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Das „Untersuchungsgericht“ — Eine biblische Lehre?Der Wachtturm 1997 | 15. Juli
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Der entscheidende Text, der als Stütze für diese Lehre angeführt wird, ist Daniel 8:14, wo es gemäß der King James Version heißt: „Er sagte zu mir: Bis zweitausenddreihundert Tage; dann wird das Heiligtum gereinigt werden.“ (Siehe auch Allioli und Rießler/Storr.) Wegen des Satzteils „dann wird das Heiligtum gereinigt werden“ bringen viele Adventisten diesen Vers mit 3. Mose, Kapitel 16 in Verbindung, wo von der Reinigung des Heiligtums die Rede ist, die der jüdische Hohepriester am Sühnetag (Versöhnungstag) vornahm. Auch bringt man Daniels Worte mit Hebräer, Kapitel 9 in Zusammenhang, wo Jesus als der große Hohepriester im Himmel beschrieben wird. Wie ein STA-Gelehrter erklärt, beruhe diese Argumentation auf der „Beweistext“methode. Man finde „ein bestimmtes Wort wie Heiligtum in Dan. 8:14, dasselbe Wort in 3. Mo. 16, dasselbe Wort in Heb. 7, 8, 9“ und nehme an, „daß jedesmal von ein und derselben Sache die Rede ist“.
Die Adventisten gehen von folgender Überlegung aus: Die Priester im alten Israel verrichteten in dem Tempelabteil, das als das Heilige bezeichnet wurde, einen täglichen Dienst, der die Vergebung von Sünden bewirkte. Am Sühnetag verrichtete der Hohepriester einen jährlichen Dienst im Allerheiligsten (im innersten Raum des Tempels), der zur Sündentilgung führte. Sie kommen zu dem Schluß, Christi priesterlicher Dienst im Himmel bestehe aus zwei Phasen. Die erste Phase habe mit seiner Himmelfahrt im ersten Jahrhundert begonnen, 1844 habe sie geendet und zur Sündenvergebung geführt. Die zweite Phase oder die „Gerichtsphase“ habe am 22. Oktober 1844 begonnen, sie dauere immer noch an und führe schließlich zur Sündentilgung. Wie geht das vor sich?
Man sagt, Jesus prüfe seit 1844 den Bericht über das Leben all derer, die sich jemals als Gläubige bekannt haben (zuerst den der Toten, dann den der Lebenden), um festzustellen, ob sie ewiges Leben verdienen. Diese Prüfung sei das „Untersuchungsgericht“. Nachdem die Menschen so gerichtet worden seien, würden die Sünden derer, die bei dieser Prüfung günstig beurteilt werden, aus den Berichtsbüchern getilgt. Die Namen derer, die die Prüfung nicht bestehen, so erklärte Ellen White, würden dagegen aus dem Lebensbuch gelöscht werden. Auf diese Weise werde „das Schicksal aller Menschen zum Leben oder zum Tod entschieden sein“. Zu diesem Zeitpunkt sei das himmlische Heiligtum gereinigt, und es erfülle sich Daniel 8:14. So lautet die Lehre der Siebenten-Tags-Adventisten. In ihrer Publikation Adventist Review wird allerdings eingeräumt: „Der Ausdruck Untersuchungsgericht ist in der Bibel nicht zu finden.“
Ein fehlendes sprachliches Bindeglied
Einigen Adventisten bereitet diese Lehre Kopfzerbrechen. Ein Beobachter bemerkt: „Die Geschichte zeigt, daß loyale Führer in unseren Reihen zutiefst beunruhigt waren, als sie über unsere traditionelle Lehre vom Untersuchungsgericht nachdachten.“ In den letzten Jahren seien, wie er hinzufügt, aus der Unruhe Zweifel geworden, da Gelehrte begonnen haben, „mehrere Stützen für unsere übliche Darstellung des Heiligtums in Frage zu stellen“. Betrachten wir nun zwei davon etwas eingehender.
