„Redet bekümmerten Seelen tröstend zu“
„ICH war niedergeschlagen, und diese Stimmung hielt an. Ich hatte keine Lust, wegzugehen oder etwas zu tun, und konnte mich nicht konzentrieren. Mutlosigkeit und Verwirrung machten sich breit, und es kam mir schon der Gedanke, mein ganzes Leben und mein bisheriger Dienst für Gott seien nichts wert. Eine panische Angst überfiel mich.“ Mit diesen Worten beschrieb eine 48jährige Zeugin, die viele Jahre als Missionarin tätig war, ihre Empfindungen. „Ich war körperlich und geistig immer gesund gewesen, doch dann hatte ich plötzlich das Gefühl, es werde mir nie mehr gutgehen.“
Ein reifer Bruder berichtete: „Ich war wegen meiner Arbeit sehr deprimiert. Wenn ich nach Hause kam, war ich so mutlos, daß ich nichts essen konnte. Ich stand vom Tisch auf, ging in mein Zimmer und weinte — ich konnte die Tränen einfach nicht zurückhalten. Ich regte mich schnell über andere auf. Ständig dachte ich: ,Wohin führt das? Warum passiert mir das?‘ Es dauerte sechs Monate.“
Diese Personen litten an endogener Depression. Wie Berichte zeigen, gibt es unter Gottes Volk immer noch „bekümmerte Seelen“ (1. Thes. 5:14). Gemäß weltweiten Statistiken steigt die Zahl depressiver Menschen. Personen, die in einem Verhältnis zu Gott stehen, werden von Situationen, die zu Depressionen führen können, zwar häufig weniger beeinflußt, doch sind sie gegen solche Störungen keinesfalls immun. Aber warum leiden solch treue Diener Gottes unter Depressionen?
„Ich bin überaus deprimiert“
Auch David, der loyale König von Jerusalem, litt unter Depressionen. Über die Folgen einiger seiner Fehler oder törichten Handlungen schrieb er: „Ich bin überaus deprimiert; den ganzen Tag gehe ich trauernd einher“ (Ps. 38:6, De-Witt). Das Kästchen auf der nächsten Seite zeigt, wie sich mehrere treue Diener Gottes mitunter fühlten und warum. Doch sie alle überwanden ihren Kummer. Gemäß dem biblischen Bericht dienten sie Gott weiterhin treu.
Es gibt viele Ursachen für Depressionen. Auf einige hat der Betreffende selbst wenig Einfluß. Neuere medizinische Forschungen deuten darauf hin, daß einige Formen schwerer Depression auf eine Störung des chemischen Gleichgewichts im Gehirn zurückzuführen sind. Diese Störung kann verschiedene körperliche Ursachen haben.a Aber auch allein unsere Gedanken können Depressionen auslösen. Die Bibel erwähnt einen aufschlußreichen Fall.
Epaphroditus, der dem Apostel Paulus im Gefängnis eifrig beistand, litt unter Depressionen. Paulus schickte ihn von Rom aus zu seiner früheren Versammlung in Philippi zurück, und wahrscheinlich gab er ihm den Brief an die Philipper mit, in dem er unter anderem schrieb: „Epaphroditus ... [ist] niedergeschlagen ..., weil ihr gehört habt, daß er krank geworden war.“ Er war tatsächlich krank gewesen, doch nun ging es ihm gut — dennoch war er deprimiert. Was hatte die Depression ausgelöst? Er wußte, daß die Versammlung „gehört ... [hatte], daß er krank geworden war“. Wieso deprimierte ihn das? (Phil. 2:25-30).
Dieser ergebene Diener Gottes hatte offensichtlich ein sehr feines Empfinden für die Gefühle anderer. Er machte sich Gedanken darüber, daß seine lieben Brüder und Schwestern in seiner Heimatversammlung wegen seines schlechten Gesundheitszustandes besorgt waren. Da er anscheinend den brennenden Wunsch hatte, sie zu beruhigen, aber Hunderte von Kilometern — also hoffnungslos weit — von ihnen entfernt war, litt er unter Depressionen. Das gleiche könnte jemandem heute widerfahren, selbst solchen, die sich wie Epaphroditus völlig im Werke des Herrn einsetzen. Durch allzu große Sorgen wegen der Gefühle anderer oder vielleicht durch das Empfinden, andere zu enttäuschen, können Depressionen ausgelöst werden.
