BARMHERZIGKEIT, ERBARMUNG
Ein Ausdruck freundlicher Rücksichtnahme oder des Mitleids, der den Benachteiligten Erleichterung verschafft; zärtliches Mitgefühl; manchmal auch eine Milderung eines Urteils oder einer Strafe.
Barmherzigkeit ist häufig die Wiedergabe des hebräischen Wortes rachamím und des griechischen Wortes éleos (Verb eleéō). Eine Untersuchung dieser Begriffe und ihres Gebrauchs wird dazu beitragen, die umfassende Bedeutung und den wahren Sinn zu erfassen. Das hebräische Verb rachám wird wie folgt definiert: „glühen, vor inniger Gefühlsregung herzlich mitempfinden; ... erbarmungsvoll sein“ (A Hebrew and Chaldee Lexicon, herausgegeben von B. Davies, 1957, S. 590). Der Lexikograf Gesenius nimmt an, dass das Wort in erster Linie den Gedanken eines liebevollen Sichsorgens, Besänftigens und eines milden oder sanften Sinnes vermittelt (W. Gesenius, Thesaurus Philologicus Criticus Linguae Hebraeae et Chaldaeae Veteris Testamenti, Bd. 3, Leipzig 1842, S. 1282). Der Begriff ist nahe verwandt mit dem hebräischen Wort für „Mutterleib“; oder er kann sich auch auf „Eingeweide“ beziehen, die von Mitgefühl oder Erbarmen berührt werden. (Vgl. Jes 63:15, 16; Jer 31:20.)
In der Bibel wird rachám nur ein Mal von einem Menschen in Bezug auf Gott gebraucht, indem der Psalmist sagt: „Ich werde Zuneigung zu dir haben [eine Form von rachám], o Jehova, meine Stärke“ (Ps 18:1). Von Mensch zu Mensch bekundete Joseph diese Eigenschaft, als „seine inneren Empfindungen [eine Form von rachamím]“ gegenüber seinem Bruder Benjamin erregt waren und er seinen Tränen freien Lauf ließ (1Mo 43:29, 30; vgl. 1Kö 3:25, 26). Wenn Menschen damit rechneten, von Feinden, die sie wegführten (1Kö 8:50; Jer 42:10-12), oder Regierungsbeamten (1Mo 43:14; Ne 1:11; Da 1:9) grob oder gefühllos behandelt zu werden, so beteten sie und wünschten sich sehnlich, dass sie vor solchen Personen zum Gegenstand des Erbarmens würden und sich folglich die Art, wie man mit ihnen verfahren würde, durch Gunst, Milde und Rücksichtnahme auszeichnen würde. (Vgl. Jes 13:17, 18.)
Jehovas Barmherzigkeit. Dieser Begriff wird hauptsächlich gebraucht, wenn beschrieben wird, wie Jehova mit seinem Bundesvolk gehandelt hat. Gottes Erweisen von Mitleid oder Erbarmen (rachám) den Angehörigen dieses Volkes gegenüber wird damit verglichen, wie sich eine Frau ihrer eigenen Kinder erbarmt, die sie im Mutterleib getragen hat, und mit der Barmherzigkeit eines Vaters seinen Söhnen gegenüber (Jes 49:15; Ps 103:13). Da die Nation Israel häufig von der Gerechtigkeit abwich und in große Not geriet, war sie besonders auf Barmherzigkeit angewiesen. Wenn die Israeliten die richtige Herzenseinstellung zeigten und zu Jehova umkehrten, würde er ihnen gegenüber Mitleid bekunden und ihnen Gunst und Wohlwollen erweisen, obwohl er zuvor über sie zornig gewesen war (5Mo 13:17; 30:3; Ps 102:13; Jes 54:7-10; 60:10). Dadurch, dass er seinen Sohn sandte, damit er in Israel geboren werde, wurde der Beweis erbracht, dass ein künftiger „Tagesanbruch“ göttlichen Erbarmens und göttlicher Barmherzigkeit für Israel kommen würde (Luk 1:50-58, 72-78).