Die erste Stütze: Man bringt Daniel, Kapitel 8 mit 3. Mose, Kapitel 16 in Verbindung. Diese Prämisse wird im wesentlichen durch zwei Probleme ins Wanken gebracht — durch die Sprache und durch den Kontext. Gehen wir zunächst auf die Sprache ein. Adventisten glauben, das in Daniel, Kapitel 8 erwähnte ‘gereinigte Heiligtum’ sei das Gegenbild des ‘gereinigten Heiligtums’, das in 3. Mose, Kapitel 16 erwähnt wird. Diese Analogie erschien so lange akzeptabel, bis Übersetzer herausfanden, daß es sich bei dem Wort „gereinigt“ in der King James Version um eine falsche Wiedergabe einer Form des hebräischen Verbs zadáq („gerecht sein“) handelt, das in Daniel 8:14 gebraucht wird. Der Theologieprofessor Dr. Anthony A. Hoekema bemerkt: „Unglücklicherweise hat man das Wort mit gereinigt werden übersetzt, obwohl das hebräische Verb, das gewöhnlich mit gereinigt [tahér] wiedergegeben wird, hier überhaupt nicht verwendet wird.“a Dieses Verb wird aber in 3. Mose, Kapitel 16 gebraucht, und in der King James Version werden Formen davon mit „reinigen“ und „rein sein“ übersetzt (3. Mose 16:19, 30). Dr. Hoekema schlußfolgert daher richtig: „Wenn Daniel die Art des Reinigens gemeint hätte, die am Versöhnungstag [Sühnetag] vorgenommen wurde, hätte er tahér gebraucht an Stelle von zadáq.“ Aber zadáq kommt in 3. Mose nicht vor und tahér nicht in Daniel. Die sprachliche Verbindung fehlt also.
Was läßt der Kontext erkennen?
Sehen wir uns jetzt den Kontext an. Adventisten behaupten, Daniel 8:14 sei „eine Insel im Kontext“ und habe nichts mit den vorangehenden Versen zu tun. Entsteht aber dieser Eindruck, wenn man in dem nebenstehenden Kasten, betitelt „Daniel 8:14 im Kontext“, die Verse 9 bis 14 liest? In Vers 9 wird ein Aggressor erwähnt, ein kleines Horn. Die Verse 10 bis 12 zeigen, daß dieser Aggressor das Heiligtum angreifen wird. In Vers 13 wird die Frage aufgeworfen, wie lange diese Aggression dauern werde. Und in Vers 14 folgt die Antwort: „Bis zu zweitausenddreihundert Abenden und Morgen; und die heilige Stätte wird gewiß in ihren rechten Zustand gebracht werden.“ Offensichtlich wird in Vers 13 eine Frage gestellt, die in Vers 14 beantwortet wird. Der Theologe Desmond Ford sagt: „Daniel 8:14 von diesem Ruf [„Wie lange?“, Vers 13] zu lösen heißt, exegetisch ankerlos auf hoher See zu treiben.“b
Warum lösen die Adventisten Vers 14 aus dem Kontext heraus? Um eine unangenehme Schlußfolgerung zu umgehen. Der Kontext schreibt die Verunreinigung des in Vers 14 erwähnten Heiligtums dem Wirken des kleinen Horns zu. Aber gemäß der Lehre vom „Untersuchungsgericht“ hängt die Verunreinigung des Heiligtums mit dem Wirken Christi zusammen. Durch ihn sollen die Sünden der Gläubigen auf das himmlische Heiligtum übertragen werden. Was wäre denn die Folge, wenn die Adventisten sowohl diese Lehre als auch den Kontext akzeptieren würden? Dr. Raymond F. Cottrell, ein Siebenten-Tags-Adventist und früherer Mitherausgeber des SDA Bible Commentary, schreibt: „Uns einzureden, die STA-Auslegung lese Daniel 8:14 im Kontext, würde bedeuten, das kleine Horn als Christus zu identifizieren.“ Dr. Cottrell gibt ehrlich zu: „Wir können den Kontext nicht mit der adventistischen Auslegung in Übereinstimmung bringen.“ Bei der Lehre vom „Untersuchungsgericht“ stand die Gemeinschaft der Adventisten vor der Wahl, entweder die Lehre gelten zu lassen oder den Kontext von Daniel 8:14. Leider entschied man sich für die Lehre und damit gegen den Kontext. Kein Wunder, wie Dr. Cottrell sagte, daß gutunterrichtete Erforscher der Bibel den Adventisten vorwerfen, „etwas in die Schrift hineinzulesen“, was „der Schrift nicht zu entnehmen ist“.
Im Jahre 1967 arbeitete Dr. Cottrell für die Sabbatschule eine Lektion über Daniel aus, die an STA-Gemeinden auf der ganzen Erde gesandt wurde. Darin hieß es, Daniel 8:14 stehe mit dem Kontext in Verbindung und das ‘Reinigen’ beziehe sich nicht auf Gläubige. Das „Untersuchungsgericht“ wird in der Lektion bezeichnenderweise mit keinem Wort erwähnt.