Aber wie kann man depressiven Personen helfen?
„Redet ... tröstend zu“
Eine depressive Christin sagte zu ihrem Mann unter Tränen: „Was soll ich nur tun? So kann es einfach nicht weitergehen!“ Der Mann, ein Ungläubiger, entgegnete: „Du wirst es einfach ertragen müssen!“ Diese Frau fühlte sich so niedergeschmettert, daß sie am folgenden Tag beinahe Selbstmord begangen hätte. Wie wichtig, daß alle die Aufforderung der Bibel befolgen: „Redet bekümmerten Seelen tröstend zu.“! Sonst könnte mitunter nicht wiedergutzumachender Schaden angerichtet werden. Doch oft mag jemand eine bekümmerte Seele aufheitern wollen, weiß aber nicht, was er sagen soll (1. Thes. 5:14).
Paulus deutet in seinem zweiten Brief an die Christen in Korinth an, daß er sich ‘niedergeschlagen’ fühlte, da er „innen Befürchtungen“ hatte. Doch eine gute Nachricht tröstete ihn. Titus berichtete davon, daß sich der geistige Zustand der Versammlung in Korinth gebessert hatte, und von dem „Eifer“ dieser Christen für Paulus und ihrer „Sehnsucht“ nach ihm. Dadurch, daß Paulus von ihrer Liebe zu ihm erfuhr, wurde er ermuntert (2. Kor. 7:5-7). So ist es auch heute. Eine Christin, die unter einer lähmenden Depression litt, sagte: „Man muß vor allem wissen, daß sich andere um einen persönlich kümmern. Man hat ein Bedürfnis nach Worten wie: ,Ich verstehe dich; bald wirst du wieder in Ordnung sein. Ich weiß, was du durchmachst, und möchte mich gern mit dir etwas unterhalten.‘“
„Ich lernte mitfühlen“
„E i n e Lektion ist für mich unvergeßlich“, sagte eine christliche Mutter, die unter Depressionen gelitten hatte. „Ich lernte mitfühlen. Früher dachte ich immer, man müsse sich nur an die Kandare nehmen und weitermachen. Deshalb hatte ich nie viel Mitgefühl mit anderen, die krank waren. Heute weiß ich, wie es ist. Als mir Freunde sagten: ,Reiß dich zusammen‘, hätte ich nichts lieber getan als das. Aber ich konnte es einfach nicht. Sie verletzten mich durch ihre Worte.“ Depressive Personen sind auf das „Mitgefühl“ anderer angewiesen (1. Pet. 3:8).
Wie können Angehörige und Freunde ihnen helfen? Eine 40jährige Mutter, die früher unter Depressionen litt, erinnert sich: „Man fühlt sich nicht nur körperlich und seelisch am Boden, sondern hat auch Schuldgefühle, weil man für seine Familie nicht das tut, was man normalerweise tun würde.“ Sie rät daher: „Man sollte einer depressiven Person sagen, daß man weiß, daß sie ihr Bestes tut, und sie ermuntern, so weiterzumachen.“
Erbauende Worte sind zwar nötig und werden auch geschätzt, doch wer helfen möchte, kann vielleicht noch mehr tun.
Stehe den Schwachen bei
Paulus forderte die Versammlung in Thessalonich nicht nur auf, ‘bekümmerten Seelen tröstend zuzureden’, sondern auch dazu, ‘den Schwachen beizustehen, langmütig gegen alle zu sein’. Der Ausdruck „beistehen“ weist auf Taten hin, denn die Grundbedeutung des griechischen Wortesb ist, sich gegen jemanden stemmen, damit er nicht umfällt (1. Thes. 5:14).
In einer Studie über mehr als 500 Personen hieß es abschließend: „Um Depressionen loszuwerden, ist mehr nötig als Mitgefühl, ein starker Wille und ein frohes Gemüt. Man braucht vertraute, hilfsbereite Freunde und Angehörige.“ Dr. L. Cammer, ein bekannter Psychiater, erklärte übereinstimmend damit: „Wichtig ist, daß die depressive Person jemand um sich hat, der nicht anfängt, ihr eine Standpauke zu halten, sondern geduldig bleibt.“ Ja, positives Bemühen zu helfen — z. B. durch einen Anruf oder einen kurzen Besuch — wird wahrscheinlich sehr geschätzt.