Das griechische Wort éleos hat zum Teil die gleiche Bedeutung wie das hebräische Wort rachamím. In dem Werk Vine’s Expository Dictionary of Old and New Testament Words (1981) heißt es: „ELEOS (ἔλεος) ‚ist die äußerliche Kundgabe von Mitleid; es setzt ein Bedürfnis aufseiten dessen voraus, dem es erwiesen wird, und aufseiten dessen, der es bekundet, die Mittel, dieses Bedürfnis zu befriedigen.‘“ Das Verb (eleéō) bedeutet im Allgemeinen, „Mitgefühl mit einem anderen zu haben, der sich in einer elenden Lage befindet, und besonders durch die Tat Mitgefühl zu bekunden“ (Bd. 3, S. 60, 61). Daher waren die Blinden, die von Dämonen Besessenen, die Aussätzigen oder die Eltern kranker Kinder unter denen, die Barmherzigkeit und Mitleid (éleos) erweckten (Mat 9:27; 15:22; 17:15; Mar 5:18, 19; Luk 17:12, 13). Als Antwort auf ihr Flehen: „Hab Erbarmen mit uns!“, wirkte Jesus Wunder, um sie von ihren Leiden zu erlösen. Er tat es nicht etwa routinemäßig oder teilnahmslos, sondern „von Mitleid bewegt“ (Mat 20:31, 34). Der Schreiber dieses Evangeliums gebrauchte hier eine Form des Verbs splagchnízomai (sprich: splanchnízomai), das mit splágchna (sprich: splánchna) verwandt ist, was wörtlich „Eingeweide“ bedeutet (Apg 1:18). Das zuletzt genannte Verb bringt das Gefühl von Mitleid zum Ausdruck, wohingegen sich éleos auf die tätige Kundgabe solchen Mitleids bezieht, also auf einen Akt der Barmherzigkeit.
Nicht auf richterliche Handlungen beschränkt. Eng verwandt mit dem Begriff „Barmherzigkeit“ sind im Deutschen die Wörter „Erbarmen“ oder „Erbarmung“. Auch erscheint in Verbindung damit der Ausdruck „Gnade“ – eine gewisse barmherzige Nachsicht oder Zurückhaltung, wie sie z. B. bei einer Bestrafung aufgrund von Mitleid, Erbarmen oder Mitgefühl geübt werden kann. Daher erinnert der Begriff oft an die Rechtsprechung, so z. B., wenn ein Richter einem Verbrecher Gnade erweist, indem er die Strafe mildert. Gott erweist Barmherzigkeit immer in Übereinstimmung mit seinen anderen Eigenschaften wie seiner Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit (Ps 40:11; Hos 2:19) und im Einklang mit seinen gerechten Maßstäben. Da alle Menschen aufgrund der ererbten Sünde deren Lohn, den Tod, verdient haben (Rö 5:12; vgl. Ps 130:3, 4; Da 9:18; Tit 3:5), ist klar zu ersehen, dass in Gottes Barmherzigkeitsbezeigung oft die Verzeihung eines Vergehens oder die Milderung eines Urteils oder einer Strafe mit einbezogen ist (Ps 51:1, 2; 103:3, 4; Da 9:9; Mi 7:18, 19). Den vorangegangenen Erläuterungen kann jedoch entnommen werden, dass sich das hebräische und das griechische Wort (rachamím; éleos) nicht lediglich auf die Vergebung oder die Zurückhaltung einer Bestrafung beschränken. Ein Vergehen zu verzeihen ist an sich nicht die Barmherzigkeit, die im Allgemeinen durch diese Wörter beschrieben wird, sondern vielmehr eröffnet eine solche Vergebung den Weg für die Barmherzigkeit. Beim Erweisen von Barmherzigkeit lässt Gott natürlich niemals seine vollkommenen Maßstäbe der Gerechtigkeit außer Acht. Deshalb hat er die Sündenvergebung möglich gemacht, ohne die Maßstäbe der Gerechtigkeit zu verletzen, indem er das Loskaufsopfer durch seinen Sohn Jesus Christus beschafft hat (Rö 3:25, 26).