Einige bemerkenswerte Antworten
Inwieweit ist Adventisten bewußt, daß die Stütze für die Lehre vom „Untersuchungsgericht“ zu schwach ist? Dr. Cottrell stellte 27 führenden STA-Theologen die Frage: „Welche linguistischen oder kontextuellen Begründungen können für die Verbindung von Daniel, Kapitel 8 mit 3. Mose, Kapitel 16 angeführt werden?“ Wie lautete ihre Antwort?
„Alle 27 bestätigten die Nichtexistenz irgendwelcher linguistischen oder kontextuellen Begründungen dafür, Dan. 8:14 auf den gegenbildlichen Versöhnungstag und auf das Untersuchungsgericht zu beziehen.“ Dr. Cottrell fragte die adventistischen Gelehrten auch: „Gibt es irgendwelche anderen Begründungen, diese Verbindung herzustellen?“ Die meisten erklärten, sie hätten keine anderen Begründungen, fünf antworteten, sie stellten diese Verbindung her, weil es Ellen White getan hatte, und zwei sagten, sie stützten die Lehre auf einen „glücklichen Zufall“ bei der Übersetzung. Der Theologe Dr. Desmond Ford bemerkte: „Diese von der Elite unserer Gelehrten gezogenen Schlußfolgerungen besagen praktisch, daß unsere traditionelle Lehre in bezug auf Dan. 8:14 unhaltbar ist.“
Liefert der Hebräerbrief eine Stütze?
Die zweite Stütze: Man bringt Daniel 8:14 mit Hebräer, Kapitel 9 in Verbindung. „Alle unsere frühen Werke beziehen sich bei Erklärungen von Dan. 8:14 hauptsächlich auf Heb. 9“, führt Dr. Ford aus. Diese Verbindung wurde nach der „großen Enttäuschung“ im Jahre 1844 hergestellt. Auf der Suche nach Anleitung ließ der Millerit Hiram Edson seine Bibel so auf einen Tisch fallen, daß sie aufgeschlagen liegenblieb. An welcher Stelle war sie aufgeschlagen? Sein Blick fiel auf Hebräer, Kapitel 8 und 9. Ford sagt: „Was könnte passender und von größerer Symbolik für die adventistische Behauptung sein, daß diese Kapitel den Schlüssel für die Bedeutung von 1844 und Dan. 8:14 enthielten!“
„Diese Behauptung ist für die Siebenten-Tags-Adventisten entscheidend“, schreibt Dr. Ford weiter in seinem Buch Daniel 8:14, the Day of Atonement, and the Investigative Judgment (Daniel 8:14, der Sühnetag und das Untersuchungsgericht). „Nur in Heb. 9 ... ist eine ausführliche Erklärung über die Bedeutung ... der für uns so wichtigen Heiligtumslehre zu finden.“ Hebräer, Kapitel 9 ist tatsächlich das Kapitel im „Neuen Testament“, das die prophetische Bedeutung von 3. Mose, Kapitel 16 erklärt. Aber die Adventisten sagen auch, Daniel 8:14 sei im „Alten Testament“ der Vers, der dies erkläre. Wenn beide Aussagen stimmen, muß es auch eine Verbindung zwischen Hebräer, Kapitel 9 und Daniel, Kapitel 8 geben.
Dr. Ford stellt fest: „Bestimmte Dinge treten sogleich hervor, wenn man Heb. 9 liest. Es gibt keine offensichtliche Bezugnahme auf das Buch Daniel und mit Sicherheit keine auf Dan. 8:14. ... Das Kapitel als Ganzes ist eine Bezugnahme auf 3. Mose 16.“ Er schreibt: „Unsere Lehre vom Heiligtum ist in dem einzigen Buch des Neuen Testaments, in dem die Bedeutung der Dienste im Heiligtum besprochen wird, nicht zu finden. Das geben bekannte adventistische Autoren in der ganzen Welt zu.“ Somit ist die zweite Stütze der ins Wanken geratenen Lehre ebenfalls zu schwach.
Aber diese Schlußfolgerung ist nichts Neues. Seit vielen Jahren, wie Dr. Cottrell sagt, „sind sich Bibelgelehrte der Gemeinschaft durchaus der exegetischen Probleme bewußt, auf die unsere traditionelle Auslegung von Daniel 8:14 und Hebräer 9 stößt“. Vor etwa 80 Jahren schrieb der einflußreiche Siebenten-Tags-Adventist E. J. Waggoner: „Durch die adventistische Lehre von dem Heiligtum und seinem ‚Untersuchungsgericht‘ ... wird praktisch die Versöhnung geleugnet“ (Confession of Faith). Vor mehr als 30 Jahren wurden diese Probleme der Generalkonferenz, dem obersten Gremium der STA-Gemeinden, vorgelegt.
