhalb Zeiten gemeint sind — die Summe von einer Zeit, zwei Zeiten und einer halben Zeit. Da sich Nebukadnezars „sieben Zeiten“ des Wahnsinns auf sieben Jahre beliefen, handelt es sich bei den dreieinhalb Zeiten um dreieinhalb Jahre (Daniel 4:16, 25).c Die Wiedergabe in der Guten Nachricht Bibel lautet: „Ein Jahr und zwei Jahre und ein halbes Jahr wird das Volk Gottes in seine Gewalt gegeben.“ In der Übersetzung von Dr. Hermann Menge ist zu lesen: „Sie werden seiner Gewalt preisgegeben sein ein Jahr, zwei Jahre und ein halbes Jahr.“ Die Einheitsübersetzung und die Jerusalemer Bibel weisen in einer Fußnote darauf hin, daß es sich um dreieinhalb Jahre handelt. Von demselben Zeitabschnitt ist in Offenbarung 11:2-7 die Rede, wo es heißt, daß Gottes Zeugen 42 Monate oder 1 260 Tage in Sacktuch gekleidet predigen und anschließend getötet werden würden. Wann begann und wann endete dieser Zeitabschnitt?
29. Wann und wie begannen die prophetischen dreieinhalb Jahre?
29 Der Erste Weltkrieg brachte für die gesalbten Christen eine Zeit der Prüfung mit sich. Für Ende 1914 rechneten sie mit Verfolgung. Deshalb wurde als Jahrestext für 1915 die Frage ausgewählt, die Jesus seinen Jüngern gestellt hatte: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?“ Der Text war Matthäus 20:22 (Elberfelder Bibel) entnommen. Vom Dezember 1914 an predigte also diese kleine Gruppe von Zeugen ‘in Sacktuch’.
30. Wie wurden gesalbte Christen während des Ersten Weltkriegs von der anglo-amerikanischen Weltmacht befehdet?
30 Als sich das Kriegsfieber ausbreitete, regte sich zunehmend Widerstand. Einige gesalbte Christen wurden eingesperrt. Einige wurden von sadistischen Staatsvertretern gefoltert, so zum Beispiel Frank Platt in England und Robert Clegg in Kanada. Am 12. Februar 1918 verbot das britische Dominion Kanada den kurz zuvor (in Englisch) erschienenen siebten Band der Schriftstudien, betitelt Das vollendete Geheimnis, sowie die Traktate mit dem Titel Der Schriftforscher. Im darauffolgenden Monat erklärte das Justizministerium der Vereinigten Staaten die Verbreitung des siebten Bandes als gesetzwidrig. Was war die Folge? Es kam zu Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmung von Literatur und zur Verhaftung von Anbetern Jehovas.
31. Wann und wie endeten die „eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit“?
31 Die Befehdung der Gesalbten Gottes erreichte am 21. Juni 1918 den Höhepunkt, als J. F. Rutherford und führende Mitglieder der Watch Tower Bible and Tract Society auf Grund von Falschanklagen zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. In der Absicht, „Zeiten und Gesetz zu ändern“, hatte das „kleine“ Horn das organisierte Predigtwerk praktisch zum Erliegen gebracht (Offenbarung 11:7). So endete der vorhergesagte Zeitabschnitt von ‘einer Zeit und Zeiten und einer halben Zeit’ im Juni 1918.
32. Warum kann man sagen, daß die „Heiligen“ durch das „kleine“ Horn nicht ausgerottet wurden?
32 Aber die „Heiligen“ wurden, als das „kleine“ Horn sie befehdete, nicht ausgerottet. Wie in der Offenbarung vorausgesagt, folgte nach einer kurzen Zeit der Untätigkeit eine Wiederbelebung und Reaktivierung der gesalbten Christen (Offenbarung 11:11-13). Der Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society und seine Gefährten wurden am 26. März 1919 aus dem Gefängnis freigelassen und später von den Falschanklagen, die gegen sie erhoben worden waren, freigesprochen. Sogleich begann der gesalbte Überrest, sich für weitere Tätigkeit zu reorganisieren. Was stand indes dem „kleinen“ Horn bevor?
DER ALTE AN TAGEN HÄLT GERICHT
33. (a) Wer ist der Alte an Tagen? (b) Was waren die „Bücher“, die im himmlischen Gerichtssaal ‘geöffnet wurden’?
33 Nachdem Daniel die vier Tiere vorgestellt hat, richtet er seinen Blick von dem vierten Tier weg auf eine Szene im Himmel. Er sieht den Alten an Tagen, der sich als Richter auf einen prächtigen Thron setzt. Es ist niemand anders als Jehova Gott (Psalm 90:2). Als sich das Gericht im Himmel setzt, bemerkt Daniel, daß ‘Bücher geöffnet werden’ (Daniel 7:9, 10). Da Jehovas Dasein in die unendliche Vergangenheit zurückreicht, kennt er die ganze Menschheitsgeschichte so, als sei sie in einem Buch festgehalten worden. Er hat alle vier sinnbildlichen Tiere beobachtet und kann sie auf Grund dessen, was er aus eigener Erfahrung über sie weiß, richten.