Barmherzigkeit bezieht sich demnach in den meisten Fällen nicht auf eine negative Handlung, ein Zurückhalten (von Strafe), sondern auf eine positive Handlung, auf einen Ausdruck freundlicher Rücksichtnahme oder freundlichen Mitleids, was den Benachteiligten, denen, die der Barmherzigkeit bedürfen, Erleichterung verschafft.
Dies wird gut durch Jesu Gleichnis von dem Samariter veranschaulicht, der den Reisenden an der Straßenseite liegen sah, ausgeraubt und halb totgeschlagen. Er erwies sich dem Mann als „Nächster“, weil er, von Mitleid bewegt, „ihm gegenüber barmherzig handelte“, indem er seine Wunden versorgte und sich seiner annahm (Luk 10:29-37). Hierbei ging es nicht um Vergebung von Verfehlungen oder um rechtliche Schritte.
Folglich zeigt die Bibel, dass das Erbarmen Gottes nicht nur zum Tragen kommt, wenn jemand sich wegen einer bestimmten Verfehlung vor Gott verantworten muss. Es ist vielmehr ein charakteristisches Merkmal der Persönlichkeit Jehovas und ist bezeichnend für seine Handlungsweise den Bedürftigen gegenüber – ein Aspekt seiner Liebe (2Ko 1:3; 1Jo 4:8). Er ist nicht so wie die falschen Götter der Nationen – ohne Gefühl und ohne Mitleid. Stattdessen ist Jehova „gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an liebender Güte. Jehova ist gut gegen alle, und seine Erbarmungen sind über alle seine Werke“ (Ps 145:8, 9; vgl. Ps 25:8; 104:14, 15, 20-28; Mat 5:45-48; Apg 14:15-17). Er ist ‘reich an Barmherzigkeit’, und die Weisheit, die von ihm ausgeht, ist „voller Barmherzigkeit“ (Eph 2:4; Jak 3:17). Sein Sohn gab Aufschluss über den Vater (Joh 1:18) durch seine eigene Persönlichkeit, sein Reden und sein Tun. Als viele Menschen zu ihm kamen, um ihm zuzuhören, und noch bevor er ihre Reaktion auf seine Worte erkennen konnte, „ergriff ihn Mitleid [eine Form von splagchnízomai]“, weil sie „zerschunden waren und umhergestoßen wurden wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mar 6:34; Mat 9:36; vgl. Mat 14:14; 15:32).
Das Bedürfnis der Menschheit. Offensichtlich ist die elementarste und größte Unzulänglichkeit der Menschheit in der Sünde begründet, die sie von ihrem Vorvater Adam geerbt hat. Demnach befinden sich alle in einem bedauernswerten Zustand. Die Befreiung davon ist ein dringendes Bedürfnis. Jehova Gott hat der Menschheit als Ganzem Barmherzigkeit erwiesen, indem er das Mittel bereitstellte, damit sie von dieser großen Unzulänglichkeit und deren Auswirkung, nämlich Krankheit und Tod, befreit würde (Mat 20:28; Tit 3:4-7; 1Jo 2:2). Als barmherziger Gott zeigt er Geduld, weil „er nicht will, dass irgendjemand vernichtet werde, sondern will, dass alle zur Reue gelangen“ (2Pe 3:9). Jehova möchte allen Gutes tun (vgl. Jes 30:18, 19) und es ist ihm lieber als der „Tod des Bösen“; „nicht aus seinem eigenen Herzen hat er niedergedrückt, noch betrübt er die Menschensöhne“ wie bei der Vernichtung Judas und Jerusalems (Hes 33:11; Klg 3:31-33). Aufgrund der Hartherzigkeit von Personen, ihrer Halsstarrigkeit und dadurch, dass sie auf seine Gunst und Barmherzigkeit nicht eingehen, sieht er sich genötigt, anders mit ihnen zu verfahren, was dazu führt, dass seine Erbarmungen „verschlossen“ sind und sie nicht mehr erreichen (Ps 77:9; Jer 13:10, 14; Jes 13:9; Rö 2:4-11).