Eine Christin antwortete auf die Frage, welche Behandlungsart ihr am meisten geholfen habe: „Das Beste war, unter meinen geistigen Brüdern und Schwestern zu sein. Sonst hätte ich mich nicht erholt. In unserer Versammlung herrscht Liebe, Anteilnahme und Verständnis. Das war wie eine Schutzmauer.“
Mitunter muß man einem depressiven Menschen natürlich mit liebevoller Entschiedenheit helfen, da sein Denken verwirrt sein mag. Vielleicht muß man freundlich darauf dringen, daß er mit einem spazierengeht oder sich in anderer Form Bewegung verschafft, daß er seine Medizin nimmt oder daß er sich weiterhin auf geistigem Gebiet betätigt.
Oftmals bekommt jemand, der wegen eines körperlichen Leidens im Krankenhaus liegt, statt der großen Hauptmahlzeiten mehrmals am Tag kleinere Portionen zu essen. Das mag auch bei einem depressiven Menschen nötig sein, wenn man ihm mit geistiger Speise helfen möchte. Der Ehepartner oder ein mitfühlender Freund muß aber wirklich Geduld aufbringen, denn es bedeutet, bei mehreren Gelegenheiten kurz geistige „Leckerbissen“ zu besprechen, statt es mit längeren biblischen Gesprächen zu versuchen, die die depressive Person vielleicht überbeanspruchen würden. Selbst wenn der Kranke nicht auf die Unterweisung reagiert, beeindruckt ihn doch die ihm erwiesene Liebe.
Solange die Störung nicht abklingt oder auf ärztliche Behandlung anspricht, müssen andere Geduld und Verständnis zeigen. Manchmal gibt es Situationen, in denen anscheinend keinerlei ärztliche Behandlung wirkt. Daher sind Langmut und aufopfernde Liebe erforderlich, um solchen Leidenden so lange zu helfen, bis Jehova alle Krankheiten — geistige und körperliche — in der bevorstehenden neuen Ordnung heilt (Offb. 21:3, 4).
Auf den Ältesten in der Versammlung ruht eine besondere Verantwortung. Dieser Gesichtspunkt wird in dem Artikel „Eine geschulte Zunge, die ,Ermattete stärkt‘“ behandelt, der in einer der folgenden Ausgaben erscheinen wird.
[Fußnoten]
a Siehe den Artikel „Ist es eine reine Gemütssache?“ in der Begleitzeitschrift Erwachet! vom 8. Dezember 1981.
b antéchesthe — „haltet euch entgegen“.
[Kasten auf Seite 14]
WAS SIE EMPFANDEN GRUND
HIOB ‘Gott hat mich verlassen.’ Krankheit und persönliche Unglücksfälle.
‘Ich empfinde Ekel vor meinem
Leben’ (Hiob 29:2, 4, 5; 10:1).
Es hatte den Anschein,
Gott habe ihn verlassen.
JAKOB Wollte sich nicht trösten lassen. Kummer über vermeintlichen
‘Fuhr fort zu weinen.’ Tod des Sohnes
‘Ich möchte ins Grab hinabfahren’
(1. Mo. 37:35).
HANNA ‘Weinte und aß nichts.’ Bittere Enttäuschung darüber,
‘War bitterer Seele und weinte daß sie keinen Sohn hatte
sehr’ (1. Sam. 1:7, 10).
JONA „Daß ich dahinsterbe, ist besser, Aufgestauter Zorn
als daß ich am Leben bin.“
In einem „unglücklichen Zustand“
DAVID „Den ganzen Tag bin ich traurig Hatte sich eines schwerwiegenden
umhergegangen.“ „Ich bin Fehlers schuldig gemacht
empfindungslos geworden.“
NEHEMIA ‘Begann zu weinen und trauerte War wegen einiger Glieder des
tagelang.’ Hatte „Betrübnis des Volkes Gottes beunruhigt
PAULUS Hatte „innen Befürchtungen“ und Gegnerschaft und mangelnde Ruhe
fühlte sich ‘niedergeschlagen’