34, 35. Was geschieht mit dem „kleinen“ Horn und den anderen mit Tieren vergleichbaren Mächten?
34 Daniel fährt fort: „Ich schaute weiter zur selben Zeit wegen des Schalls der großtönenden Worte, die das Horn redete; ich schaute weiter, bis das Tier getötet und sein Leib vernichtet war und es dem brennenden Feuer hingegeben wurde. Was aber die übrigen der Tiere betrifft, ihre Herrschaft wurde weggenommen, und es wurde ihnen eine Verlängerung des Lebens für eine Zeit und einen Zeitabschnitt gewährt“ (Daniel 7:11, 12). Der Engel sagt zu Daniel: „Das Gericht selbst setzte sich dann, und seine eigene Herrschaft nahm man schließlich weg, um ihn zu vertilgen und ihn gänzlich zu vernichten“ (Daniel 7:26).
35 Auf Anordnung des großen Richters, Jehova, wird dem Horn, das Gott lästerte und seine „Heiligen“ befehdete, dasselbe widerfahren wie dem römischen Weltreich, das die ersten Christen verfolgte. Seine Herrschaft wird ebensowenig fortdauern wie diejenige der geringeren mit Hörnern verglichenen „Könige“, die aus dem römischen Weltreich hervorgingen. Was ist indes von den Herrschaftsformen zu sagen, die aus den früheren mit Tieren vergleichbaren Mächten hervorgingen? Wie vorausgesagt, wurde ihr Leben „für eine Zeit und einen Zeitabschnitt“ verlängert. Ihre Territorien sind bis heute bevölkert. Irak nimmt beispielsweise das Gebiet des alten Babylon ein. Auch Persien (Iran) und Griechenland gibt es immer noch. Überreste dieser ehemaligen Weltmächte sind Mitglieder der Vereinten Nationen. Diese Reiche werden mit der Vernichtung der letzten Weltmacht ebenfalls verschwinden. Alle menschlichen Regierungen werden im „Krieg des großen Tages Gottes, des Allmächtigen“, beseitigt werden (Offenbarung 16:14, 16). Wer wird aber dann die Erde regieren?
EINE NICHT ENDENDE HERRSCHAFT STEHT BEVOR!
36, 37. (a) Wer ist mit der Bezeichnung „einer wie ein Menschensohn“ gemeint, und wann und zu welchem Zweck erschien er vor dem Gericht im Himmel? (b) Was wurde 1914 aufgerichtet?
36 Daniel rief aus: „Ich schaute weiter in den Visionen der Nacht, und siehe da, mit den Wolken des Himmels kam gerade einer wie ein Menschensohn; und er erlangte Zutritt zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn nahe heran, ja vor IHN“ (Daniel 7:13). Auf der Erde bezeichnete sich Jesus Christus als „Menschensohn“ und betonte dadurch seine Verwandtschaft mit der Menschheit (Matthäus 16:13; 25:31). Vor dem Sanhedrin, dem höchsten jüdischen Gericht, sagte er: „Ihr [werdet] den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen“ (Matthäus 26:64). Bei demjenigen, der in Daniels Vision für Menschenaugen unsichtbar kam und Zutritt zu Jehova Gott erlangte, handelt es sich somit um den auferweckten, verherrlichten Jesus Christus. Von welchem Zeitpunkt ist hier die Rede?
37 Wie mit König David, so hat Gott auch mit Jesus Christus einen Bund für ein Königreich geschlossen (2. Samuel 7:11-16; Lukas 22:28-30). Als 1914 u. Z. die „bestimmten Zeiten der Nationen“ abliefen, konnte Jesus Christus als Davids königlicher Erbe rechtmäßig die Königsherrschaft antreten. Daniels prophetischer Bericht lautet: „Ihm wurde Herrschaft und Würde und Königtum gegeben, damit die Völker, Völkerschaften und Sprachen alle ihm dienen sollten. Seine Herrschaft ist eine auf unabsehbare Zeit dauernde Herrschaft, die nicht vergehen wird, und sein Königreich eines, das nicht zugrunde gerichtet werden wird“ (Daniel 7:14). So wurde 1914 das messianische Königreich im Himmel aufgerichtet. Doch auch anderen wird Herrschaft gegeben.
38, 39. Wem wird die ewige Herrschaft über die Welt übertragen?
38 Der Engel sagte: „Die Heiligen des Allerhöchsten werden das Königreich empfangen“ (Daniel 7:18, 22, 27). Jesus Christus ist der oberste Heilige (Apostelgeschichte 3:14; 4:27, 30). Die anderen „Heiligen“, die an der Herrschaft teilhaben, sind die 144 000 treuen geistgesalbten Christen, die zusammen mit Christus das Königreich erben (Römer 1:7; 8:17; 2. Thessalonicher 1:5; 1. Petrus 2:9). Sie werden als unsterbliche Geistgeschöpfe vom Tod auferweckt, damit sie mit Christus auf dem himmlischen Berg Zion regieren können (Offenbarung 2:10; 14:1; 20:6). Christus Jesus und die auferweckten gesalbten Christen werden also über die Menschenwelt herrschen.