Kein Recht darauf. Obwohl Jehova denen große Barmherzigkeit erweist, die sich ihm in aller Aufrichtigkeit nahen, wird er keinesfalls denen Straffreiheit gewähren, die nicht bereuen und somit wirklich Strafe verdient haben (2Mo 34:6, 7). Niemand kann verlangen, dass Gott ihm gegenüber barmherzig ist, als hätte er gewissermaßen ein Recht darauf. Er kann nicht ungestraft sündigen oder von den natürlichen Folgen und Auswirkungen seiner falschen Handlungsweise verschont bleiben (Gal 6:7, 8; vgl. 4Mo 12:1-3, 9-15; 2Sa 12:9-14). Jehova mag jemandem gegenüber barmherzig sein und Geduld und Langmut erweisen, indem er ihm die Möglichkeit einräumt, seine schlechte Handlungsweise zu korrigieren. Obwohl er also eine solche Handlungsweise tadelt, mag er ihn nicht vollständig verlassen, sondern barmherzigerweise fortfahren, ihm ein gewisses Maß an Hilfe und Leitung zukommen zu lassen. (Vgl. Ne 9:18, 19, 27-31.) Falls er jedoch darauf nicht eingeht, so hat Jehovas Geduld ihre Grenzen, und er wird ihm seine Barmherzigkeit entziehen und um seines Namens willen gegen ihn vorgehen (Jes 9:17; 63:7-10; Jer 16:5-13, 21; vgl. Luk 13:6-9).
Nicht von menschlichen Maßstäben geleitet. Menschen sollten nicht versuchen, ihre eigenen Maßstäbe festzulegen oder Kriterien aufzustellen, nach denen Gott Barmherzigkeit zu zeigen habe. Von seiner erhabenen Position im Himmel aus und im Einklang mit seinem eigenen wunderbaren Vorsatz, mit seiner Weitsicht und seiner Fähigkeit, ins Herz zu sehen, ‘erweist er dem Barmherzigkeit, dem er Barmherzigkeit erweisen möchte’ (2Mo 33:19; Rö 9:15-18; vgl. 2Kö 13:23; Mat 20:12-15). In Römer, Kapitel 11 bespricht der Apostel Paulus, wie Gott auf unvergleichliche Weise Weisheit und Barmherzigkeit gezeigt hat, indem er den Nichtjuden die Möglichkeit eingeräumt hat, in das himmlische Königreich einzugehen. Nichtjuden standen außerhalb des Staatswesens Israels, des Volkes Gottes, und waren daher zuvor nicht Empfänger der Erbarmungen gewesen, die aus dem Bundesverhältnis mit Gott resultierten, und sie hatten auch nicht im Gehorsam gegenüber Gott gelebt. (Vgl. Rö 9:24-26; Hos 2:23.) Paulus erklärt, dass Israel zuerst die Möglichkeit eingeräumt bekam, aber dass die Angehörigen dieses Volkes zum größten Teil ungehorsam waren. Das hatte zur Folge, dass den Nichtjuden der Weg eröffnet wurde, zu dem verheißenen ‘Königreich von Priestern und einer heiligen Nation’ zu gehören (2Mo 19:5, 6). Paulus schlussfolgert: „Denn Gott hat sie alle zusammen [sowohl Juden als auch Nichtjuden] in den Ungehorsam eingeschlossen, damit er ihnen allen Barmherzigkeit erweise.“ Durch das Loskaufsopfer Christi konnte die adamische Sünde, die in allen Menschen wirksam ist, für alle diejenigen beseitigt werden, die glauben (einschließlich der Nichtjuden); und durch seinen Tod am Marterpfahl konnte der Fluch des Gesetzes von all denen, die darunter standen (den Juden), weggetan werden, sodass alle Barmherzigkeit erlangen konnten. Der Apostel ruft aus: „O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege!“ (Rö 11:30-33; Joh 3:16; Kol 2:13, 14; Gal 3:13).
