Italien
ITALIEN wurde schon oft als der „schöne Stiefel“ bezeichnet, denn es ähnelt in der Form einem aus dem 18. Jahrhundert stammenden Stiefel, in dem Apulien den Absatz ausfüllt und Kalabrien die Zehen, während die Alpen gewissermaßen den Rand des Stiefelschaftes bilden. Italien ist also eine Halbinsel, die sich weit in das Mittelmeer hinaus erstreckt. Seinen Namen erhielt es von den alten Römern, die den südlichen Teil der Halbinsel Italia nannten, was gemäß der Legende „Land der Ochsen“ oder „Weideland“ bedeutet. Die bezaubernde Landschaft Italiens ist allgemein bekannt: Ebenen, Gebirge, Seen, Strände, Olivenhaine, Weinberge und Berghänge mit reichem Zypressenbestand. Zu Italien gehören auch die beiden großen Inseln Sizilien und Sardinien.
Die fast 57 Millionen Einwohner Italiens sind vorwiegend katholisch, doch ist die Beteiligung am kirchlichen Leben außergewöhnlich gering.
Wie faßte das wahre Christentum hier einstmals Fuß, und wie kam es dazu, daß es in späteren Zeiten in Vergessenheit geriet? Wann und wie begann in diesem Land das Predigtwerk der Zeugen Jehovas?
DIE ERSTEN CHRISTEN IN ITALIEN
Im Jahre 59 u. Z. befanden sich mehrere Gefangene, darunter auch ein Mann in mittleren Jahren, auf einer beschwerlichen, gefahrvollen Reise. Sie standen unter der Aufsicht eines Offiziers. Nachdem sie durch ein Wunder einen Schiffbruch überlebt hatten, gelangten sie nach Malta, einer Insel, südlich von Italien, und drei Monate später war es ihnen möglich, ihre Reise fortzusetzen. Das Schiff, das sie bestiegen, trug den Namen „Söhne des Zeus“ — zu Ehren der Zwillinge des Zeus, von denen man glaubte, daß sie die Seeleute vor Gefahr bewahrten. Einer der Gefangenen war jedoch kein Anbeter dieser griechisch-römischen Gottheiten. Es war ein Jünger Jesu Christi mit Namen Paulus. Auf ihrer Reise kamen sie nach Syrakus auf Sizilien, wo sie drei Tage blieben. Dann fuhren sie durch die Straße von Messina nach Rhegium (heute Reggia). Hier machten sie kurz halt. Nicht lange danach gingen sie in Puteoli (heute Pozzuoli), in der Nähe von Neapel, von Bord und folgten der Bitte der dort ansässigen Christen, eine Weile zu bleiben. Nach sieben Tagen machten sie sich auf den Weg nach Rom, und zwar auf der „Via Appia“, der bedeutendsten Heer und Handelsstraße des Römischen Reiches. Als die Kunde von der bevorstehenden Ankunft des Paulus die Versammlung in Rom erreichte, gingen die Brüder ihm spontan bis zum Marktplatz von Appius und den Drei Schenken entgegen, von wo aus sie die Reisenden bis an ihr Ziel begleiteten (Apg. 27:1 bis 28:16).
Paulus hatte eine hohe Meinung von den Christen in Rom, denn er hatte ihnen zuvor geschrieben: „In der ganzen Welt [wird] von eurem Glauben gesprochen“ (Röm. 1:8).
Doch nachdem das wahre Christentum eine Zeitlang gute Fortschritte gemacht hatte, fiel es dem Abfall zum Opfer, der von Jesus Christus vorhergesagt worden war (Mat. 13:26-30, 36-43). Die weltliche Macht der religiösen Führer nahm zu, bis sich zur Zeit Kaiser Konstantins die religiösen und die politischen Mächte vereinigten. Dies führte zur Gründung des Katholizismus mit seinem Papsttum.
GEISTIGE FINSTERNIS HÜLLT ITALIEN EIN
Der Einfluß der sogenannten Reformation machte sich im finsteren Mittelalter in Italien kaum bemerkbar, und so befanden sich die Bewohner der Halbinsel weiterhin in geistiger Finsternis. Es gab einige Personen, die sich bemühten, die wahre Erkenntnis des Wortes Gottes zu erlangen, aber die meisten von ihnen suchten Zuflucht im Ausland, wo sie die erworbene biblische Erkenntnis mit anderen teilen konnten. Diejenigen, die in Italien blieben, wurden eingesperrt und durch die Inquisitionsgerichte zum Tode verurteilt.
Im Jahre 1870 wurde der Kirchenstaat, bestehend aus größeren Ländereien, über die die katholische Kirche gesetzlich herrschte, bis auf ein kleines Gebiet, das heute noch von der Vatikanstadt eingenommen wird, vom Königreich Italien annektiert. Jetzt bestanden zwar bessere Aussichten auf Religionsfreiheit im Land, doch diese Hoffnungen wurden, schon bald nachdem Benito Mussolini im Jahre 1922 zur Macht gekommen war, zunichte gemacht. Im Jahre 1929 unterzeichnete er ein Konkordat mit der katholischen Kirche, durch das der Kirche und der Geistlichkeit außergewöhnliche Privilegien eingeräumt und die Voraussetzungen für eine neue Ära der Unterdrückung geschaffen wurden. So mögen wir uns nun fragen: Wie begann das Predigtwerk der Zeugen Jehovas im heutigen Italien?