39 Was die Herrschaft des Menschensohnes und der anderen auferweckten „Heiligen“ betrifft, sagte der Engel Gottes: „Das Königreich und die Herrschaft und die Größe der Königreiche unter allen Himmeln wurden dem Volk der Heiligen des Allerhöchsten gegeben. Ihr Königreich ist ein auf unabsehbare Zeit dauerndes Königreich, und alle Herrschaften werden selbst ihnen dienen und gehorchen“ (Daniel 7:27). Wie sehr doch die gehorsame Menschheit unter diesem Königreich gesegnet werden wird!
40. Von welchem Nutzen wird es für uns sein, wenn wir dem Traum und den Visionen Daniels Aufmerksamkeit schenken?
40 Daniel wußte nicht, wie die Visionen, die Gott ihm gewährt hatte, einmal auf wunderbare Weise Wirklichkeit würden. Er sagte: „Bis hierher ist das Ende der Sache. Was mich, Daniel, betrifft, meine eigenen Gedanken erschreckten mich ständig in hohem Maße, so daß sich sogar meine Gesichtsfarbe an mir veränderte; die Sache selbst aber behielt ich in meinem eigenen Herzen“ (Daniel 7:28). Wir dagegen leben in der Zeit, in der wir die Erfüllung dessen verstehen können, was Daniel sah. Wenn wir auf diese Prophezeiung achten, wird unser Glaube gestärkt und unsere Überzeugung vertieft, daß Jehovas messianischer König die Welt regieren wird.
[Fußnoten]
a Der Klarheit wegen und um eine Wiederholung zu vermeiden, verbinden wir die erläuternden Verse von Daniel 7:15-28 mit einer Vers-für-Vers-Betrachtung von Daniel 7:1-14, wo der Bericht über diese Visionen zu finden ist.
b Siehe Kapitel 4 des vorliegenden Buches.
c Siehe Kapitel 6 des vorliegenden Buches.
WAS HABEN WIR ERKANNT?
• Was wird durch die ‘vier riesigen Tiere, die aus dem Meer heraufkamen’, versinnbildlicht?
• Was stellt das „kleine“ Horn dar?
• Wie wurden die „Heiligen“ während des Ersten Weltkriegs von dem sinnbildlichen kleinen Horn befehdet?
• Was wird mit dem sinnbildlichen kleinen Horn und den anderen mit Tieren vergleichbaren Mächten geschehen?
• Welchen Nutzen haben wir daraus gezogen, daß wir uns mit dem Traum und den Visionen, die Daniel von den ‘vier riesigen Tieren’ hatte, befaßt haben?
[Kasten/Bilder auf Seite 149-152]
EIN TOLERANTER MONARCH
IN DER Erinnerung eines griechischen Schriftstellers des 5. Jahrhunderts v. u. Z. war er ein toleranter und idealer Monarch. In der Bibel wird er als Gottes „Gesalbter“ bezeichnet und als ein „Raubvogel“ „vom Sonnenaufgang“ (Jesaja 45:1; 46:11). Der Monarch, von dem die Rede ist, war Cyrus der Große von Persien.
Der ruhmreiche Weg des Cyrus begann etwa 560/559 v. u. Z., als er seinem Vater Kambyses I. auf den Thron von Anschan folgte. Anschan war eine Stadt oder ein Bezirk im alten Persien und unterstand damals der Oberhoheit des medischen Königs Astyages. Cyrus lehnte sich gegen die medische Herrschaft auf und errang recht schnell einen Sieg zufolge des Treuebruchs der Truppen des Astyages. Es gelang ihm, die Meder für sich zu gewinnen, und in der Folge kämpften Meder und Perser gemeinsam unter seiner Führung. So entstand das Medo-Persische Reich, das sein Herrschaftsgebiet mit der Zeit von der Ägäis bis an den Indus ausdehnte. (Siehe die Karte.)
Cyrus unterwarf sich zunächst mit den vereinten Streitkräften der Meder und Perser eine Krisenregion: den westlichen Teil Mediens, wohin der lydische König Krösus sein Herrschaftsgebiet ausgedehnt hatte. Cyrus rückte bis an die Ostgrenze des Lydischen Reiches in Kleinasien vor, er besiegte Krösus und eroberte dessen Hauptstadt Sardes. Anschließend unterwarf er die ionischen Städte und verleibte ganz Kleinasien dem Medo-Persischen Reich ein. Dadurch wurde er der Hauptrivale Babylons und seines Königs Nabonid.