Gottes Barmherzigkeit suchen. Um sich stets der Barmherzigkeit Gottes erfreuen zu können, muss man ihn suchen und einen richtigen Herzenszustand offenbaren, indem man eine falsche Handlungsweise und schädliche Gedanken aufgibt (Jes 55:6, 7). Des Weiteren muss man ihn auf die rechte Art und Weise fürchten und seine gerechten göttlichen Gebote schätzen (Ps 103:13; 119:77, 156, 157; Luk 1:50). Sollte man jemals von dem gerechten Weg, den man eingeschlagen hat, abweichen, so darf man nicht versuchen, die Übertretung zuzudecken, sondern man sollte sie bekennen und echte Reue und von Herzen kommende Traurigkeit bekunden (Ps 51:1, 17; Spr 28:13). Unbedingt notwendig ist es auch, dass man selbst barmherzig ist. Jesus sagte: „Glücklich sind die Barmherzigen, da ihnen Barmherzigkeit erwiesen wird“ (Mat 5:7).
Gaben der Barmherzigkeit. Die Einstellung der Pharisäer anderen gegenüber wurde besonders von ihrer Unbarmherzigkeit geprägt. Deshalb wies Jesus sie mit den Worten zurecht: „Geht also hin und lernt, was dies bedeutet: ‚Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer‘“ (Mat 9:10-13; 12:1-7; vgl. Hos 6:6). Er führte Barmherzigkeit unter den gewichtigeren Dingen des Gesetzes auf (Mat 23:23). Wie bereits erwähnt, kann Barmherzigkeit auch eine richterliche Gnadenbezeigung einschließen, wozu die Pharisäer – vielleicht als Mitglieder des Sanhedrins – möglicherweise Gelegenheit gehabt hatten, doch ist sie nicht darauf beschränkt. Grundsätzlich bezieht sie sich auf das aktive Erweisen von Mitgefühl oder Mitleid, d. h., sie zeigt sich durch Taten. (Vgl. 5Mo 15:7-11.)
Diese Art Barmherzigkeit kann unter anderem dadurch zum Ausdruck kommen, dass jemand materielle Dinge gibt. Eine solche Tat zählt bei Gott jedoch nur dann, wenn sie richtigen Beweggründen entspringt und nicht lediglich der Überlegung, dass man letzten Endes selbst den Nutzen davon hat (Mat 6:1-4). Offensichtlich befanden sich materielle Dinge unter den „Gaben der Barmherzigkeit [eine Form von eleēmosýnē]“, an denen Dorkas überströmend war (Apg 9:36, 39), und zweifellos auch unter den Gaben des Kornelius, die zusammen mit seinen Gebeten bei Gott Beachtung fanden (Apg 10:2, 4, 31). Jesus wies darauf hin, dass das Versäumnis der Pharisäer darin bestand, dass ihre „Gaben der Barmherzigkeit“ nicht aus dem Inneren kamen (Luk 11:41). Echte Barmherzigkeit muss von Herzen kommen.
Jesus und seine Jünger waren besonders dafür bekannt, dass sie geistige Gaben der Barmherzigkeit austeilten, die viel mehr wert waren als materielle Dinge. (Vgl. Joh 6:35; Apg 3:1-8.) Angehörige der Christenversammlung, besonders aber die, die als „Hirten“ dienen (1Pe 5:1, 2), müssen die Eigenschaft der Barmherzigkeit pflegen. Sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht sollten sie Barmherzigkeit „mit Fröhlichkeit“ zeigen und niemals gezwungenermaßen (Rö 12:8). Es mag sein, dass manche in der Versammlung im Glauben schwach und somit in religiöser Hinsicht krank werden. Vielleicht äußern sie sogar Zweifel. Da sie in der Gefahr stehen, in geistiger Hinsicht zu sterben, werden Mitchristen ermahnt, ihnen weiter Barmherzigkeit zu erweisen und sie vor der Vernichtung zu bewahren. Während sie fortfahren, einigen, die unrechte Handlungen begangen haben, Barmherzigkeit zu erweisen, werden sie sorgfältig darauf achten, dass sie nicht selbst der Versuchung erliegen. Sie sollten sich dessen bewusst sein, dass sie nicht nur Gerechtigkeit lieben, sondern auch das Böse hassen müssen. Die Tatsache, dass sie barmherzig sind, bedeutet noch lange nicht, dass sie Schlechtigkeit gutheißen (Jud 22, 23; vgl. 1Jo 5:16, 17; siehe GABEN DER BARMHERZIGKEIT).