Die Probleme führen in eine Sackgasse
Die Generalkonferenz setzte einen „Ausschuß für die Probleme im Buch Daniel“ ein. Er sollte einen Bericht darüber ausarbeiten, wie die Schwierigkeiten in Verbindung mit Daniel 8:14 zu lösen seien. Die 14 Ausschußmitglieder befaßten sich fünf Jahre lang mit dieser Frage, kamen aber zu keinem einmütigen Lösungsvorschlag. 1980 erklärte Cottrell, der dem Ausschuß angehörte, die meisten Mitglieder seien der Ansicht, die adventistische Auslegung von Daniel 8:14 könne durch mehrere „Annahmen“ „zufriedenstellend bewiesen“ werden und die Probleme „sollte man vergessen“. Weiter sagte er: „Man bedenke: Der Ausschuß hieß ‚Ausschuß für die Probleme im Buch Daniel‘, und die Mehrheit regte an, wir sollten die Probleme vergessen und sie nicht mehr ansprechen.“ Das wäre, wie er sagte, gleichbedeutend gewesen mit dem „Eingeständnis, daß wir keine Lösungen hatten“. Deshalb lehnte es die Minderheit ab, den Mehrheitsstandpunkt zu stützen, und es gab keinen formellen Bericht. Die Probleme in bezug auf die Glaubenslehre blieben ungelöst.
Diese Sackgasse betreffend, erklärte Dr. Cottrell: „Die Streitfrage bezüglich Daniel 8:14 besteht für uns immer noch, weil wir bis jetzt nicht willens gewesen sind, uns der Tatsache zu stellen, daß es ein sehr reales exegetisches Problem gibt. Diese Streitfrage wird nicht ausgeräumt, solange wir uns vormachen, es gebe kein Problem, und solange wir darauf bestehen, als einzelne und als Gesamtheit den Kopf in den Sand unserer vorgefaßten Meinungen zu stecken“ (Spectrum, eine von der Association of Adventist Forums herausgegebene Zeitschrift).
Wie Dr. Cottrell sagte, gehe es für die Adventisten darum, „die grundlegenden Annahmen und Prinzipien der Exegese, auf die wir unsere Auslegung dieser — für Adventisten — unentbehrlichen Schriftpassage stützen, nochmals sorgfältig zu prüfen“. Wir möchten Adventisten ermuntern, die Lehre vom „Untersuchungsgericht“ zu prüfen, um zu sehen, ob ihre Stützen fest auf der Bibel ruhen oder im instabilen Sand der Tradition.c Der Apostel Paulus schrieb die weisen Worte: „Vergewissert euch aller Dinge; haltet an dem fest, was vortrefflich ist“ (1. Thessalonicher 5:21).
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Das „Untersuchungsgericht“ — Eine biblische Lehre?Der Wachtturm 1997 | 15. Juli
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Daniel 8:14 im Kontext
DANIEL 8:9 „Und aus einem von ihnen kam ein anderes Horn hervor, ein kleines, und es wurde ständig sehr viel größer nach Süden und nach Sonnenaufgang und nach der ‚Zierde‘ hin. 10 Und es wurde ständig größer bis zum Heer der Himmel, so daß es einige vom Heer und einige von den Sternen zur Erde fallen ließ, und es zertrat sie dann. 11 Und bis zum Fürsten des Heeres tat es groß, und das beständige Opfer wurde von ihm weggenommen, und die feste Stätte seines Heiligtums wurde niedergeworfen. 12 Und ein Heer selbst wurde allmählich übergeben, zusammen mit dem beständigen Opfer, wegen der Übertretung; und es warf die Wahrheit fortgesetzt zur Erde, und es handelte und hatte Gelingen.
13 Und ich hörte schließlich einen gewissen Heiligen reden, und ein anderer Heiliger sprach dann zu dem Betreffenden, der redete: ‚Wie lange wird die Vision von dem beständigen Opfer und von der Übertretung, die Verwüstung verursacht, dauern, um sowohl die heilige Stätte als auch das Heer zu Dingen der Zertretung zu machen?‘ 14 Daher sagte er zu mir: ‚Bis zu zweitausenddreihundert Abenden und Morgen; und die heilige Stätte wird gewiß in ihren rechten Zustand gebracht werden‘ “ (Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift).
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