Nun rüstete sich Cyrus für eine Auseinandersetzung mit dem mächtigen Babylon. Und von da an spielte er bei der Erfüllung biblischer Prophezeiungen eine Rolle. Fast 200 Jahre im voraus hatte Jehova durch den Propheten Jesaja Cyrus namentlich als den Herrscher erwähnen lassen, der Babylon stürzen und die Juden aus der Gefangenschaft befreien würde. Da Cyrus auf diese Weise im voraus bestimmt worden war, wird er in der Heiligen Schrift als der „Gesalbte“ Jehovas bezeichnet (Jesaja 44:26-28).
Als Cyrus im Jahre 539 v. u. Z. gegen Babylon vorrückte, stand er vor einer gewaltigen Aufgabe. Von riesigen Mauern und einem tiefen und breiten Festungsgraben umgeben, der vom Euphrat gespeist wurde, war die Stadt schier uneinnehmbar. Wo der Euphrat durch Babylon floß, war das Ufer von unüberwindlichen Mauern mit riesigen Kupfertoren gesäumt. Wie hätte Cyrus diese Stadt einnehmen können?
Mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte Jehova eine „Verheerung ... über ihren Wassern“ vorausgesagt und erklärt: „Sie sollen ausgetrocknet werden“ (Jeremia 50:38). Dieser Prophezeiung entsprechend leitete Cyrus das Wasser des Euphrat wenige Kilometer nördlich von Babylon ab. Dann rückten seine Soldaten im Flußbett vor, erstiegen die Böschung, über der sich die Mauer erhob, und drangen ohne Schwierigkeit in die Stadt ein, weil man die kupfernen Tore offengelassen hatte. Wie ein „Raubvogel“, der sich mit Schnelligkeit auf sein Opfer stürzt, eroberte dieser Herrscher „vom Sonnenaufgang“ — von Osten — Babylon in einer einzigen Nacht!
Für die Juden in Babylon bedeutete der Sieg des Cyrus, daß die lang erwartete Befreiung aus der Gefangenschaft und das Ende der 70jährigen Verödung ihres Heimatlandes herbeigekommen war. Wie begeistert müssen sie gewesen sein, als ihnen Cyrus durch eine Verordnung gestattete, nach Jerusalem zurückzukehren und den Tempel wieder aufzubauen! Cyrus gab ihnen auch die kostbaren Tempelgeräte zurück, die Nebukadnezar nach Babylon mitgenommen hatte; er erteilte ihnen die königliche Erlaubnis, Bauholz vom Libanon einzuführen, und genehmigte, daß die Baukosten aus Mitteln des Königshauses bestritten wurden (Esra 1:1-11; 6:3-5).
Cyrus verfolgte gegenüber den unterworfenen Völkern im allgemeinen eine Politik der Menschlichkeit und Toleranz. Dieses Verhalten könnte unter anderem auf seine Religion zurückzuführen sein. Er war wahrscheinlich ein Anhänger der Lehren des persischen Propheten Zoroaster (Zarathustra) und verehrte Ahura Masdah, einen Gott, den man sich als den Schöpfer alles Guten dachte. Farhang Mehr schreibt in einem Buch: „Zoroaster stellt Gott als moralische Vollkommenheit dar. Er lehrte die Menschen, Ahura Masdah sei nicht rachsüchtig, sondern gerecht und man sollte ihn daher nicht fürchten, sondern lieben“ (The Zoroastrian Tradition). Der Glaube an einen moralisch einwandfreien und gerechten Gott könnte Cyrus durchaus in seiner moralischen Haltung beeinflußt und ihn zu Edelmut und Fairneß angeregt haben.
Weniger gelassen nahm der König allerdings das Klima in Babylon hin. Die heißen Sommer waren für ihn unerträglich. Deshalb diente ihm Babylon meistens nur im Winter als Hauptstadt, obwohl es eine Königsstadt blieb und auch ein religiöses und kulturelles Zentrum des Weltreiches war. Nach der Eroberung Babylons kehrte Cyrus bald nach Ekbatana zurück, das im Sommer seine Hauptstadt war; es lag mehr als 1 900 Meter über dem Meeresspiegel am Fuß des Alwand. Dort waren die Winter zwar kalt, doch die Sommer sagten Cyrus dafür um so mehr zu. Er baute auch einen eleganten Palast in Pasargadai (in der Nähe von Persepolis), seiner früheren Hauptstadt, etwa 650 Kilometer südöstlich von Ekbatana. Die dortige Residenz diente ihm als Refugium.
Cyrus erwarb sich den Ruf eines tapferen Eroberers und eines toleranten Monarchen. Seine 30jährige Herrschaft endete 530 v. u. Z. mit seinem Tod während eines Feldzugs. Die Nachfolge auf dem persischen Thron trat sein Sohn Kambyses II. an.
WAS HABEN WIR ERKANNT?
• Inwiefern erwies sich Cyrus, der Perser, als der „Gesalbte“ Jehovas?
• Welchen wertvollen Dienst leistete Cyrus dem Volk Jehovas?
• Wie behandelte Cyrus die unterworfenen Völker?