„Barmherzigkeit frohlockt triumphierend über das Gericht.“ Der Jünger Jakobus sagte Folgendes: „Denn für den, der nicht Barmherzigkeit übt, wird das Gericht ohne Barmherzigkeit sein. Barmherzigkeit frohlockt triumphierend über das Gericht“ (Jak 2:13). Der Kontext zeigt, dass Jakobus den zuvor erwähnten Gedanken bezüglich der wahren Anbetung fortsetzt. Zur wahren Anbetung würde auch gehören, dass man Barmherzigkeit übt, indem man für die Leidenden sorgt, nicht parteiisch ist und wohlhabende Personen nicht armen vorzieht (Jak 1:27; 2:1-9). Seine Worte danach zeigen das ebenfalls, denn sie handeln von den Bedürfnissen der Brüder, die sich ‘in nacktem Zustand befinden und der für den Tag hinreichenden Speise ermangeln’ (Jak 2:14-17). So stimmen seine Worte mit denjenigen Jesu überein, dass dem Barmherzigen Barmherzigkeit erwiesen werden wird (Mat 5:7; vgl. Mat 6:12; 18:32-35). Wenn Gott Gericht hält, wird er denen, die barmherzig gewesen sind – also anderen Mitleid, Mitgefühl und Erbarmen gezeigt sowie den Bedürftigen geholfen haben –, ebenfalls Barmherzigkeit erweisen. Ihre Barmherzigkeit triumphiert dann sozusagen über jedes negative Urteil, das sie sonst vielleicht empfangen hätten. In dem Buch der Sprüche heißt es: „Wer dem Geringen Gunst erweist, leiht Jehova, und ER wird ihm sein Tun vergelten“ (Spr 19:17). Was Jakobus zum Ausdruck bringt, wird durch viele andere Schrifttexte bestätigt. (Vgl. Hi 31:16-23, 32; Ps 37:21, 26; 112:5; Spr 14:21; 17:5; 21:13; 28:27; 2Ti 1:16, 18; Heb 13:16.)
Die Barmherzigkeit von Gottes Hohem Priester. Im Bibelbuch Hebräer wird erklärt, warum Jesus, der ein weit größerer Hoher Priester ist als die Priester aus der Linie Aarons, ein Mensch werden sowie leiden und sterben musste: „Folglich musste er in allen Beziehungen seinen ‚Brüdern‘ gleich werden, damit er in den Dingen, die Gott betreffen, ein barmherziger und treuer Hoher Priester werde, um für die Sünden des Volkes ein Sühnopfer darzubringen.“ Dadurch, dass er „gelitten hat, als er auf die Probe gestellt wurde, kann er denen zu Hilfe kommen, die auf die Probe gestellt werden“ (Heb 2:17, 18). Alle, die sich durch Jesus an Gott wenden, können dies voller Zuversicht tun, denn sie besitzen den Bericht über das Leben Jesu und über das, was er gesagt und getan hat. „Als Hohen Priester haben wir nicht einen, der nicht mitfühlen kann mit unseren Schwachheiten, sondern einen, der in allem auf die Probe gestellt worden ist wie wir selbst, doch ohne Sünde. Nahen wir uns daher mit Freimut der Rede dem Thron der unverdienten Güte, damit wir Barmherzigkeit erlangen und unverdiente Güte finden mögen als Hilfe zur rechten Zeit“ (Heb 4:15, 16).
