Senf — eine scharfe Angelegenheit
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN FRANKREICH
„FÜR zwei englische Ladys, Bürgerinnen des größten Reiches der Welt, ist die Vorstellung, ihr Roastbeef ohne Senf essen zu müssen, über alle Maßen empörend.“ Die Dänen, die zu den größten Senfkonsumenten gehören, könnten die Enttäuschung der beiden Heldinnen aus dem französischen Romana, dem das Zitat entnommen ist, wahrscheinlich nachfühlen.
Bei den alten Griechen hieß der Senf sínapi, „das, was die Augen plagt“. Vielleicht hatten sie dabei einen Essenden im Sinn, dessen Augen in Tränen schwammen, weil er zuviel Senf genommen hatte. Eine romanische Ableitung des lateinischen Wortes mustum, „junger Wein; Most“, ist das altfranzösische Wort für Senf, mostarde. Letzteres lieferte die in manchen Gegenden Deutschlands gebräuchlichen Bezeichnungen für Senf — Mostert oder Mostrich.
In trockenem Zustand sind Senfkörner harmlos; wird ihnen jedoch beim Zermahlen Wasser beigefügt, wird Allylisothiocyanat, ein Reizstoff, freigesetzt. Dieses ätherische Öl mit stechendem Geruch verleiht dem Senf seine Schärfe und reizt die Schleimhäute, weshalb Senfherstellern und Senfkonsumenten gleichermaßen Tränen in die Augen steigen. Das erklärt auch, warum man Yperit, ein im Ersten Weltkrieg eingesetztes chemisches Kampfmittel, Senfgas nannte, obwohl es kein bißchen Senf enthielt.
Ein starker Winzling
Die unscheinbar wirkenden gelben Blüten, hinter denen sich das scharfe „Temperament“ verbirgt, verwechselt man leicht mit Rapsblüten. Sowohl Senf als auch Raps gehören zu den Kreuzblütlern, von denen es etwa 4 000 Arten geben soll; davon wiederum werden ungefähr 40 der Gattung Senf zugeordnet. Die am häufigsten verwendeten Senfarten sind der Weiße Senf (Sinapis alba), der Indische Senf (Brassica juncea) und der Schwarze Senf (Brassica nigra), der ein besonders giftiges Öl absondert, das auf der Haut Bläschen hervorrufen kann.
Verwilderter Schwarzer Senf gedeiht auf steinigem Boden und an Wegen und Flüssen in Afrika, Europa und in Indien. Er wächst auch an den grünen Berghängen am Galiläischen Meer in Israel. Auf richtige Weise kultiviert, wächst er schnell und kann ausgewachsen eine Höhe erreichen, „die im Orient und selbst im Süden Frankreichs der Höhe unserer Obstbäume entspricht“ (Vigouroux, Dictionnaire de la Bible).
Erstaunlicherweise sind die Samen des Schwarzen Senfs äußerst klein. In den Tagen Jesu waren sie die winzigsten der in Israel üblicherweise ausgesäten Samen (Markus 4:31). Ihr Durchmesser beträgt etwa einen Millimeter, was erklärt, warum das Senfkorn im Talmud als kleinste Maßeinheit dient (Berachot 31a).
Der auffallende Gegensatz zwischen dem winzigen Senfkorn und der ausgewachsenen Senfpflanze machte die Lehre Christi über das Wachstum des „Königreiches der Himmel“ besser verständlich; gemäß dem Gleichnis lassen sich Vögel in den Zweigen der ausgewachsenen Pflanze nieder (Matthäus 13:31, 32; Lukas 13:19). Christus verwandte auch ein anschauliches Gleichnis, um hervorzuheben, was selbst durch ein Mindestmaß an Glauben bewirkt werden kann. Er sagte: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt von der Größe eines Senfkorns, ... wird euch [nichts] unmöglich sein“ (Matthäus 17:20; Lukas 17:6).
Die Senfherstellung in Frankreich
Obgleich der begehrte Schwarze Senf auch im Elsaß (Ostfrankreich) angebaut wurde, war es die Stadt Dijon (Burgund), die als die „Senfhauptstadt“ Frankreichs bekannt wurde. Dort wurde der Senf auf Äckern angebaut, die regelmäßig mit Rückständen aus der Holzkohleherstellung angereichert wurden. Das daraufhin entstehende Kaliumkarbonat im Boden verlieh den Senfkörnern eine besondere Schärfe.
Nach dem Zweiten Weltkrieg führten veränderte Anbaumethoden und eine starke internationale Konkurrenz dazu, daß in Burgund schließlich kein Senf mehr angebaut wurde, sondern Raps. Heute importiert Frankreich 95 Prozent seines Bedarfs an Senfkörnern; 80 Prozent davon kommen aus Kanada. Während der Name Dijonsenf für ein Herstellungsverfahren steht und nicht für den Herkunftsort des Senfs, findet man 70 Prozent der französischen Gewürzindustrie nach wie vor in Dijon. Unlängst wurde ein Versuch unternommen, den Anbau von Senf in Burgund wiederzubeleben.
Eine lange Geschichte
Schon in alter Zeit regte Senf den Appetit an, sei es in Form von Pulver wie beim Pfeffer oder als Gewürz. Die Römer würzten feurige Tunken mit Senf, zum Beispiel garum (eingelegte Innereien und Köpfe von Makrelen) und muria (eingelegter Thunfisch). Apicius, ein extravaganter römischer Feinschmecker, dachte sich sein eigenes Rezept aus: eine Mischung aus Senfsamen, Salz, Essig und Honig, der er bei Festessen noch Mandeln und Pinienkerne hinzufügte.