[Karte]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
MEDO-PERSISCHES WELTREICH
MAKEDONIEN
Memphis
ÄGYPTEN
ÄTHIOPIEN
Jerusalem
Babylon
Ekbatana
Susa
Persepolis
INDIEN
[Bild]
Das Grab des Cyrus in Pasargadai
[Bild]
Basrelief in Pasargadai, das Cyrus zeigt
[Kasten/Bilder auf Seite 153-161]
EIN JUNGER KÖNIG EROBERT DIE WELT
VOR etwa 2 300 Jahren stand ein blonder Heerführer an der Küste des Mittelmeeres. Er war Anfang 20. Seine Augen waren auf eine Inselstadt gerichtet, die einen knappen Kilometer entfernt lag. Da man sich weigerte, ihn in die Stadt einziehen zu lassen, war der wütende Feldherr entschlossen, sie zu erobern. Wie sah sein Angriffsplan aus? Er wollte einen Damm zur Insel bauen und darauf seine Streitkräfte gegen die Stadt führen. Der Bau des Damms war bereits im Gange.
Da erhielt der junge Heerführer von dem Großkönig des Persischen Reiches eine Botschaft. Der persische Herrscher war bestrebt, Frieden zu schließen, und machte ein außergewöhnliches Angebot: 10 000 Talente Gold (nach heutigem Wert mehr als zwei Milliarden Dollar) und die Hand einer Königstochter sowie die Herrschaft über den gesamten westlichen Teil des persischen Weltreiches. Das alles wurde dem Feldherrn für die Rückgabe der Angehörigen des Königs angeboten, die er in seine Gewalt gebracht hatte.
Der Befehlshaber, der vor der Entscheidung stand, dieses Angebot anzunehmen oder abzulehnen, war Alexander III. von Makedonien. Sollte er das Angebot akzeptieren? „Das war die Schicksalsstunde für die antike Welt!“ schreibt der Historiker Ulrich Wilcken. „Die Nachwirkungen dieser Entscheidung reichen durchs Mittelalter hindurch bis in unsere Tage, im Morgenlande ebenso wie im Abendlande.“ Bevor wir auf Alexanders Antwort eingehen, wollen wir uns einmal ansehen, welche Ereignisse zu diesem entscheidenden Augenblick führten.
WIE AUS IHM EIN EROBERER WURDE
Alexander wurde 356 v. u. Z. in Pella (Makedonien) geboren. Sein Vater war König Philipp II. und seine Mutter Olympias. Sie hatte Alexander gelehrt, die makedonischen Könige stammten von Herkules, einem Sohn des griechischen Gottes Zeus, ab. Olympias bezeichnete Achilles, den Helden des von Homer verfaßten Gedichts Ilias, als Vorfahren Alexanders. Der junge Alexander, dem seine Eltern auf diese Weise das Streben nach Eroberungen und königlicher Ehre eingeflößt hatten, interessierte sich kaum für etwas anderes. Als man ihn einmal fragte, ob er Lust habe, sich an einem Wettlauf in Olympia zu beteiligen, entgegnete er, nur wenn seine Rivalen Könige wären. Sein Ehrgeiz war es, Größeres zu vollbringen als sein Vater und durch Leistungen zu Ehren zu gelangen.
Mit 13 Jahren wurde er von dem griechischen Philosophen Aristoteles erzogen, der bei ihm Interesse an Philosophie, Medizin und Wissenschaft weckte. Inwieweit Alexanders Denken von den philosophischen Lehren des Aristoteles geprägt wurde, ist immer noch strittig. „Jedoch scheint sicher zu sein, daß es nicht das Geringste gab, worin die beiden hätten völlig übereinstimmen können“, schrieb Bertrand Russell, Philosoph des 20. Jahrhunderts. „Aristoteles’ politische Ansichten basierten auf dem griechischen Stadtstaat, welcher schon keine Lösung mehr sein konnte.“ Die Vorstellung, einen kleinen Stadtstaat zu regieren, sagte einem ehrgeizigen Fürsten, der ein zentralisiertes Großreich schaffen wollte, nicht zu. Auch gegenüber der Aristotelischen Weisung, Nichtgriechen wie Sklaven zu behandeln, muß Alexander skeptisch gewesen sein, denn ihm schwebte ein Reich vor, in dem zwischen Siegern und Besiegten die Partnerschaft gedieh.
Unumstritten ist jedoch, daß Aristoteles bei Alexander das Interesse am Lesen und Lernen weckte. Zeit seines Lebens las Alexander gern; besonders angetan hatten es ihm die Schriften Homers. Man behauptet sogar, er habe die Ilias — alle 15 693 Gedichtzeilen — auswendig gelernt.
Die Erziehung durch Aristoteles fand 340 v. u. Z. ein jähes Ende, als der 16jährige Prinz nach Pella zurückging, um in Abwesenheit seines Vaters Makedonien zu regieren. Und der Kronprinz verlor keine Zeit, sich durch militärische Unternehmungen auszuzeichnen. Zu Philipps Freude schlug er die Rebellion des thrakischen Stammes der Mäder nieder, stürmte ihre Hauptstadt und nannte sie nach sich selbst Alexandropolis.