Dadurch, dass Jesus sein eigenes Leben opferte, zeigte er im Besonderen seine Barmherzigkeit und Liebe. In seiner Stellung im Himmel als Hoher Priester bewies er wieder, dass er barmherzig ist, so z. B. bei Paulus (Saulus), dem er aufgrund seiner Unwissenheit Barmherzigkeit erwies. Paulus sagte: „Dennoch wurde mir deshalb Barmherzigkeit erwiesen, damit Christus Jesus vornehmlich durch mich seine ganze Langmut als Musterbeispiel für die zeigen könnte, die ihren Glauben zum ewigen Leben in ihn setzen werden“ (1Ti 1:13-16). So, wie den Israeliten von Jesu Vater, Jehova Gott, viele Male Barmherzigkeit erwiesen wurde, indem er sie vor ihren Feinden rettete, sie von ihren Bedrückern befreite und sie somit in einen Zustand des Friedens und des Wohlstands versetzte, so können auch Christen fest auf die Barmherzigkeit hoffen, die durch Gottes Sohn zum Ausdruck gebracht wird. Daher schrieb Judas: „Bewahrt euch selbst in Gottes Liebe, während ihr mit der Aussicht auf ewiges Leben auf die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus wartet“ (Jud 21). Gottes wunderbare Barmherzigkeit, die durch Christus zum Ausdruck kommt, ermuntert wahre Christen, in ihrem Dienst nicht nachzulassen, sondern ihn weiterhin selbstlos durchzuführen (2Ko 4:1, 2).
Barmherzigkeit oder Erbarmung gegenüber Tieren. In Sprüche 12:10 heißt es: „Der Gerechte sorgt für die Seele seines Haustiers, aber die Erbarmungen der Bösen sind grausam.“ Während der Gerechte die Bedürfnisse seiner Tiere kennt und ein Gespür dafür hat, ob es ihnen gut geht, bleiben die Erbarmungen des Bösen völlig unberührt von diesen Bedürfnissen. Die Welt ist heute selbstsüchtig und lieblos, weshalb die Behandlung von Tieren lediglich vom Profit abhängt. Was der Böse als eine angemessene Versorgung ansieht, kann in Wirklichkeit eher eine grausame Behandlung sein. (Vgl. 1Mo 33:12-14.) Dadurch, dass Gott für die Tiere als Teil seiner Schöpfung sorgt, sollten sich gerechte Personen angespornt fühlen, sich um ihre Tiere zu kümmern. (Vgl. 2Mo 20:10; 5Mo 25:4; 22:4, 6, 7; 11:15; Ps 104:14, 27; Jon 4:11.)
Barmherzigkeit, Erbarmung und Güte. Andere Worte, die eng mit den Begriffen rachamím und éleos verwandt sind und häufig damit in Verbindung gebracht werden, sind das hebräische Wort chéßedh (Ps 25:6; 69:16; Jer 16:5; Klg 3:22), das liebende Güte (oder loyale Liebe) bedeutet, und das griechische Wort cháris (1Ti 1:2; Heb 4:16; 2Jo 3), dessen Bedeutung „unverdiente Güte“ ist. chéßedh unterscheidet sich von rachamím insofern, als es die Treue oder die loyale, liebevolle Zuneigung zu dem Empfänger der Güte hervorhebt, wohingegen bei rachamím die Betonung auf dem zarten Mitgefühl, dem Mitleid oder Erbarmen liegt, das empfunden wird. Ähnlich besteht der grundlegende Unterschied zwischen dem Wort cháris und éleos darin, dass cháris besonders den Gedanken einer freien und unverdienten Gabe zum Ausdruck bringt und somit die Freigebigkeit und Großzügigkeit oder Großherzigkeit des Gebers betont, während éleos das barmherzige Eingehen auf die Belange von Leidenden oder Benachteiligten hervorhebt. In diesem Sinn erwies Gott seinem eigenen Sohn cháris, d. h. unverdiente Güte, als er ihm ‘gütigerweise den Namen gab [echarísato], der über jedem anderen Namen ist’ (Php 2:9). Diese Güte wurde nicht von Mitleid oder Erbarmen hervorgerufen, sondern von Gottes Freigebigkeit oder Großzügigkeit, die von Liebe getragen war. (Siehe FREUNDLICHKEIT, GÜTE.)