Ab dem Mittelalter wurde Senf nicht mehr selbst gemacht, sondern in Heimindustrie hergestellt; das blieb bis zum 19. Jahrhundert so. In Frankreich entwickelte die Vereinigung der Senf- und Essighersteller Rezepte, stellte sicher, daß die Herstellung unter hygienischen Bedingungen stattfand, kontrollierte den Markt und verhängte auch Geldstrafen über diejenigen, die sich nicht an ihre Richtlinien hielten. Sowohl Fisch- als auch Fleischgerichte wurden durch Senf abgerundet, der entweder in flüssiger Form verkauft wurde oder in Form von Pastillen, die man in Essig auflöste. Im 19. Jahrhundert stäubte der Engländer Jeremiah Colman das Britische Reich sozusagen mit seinem Senfpulver ein — es wurde zu den Mahlzeiten in Wasser, Milch oder Bier eingerührt.
Im Laufe der Zeit wurde Senf auch nicht mehr in Heimindustrie hergestellt, sondern in Fabriken, wodurch die Herstellungsmenge beträchtlich anstieg. 1990 wurden in Frankreich, das unter den europäischen Senfherstellern den ersten Platz einnimmt, etwa 70 000 Tonnen Senf und 2 000 Tonnen verschiedene andere Gewürze hergestellt.
Moderne Herstellungsverfahren
Die Schärfe des Senfs hängt ebenso vom Herstellungsverfahren wie von den Zutaten ab. Die Senfsamen werden sortiert, gewaschen, getrocknet und mit den anderen Zutaten vermischt; die jeweiligen Anteile der Zutaten sind ein streng gehütetes Geheimnis. Manchmal werden die Samen erst gemahlen, bevor sie in Most, Essig oder sauren Traubensaft bis zu 24 Stunden lang eingelegt werden. Violette Senfsorten erhalten ihre Farbe durch den Bodensatz von dunklen Trauben. Alle Zutaten werden zerrieben — für herkömmliche Senfsorten nur leicht — und dann in eine Zentrifuge getan, wo die Hülsen ausgesondert werden und die Konzentration des ätherischen Öls erhöht wird. Ob der Senf letztendlich scharf oder mild ist, hängt davon ab, wie gründlich die Paste passiert wird.
Durch Rühren werden sämtliche Luftblasen beseitigt, die eine Oxidation der Paste hervorrufen könnten; danach kommt die Paste zum Reifen für 48 Stunden in einen Bottich. In dieser Zeit verliert sie auf natürlichem Weg ihren bitteren Geschmack und nimmt statt dessen an Schärfe zu. Der Zusatz von Farbstoffen, Mehl oder Gewürzen mildert oder intensiviert die Schärfe. Es werden auch eine ganze Reihe Aromastoffe zugesetzt: traditionelle (Roquefort, Estragon), exotische (Banane, Curry) oder ausgefallene (Cognac, Champagner). Das angenehme Aroma des Senfs aus der französischen Stadt Meaux geht auf eine Kombination von nicht weniger als 11 Duftstoffen zurück.
Zum Schluß ist auch die Verpackung wichtig, denn Luft würde die Paste braun werden lassen, und durch Hitze würde das ätherische Öl verdunsten. Daher ist es am besten, Senf immer an einem kühlen, dunklen Ort zu lagern. Heute wird Senf meistens in Plastik- oder Glasgefäßen aufbewahrt, die oftmals mit ausgefallenen Etiketten versehen sind; früher dagegen wurden Töpfe aus feinem Steingut, aus Ton oder aus Porzellan verwendet — heute schmücken sie fast nur noch die Ausstellungen von Museen oder sind Teil privater Sammlungen. Kunsthandwerker legten großen Wert auf das Aussehen ihrer Töpfe; ihr Ziel waren originelle Designs, durch die „man ihre Töpfe auf den ersten Blick von anderen unterscheiden konnte“.
Eine einfache Pflanze mit vielen Verwendungsmöglichkeiten
Die beeindruckenden Töpfe, die einst Apotheken zierten, enthielten Senfpulver, das therapeutischen Zwecken diente. Da Senf Skorbut entgegenwirkt, stach kein niederländisches Schiff ohne einen Vorrat an Senf in See. Senf wurde auch für Bäder oder für Wickel verwendet.
Die Blätter des Weißen Senfs werden Salaten beigemischt, dienen aber auch heute noch als Gärfutter. Das aus den Senfsamen gewonnene Speiseöl wird nicht so schnell ranzig. In Asien dient Senföl teilweise in der Industrie als Brennstoff für Beleuchtungszwecke, außerdem werden viele Gerichte mit Senföl verfeinert.
Die unscheinbare Feldpflanze kommt in mehreren Redewendungen vor. „Senfblüten sehen“ bedeutet in Nepal und in Indien, nach einem schockierenden Erlebnis völlig benommen zu sein. Wenn ein Franzose sagt, ihm „steigt Senf in der Nase auf“, heißt das, daß er sich ärgert. Ganz gleich, in welcher Form — ob als Blüte, Gewürz, Samen, Öl oder Pulver —, Senf kann dem Leben Würze verleihen.
[Fußnote]
a Le Roi des montagnes von Edmond About.
[Bild auf Seite 23]
Es gibt viele verschiedene Senfsorten