WEITERE EROBERUNGEN
Nachdem Philipp im Jahre 336 v. u. Z. ermordet worden war, erbte der 20jährige Alexander den Thron von Makedonien. Im Frühjahr 334 v. u. Z. überquerte Alexander den Hellespont (heute Dardanellen) und begann in Asien mit einem kleinen, aber schlagkräftigen Heer von 30 000 Fußsoldaten und 5 000 Reitern einen Eroberungsfeldzug. Begleitet wurde sein Heer von Ingenieuren, Landvermessern, Architekten, Wissenschaftlern und Geschichtsschreibern.
An den Ufern des Granikos im Nordwesten Kleinasiens (der heutigen Türkei) gewann Alexander seine erste Schlacht gegen die Perser. Im Winter unterwarf er den Westen Kleinasiens. Im Herbst des nächsten Jahres fand bei Issos, das im Südosten Kleinasiens lag, die zweite entscheidende Schlacht gegen die Perser statt. Dort trat Darius III., der Großkönig von Persien, mit einem Heer von etwa einer halben Million Mann gegen Alexander an. Selbstsicher hatte Darius auch seine Mutter, seine Frau und weitere Familienangehörige mitgebracht, damit sie Zeuge eines aufsehenerregenden Sieges werden könnten. Die Perser hatten jedoch nicht mit dem plötzlichen und vehementen Angriff der Makedonier gerechnet. So bereiteten Alexanders Streitkräfte dem persischen Heer eine vernichtende Niederlage. Darius floh und ließ seine Angehörigen in der Hand Alexanders zurück.
Statt die fliehenden Perser zu verfolgen, marschierte Alexander südwärts an der Mittelmeerküste entlang und eroberte die Stützpunkte der mächtigen persischen Flotte. Die Inselstadt Tyrus setzte der Invasion allerdings Widerstand entgegen. Entschlossen, die Stadt zu erobern, belagerte Alexander sie sieben Monate. Während der Belagerung traf das bereits erwähnte Friedensangebot des Darius ein, das derart attraktive Zugeständnisse enthielt, daß Parmenion, Alexanders vertrauter Ratgeber, gesagt haben soll: „Wäre ich Alexander, dann würde ich annehmen.“ Worauf der junge Heerführer erwiderte: „Ich würde es auch tun, wenn ich Parmenion wäre.“ Alexander lehnte es ab zu verhandeln, setzte die Belagerung fort und zerstörte im Juli 332 v. u. Z. diese stolze Herrin der Meere.
Jerusalem wurde von Alexander verschont, da es sich ihm ergab. Er stieß weiter nach Süden vor, wo er Gasa eroberte. Ägypten, der persischen Herrschaft überdrüssig, begrüßte ihn als Befreier. In Memphis opferte er dem Apisstier, was ihm das Wohlwollen der ägyptischen Priester eintrug. Auch gründete er die Stadt Alexandria, die Athen später den Rang als Zentrum der Gelehrsamkeit streitig machte und bis auf den heutigen Tag seinen Namen trägt.
Dann zog Alexander nach Nordosten, durchquerte Palästina und marschierte zum Tigris. Im Jahre 331 v. u. Z. kam es zur dritten großen Schlacht gegen die Perser bei Gaugamela, unweit der Ruinen von Ninive. Hier überwältigte Alexander mit seinen 47 000 Mann das reorganisierte persische Heer, das aus mindestens 250 000 Mann bestand. Darius floh und wurde später von seinen eigenen Leuten ermordet.
Vom Sieg beflügelt, wandte sich Alexander südwärts und nahm Babylon, die persische Winterresidenz, ein. Er besetzte auch die Hauptstädte Susa und Persepolis, bemächtigte sich des gewaltigen persischen Staatsschatzes und brannte den großen Palast des Xerxes nieder. Schließlich gelang ihm die Eroberung von Ekbatana, einer weiteren Hauptstadt. Der unaufhaltsam vorwärtsdrängende Eroberer unterwarf anschließend das übrige persische Herrschaftsgebiet und kam auf seinem Weg nach Osten bis an den Indus im heutigen Pakistan.
Mit der Überquerung des Indus stieß Alexander in der persischen Provinz Taxila auf einen ernstzunehmenden Rivalen, den indischen Monarchen Porus. Gegen ihn zog er im Juni 326 v. u. Z. in seine vierte und letzte bedeutende Schlacht. Das 35 000 Mann starke Heer des Porus führte 200 Elefanten mit, die die Pferde der Makedonier schreckten. Es kam zu einer erbitterten und blutigen Schlacht, aber Alexanders Streitkräfte behielten die Oberhand. Porus ergab sich und verbündete sich mit Alexander.
Mehr als acht Jahre waren vergangen, seitdem das makedonische Heer nach Asien übergesetzt hatte; die Soldaten waren erschöpft und hatten Heimweh. Von der erbitterten Schlacht gegen Porus zermürbt, wollten sie nach Hause zurückkehren. Alexander zögerte zwar anfangs, doch gab er ihrem Wunsch nach. Griechenland war tatsächlich Weltmacht geworden. In den besiegten Ländern bildeten sich griechische Kolonien, und die griechische Sprache und Kultur verbreitete sich im gesamten Herrschaftsgebiet.
DER MENSCH HINTER DEM SCHILD
Was das makedonische Heer in all den siegreichen Jahren zusammenhielt, war die Persönlichkeit Alexanders. Nach einer Schlacht besuchte Alexander gewöhnlich die Verwundeten, sah sich ihre Wunden an, lobte die Soldaten für ihre Tapferkeit und ehrte sie durch Geschenke entsprechend ihren Taten. Gefallene ließ er mit den üblichen Ehren bestatten. Die Eltern und Kinder von Gefallenen befreite er von allen Steuern und persönlichen Frondiensten. Nach einer Schlacht veranstaltete Alexander für seine Leute Spiele und Wettkämpfe. Einmal gab er sogar Männern, die kurz zuvor geheiratet hatten, Urlaub, so daß sie den Winter mit ihrer Frau in Makedonien verbringen konnten. Solche Handlungen trugen ihm die Liebe und Bewunderung seiner Männer ein.
Über Alexanders Ehe mit der baktrischen Prinzessin Roxane schrieb der griechische Biograph Plutarch: „So ergab sich auch seine Verbindung mit Roxane zwar aus der Liebe, von der er erfaßt wurde, als er sie schön und jugendfrisch bei einem Festmahl im Reigen tanzen sah, sie fügte sich aber auch wohl in sein politisches Programm. Denn die Barbaren begannen infolge der geschlossenen ehelichen Verbindung Vertrauen zu haben und vergötterten Alexander, weil er auf diesem Gebiete so außerordentlich beherrscht war und auch die einzige Frau, die ihn bezwungen hatte, nicht ohne Einhaltung der gesetzlichen Form zu berühren wagte.“
Auch vor der Ehe anderer zeigte Alexander Respekt. Die Gemahlin des Königs Darius gehörte zwar zu seinen Gefangenen, doch sorgte er dafür, daß sie ehrenhaft behandelt wurde. Als ihm zu Ohren kam, zwei makedonische Soldaten hätten die Frauen einiger Söldner geschändet, erteilte er den Befehl, die beiden hinzurichten, falls sie für schuldig befunden würden.
Alexander war wie seine Mutter Olympias sehr religiös. Er opferte vor und nach einer Schlacht und befragte seine Wahrsager über die Bedeutung bestimmter Vorzeichen. Auch das Orakel des Ammon in Libyen suchte er auf. Und in Babylon opferte er gemäß den Anweisungen der Chaldäer besonders dem babylonischen Gott Bel (Marduk).
Zwar aß Alexander nicht übermäßig viel, doch sprach er mit der Zeit dem Wein allzusehr zu. Bei jedem Becher führte er lange Unterhaltungen und prahlte mit seinen Erfolgen. Eine der schändlichsten Taten beging Alexander, als er, vom Wein erhitzt, im Zorn seinen Freund Kleitos umbrachte. Aber er bereute diese Tat so sehr, daß er drei Tage im Bett lag und keine Speise anrührte. Schließlich konnten ihn seine Vertrauten dazu bewegen, wieder zu essen.
Im Laufe der Zeit zeigte Alexander in seiner Ehrsucht noch andere äußerst abstoßende Züge. Er schenkte Verleumdungen vorbehaltlos Glauben und verhängte härteste Strafen. Als man zum Beispiel Philotas beschuldigte, in einen Anschlag auf ihn verwickelt gewesen zu sein, ließ er ihn und seinen Vater Parmenion, den Ratgeber, dem er einst vertraut hatte, hinrichten.
ALEXANDERS NIEDERLAGE
Bald nach seiner Rückkehr nach Babylon erkrankte Alexander an Malaria, wovon er sich nicht mehr erholte. Am 13. Juni 323 v. u. Z. mußte er sich im Alter von nur 32 Jahren und 8 Monaten dem gefährlichsten Feind geschlagen geben — dem Tod.
Es erging ihm genau so, wie gewisse indische Weise zu ihm gesagt hatten: „O König Alexander, jeder Mensch hat nur so viel von der Erde inne, wie der Raum groß ist, auf dem wir schreiten. Du aber bist ein Mensch, ähnlich wie die anderen, nur, daß du vielerlei unternimmst und maßlos handelst, wo du aus deiner Heimat über so viele Länder hinwegziehst und dadurch dir und anderen so viel Unruhe machst. Und so wirst du, wenn du in Bälde gestorben bist, so viel von der Erde besitzen, wie als Grab für deinen Körper ausreicht.“
WAS HABEN WIR ERKANNT?
• Was ist über Herkunft und Erziehung Alexanders des Großen bekannt?
• In welchen Feldzug stürzte sich Alexander schon bald, nachdem er den makedonischen Thron geerbt hatte?
• Beschreibe einige Eroberungen Alexanders.
• Was ist über Alexanders Persönlichkeit zu sagen?
[Karte]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
VON ALEXANDER EROBERTE GEBIETE
MAKEDONIEN
ÄGYPTEN
Babylon
Indus
[Bild]
Alexander
[Bild]
Aristoteles mit seinem Schüler Alexander
[Ganzseitiges Bild]
[Bild]
Münze, angeblich mit dem Bildnis Alexanders des Großen
[Kasten/Bilder auf Seite 162, 163]
EIN RIESIGES REICH WIRD AUFGETEILT
WAS das Königreich Alexanders des Großen betrifft, sagte die Bibel voraus, es werde „zerbrochen“ und „verteilt“, „doch nicht an seine Nachkommenschaft“ (Daniel 11:3, 4). Dieser Voraussage entsprechend wurden innerhalb von 14 Jahren nach Alexanders plötzlichem Tod (323 v. u. Z.) sowohl sein legitimer Sohn Alexander IV. als auch sein illegitimer Sohn Herakles ermordet.
Bis zum Jahre 301 v. u. Z. hatten vier der Heerführer Alexanders ihre Macht über bestimmte Teile des riesigen von ihrem Oberbefehlshaber geschaffenen Imperiums gefestigt. Kassander übernahm Makedonien und Griechenland. Lysimachos erhielt Kleinasien und Thrakien. An Seleukos I. Nikator fielen Mesopotamien und Syrien. Und Ptolemaios Lagi oder Ptolemaios I. herrschte über Ägypten und Palästina. So entstanden aus Alexanders Großreich vier hellenistische oder griechisch beeinflußte Königreiche.
Von den Machthabern in den vier hellenistischen Königreichen herrschte Kassander am kürzesten. Schon wenige Jahre nach seinem Machtantritt starb seine männliche Geschlechtslinie aus, und Lysimachos nahm 285 v. u. Z. den europäischen Teil des Griechischen Reiches in Besitz. Vier Jahre danach fiel Lysimachos in einer Schlacht gegen Seleukos I. Nikator, wodurch dieser die Herrschaft über den größten Teil der asiatischen Gebiete erlangte. Seleukos war der erste König der Seleukidendynastie in Syrien. Er gründete Antiochia in Syrien und machte es zu seiner neuen Hauptstadt. Im Jahre 281 v. u. Z. wurde Seleukos ermordet, doch die von ihm gegründete Dynastie blieb bis 64 v. u. Z. an der Macht, als der römische Heerführer Pompejus Syrien dem Römischen Reich als Provinz einverleibte.
Von den vier Teilen des Weltreiches Alexanders bestand das ptolemäische Königreich am längsten. Ptolemaios I. nahm 305 v. u. Z. den Titel König an und war der erste makedonische König oder Pharao Ägyptens. Alexandria machte er zu seiner Hauptstadt und begann sogleich mit einem Programm zum Ausbau der Stadt. Eines seiner größten Bauprojekte war die berühmte Alexandrinische Bibliothek. Die Aufsicht über dieses grandiose Projekt übertrug Ptolemaios dem aus Griechenland kommenden bekannten athenischen Gelehrten Demetrios Phalereus. Wie es heißt, waren im 1. Jahrhundert u. Z. in der Bibliothek eine Million Schriftrollen untergebracht. Die ptolemäische Dynastie herrschte so lange, bis im Jahre 30 v. u. Z. Ägypten an Rom fiel, das daraufhin als Weltmacht an die Stelle Griechenlands trat.
WAS HABEN WIR ERKANNT?
• Wie wurde Alexanders riesiges Reich aufgeteilt?
• Wie lange herrschte die Dynastie der Seleukidenkönige in Syrien?
• Wann hörte das Ptolemäische Reich in Ägypten zu bestehen auf?
[Karte]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
ALEXANDERS REICH AUFGETEILT
Kassander
Lysimachos
Ptolemaios I.
Seleukos I.
[Bilder]
Ptolemaios I.
Seleukos I.
[Diagramm/Bild auf Seite 139]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
WELTMÄCHTE DER PROPHEZEIUNG DANIELS
Das riesige Standbild (Daniel 2:31-45)
Vier Tiere aus dem Meer (Daniel 7:3-8, 17, 25)
BABYLONIEN ab 607 v. u. Z.
MEDO-PERSIEN ab 539 v. u. Z.
GRIECHENLAND ab 331 v. u. Z.
ROM ab 30 v. u. Z.
ANGLO-AMERIKANISCHE WELTMACHT ab 1763 u. Z.
POLITISCH GESPALTENE WELT in der Zeit des Endes
[Ganzseitiges Bild auf Seite 128]
[Ganzseitiges Bild auf Seite 147]