DER ANFANG
Das wahre Christentum erlebte Ende des letzten Jahrhunderts in dem Städtchen Pinerolo, 38 Kilometer von Turin (Piemont) entfernt, eine Wiedergeburt. Pinerolo liegt in einem der malerischen Täler der Cottischen Alpen, die als „Waldensertäler“ bekannt sind. Sie verdanken ihren Namen den Anhängern von Petrus Waldes, einem Lyoner Kaufmann, der viele biblische Wahrheiten erkannt hatte.
Ein Amerikaner machte auf seiner ersten Europareise im Jahre 1891 in Pinerolo halt. Es war Charles Taze Russell, der erste Präsident der Watch Tower Society. In Pinerolo lernte er Professor Daniele Rivoire kennen, einen Waldenser, der am Waldensischen Kulturzentrum in Torre Pellice Sprachen lehrte. Professor Rivoire wurde zwar niemals ein Zeuge Jehovas, zeigte aber großes Interesse an der Verbreitung der biblischen Botschaft, die in den Veröffentlichungen der Watch Tower Society erklärt wurde.
Einige Jahre vergingen, und in der Zwischenzeit erhielt Fanny Lugli, eine Waldenserin aus San Germano Chisone, nicht weit von Pinerolo, von ihren Verwandten aus Amerika ein Buch mit dem Titel Der Göttliche Plan der Zeitalter. Im Jahre 1903 hatte sie den Inhalt des Buches als Wahrheit erkannt und führte mit einer kleinen Gruppe in ihrer Wohnung Zusammenkünfte durch.
Außerdem übersetzte Professor Rivoire im Jahre 1903 das Buch Der Göttliche Plan der Zeitalter ins Italienische. Er ließ es auf eigene Kosten im Jahre 1904 in der Tipografia Sociale drucken. Das war, noch bevor eine italienische Ausgabe des Buches in den Vereinigten Staaten herauskam. In dieser Ausgabe von 1904 schrieb Professor Rivoire folgendes an die Leser: „Wir übergeben diese erste italienische Ausgabe dem Schutz des Herrn. Möge er sie segnen, so daß sie trotz ihrer Unvollkommenheiten dazu beitragen möge, den heiligen Namen des Herrn zu erhöhen und seine italienisch sprechenden Kinder zu größerer Hingabe zu ermuntern.“ Jehova segnete die Verbreitung dieses Buches.
Professor Rivoire übersetzte auch die Zeitschrift Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence ins Italienische. Sie erschien im Jahre 1903 als Vierteljahreszeitschrift und wurde in Pinerolo gedruckt. Interessanterweise wurde die Zeitschrift auf normalem Wege über die wichtigsten Zeitungsagenturen der bedeutendsten Provinzzentren verbreitet.
Während dieser Zeit kamen Clara Cerulli Lantaret und Giosuè Vittorio Paschetto ebenfalls zu einer Erkenntnis der Wahrheit, und einige Jahre später schloß sich Remigio Cuminetti ihnen an. Von all diesen Personen werden wir im Laufe unseres Berichtes noch hören.
EINE VERSAMMLUNG GEGRÜNDET
Im Jahre 1908 wurde die erste Versammlung der neuzeitlichen Diener Jehovas in Italien gegründet. Die Zusammenkünfte fanden am Donnerstagabend bei Schwester Cerulli in Pinerolo, Piazza Montebello 7 statt und am Sonntagnachmittag bei Schwester Lugli in Gondini in der Nähe von San Germano Chisone.
Als Bruder Russell im Jahre 1912 wieder nach Italien kam, besuchte er auch die einzige Versammlung, die es damals gab. Bei den Zusammenkünften waren etwa 40 Personen anwesend. In jener Zeit wurde das Werk vom Schweizer Zweigbüro der Watch Tower Society beaufsichtigt — eine Regelung, die bis 1945 bestand. Schwester Cerulli, die Englisch und Französisch ebenso gut sprach wie Italienisch, vertrat den Schweizer Zweig in Italien.
ENTTÄUSCHTE HOFFNUNGEN
Im Ersten Weltkrieg erlebte die kleine Gruppe italienischer Brüder eine Zeit der Prüfung und Läuterung, wie dies auch in anderen Ländern der Fall war. Im Jahre 1914 glaubten einige Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden, daß sie ‘in Wolken entrückt würden zur Begegnung mit dem Herrn in der Luft’, und sie nahmen an, daß das irdische Predigtwerk zu seinem Ende gekommen sei (1. Thes. 4:17). In einem Bericht heißt es: „Eines Tages gingen einige von ihnen an einen einsamen Ort und warteten auf das Ereignis. Als jedoch nichts geschah, blieb ihnen nichts anderes übrig, als in ihrer äußert gedruckten Stimmung wieder nach Hause zu gehen. Die Folge davon war, daß eine Anzahl vom Glauben abfiel.“
Etwa 15 Personen blieben treu und besuchten weiterhin die Zusammenkünfte und studierten die Publikationen der Gesellschaft. Bruder Remigio Cuminetti sagte über diese Zeit: „Anstelle der erwarteten Krone der Herrlichkeit erhielten wir ein Paar feste Stiefel, um die Predigttätigkeit fortzusetzen.“
BRUDER CUMINETTIS GERICHTSVERHANDLUNG
Italiens Eintritt in den Krieg (Mai 1915) brachte für Bruder Remigio Cuminetti, ein Glied der Versammlung, eine schwierige Zeit mit sich. Als er zum Militärdienst eingezogen wurde, war er entschlossen, seine Neutralität zu bewahren (Jes. 2:4; Joh. 15:19). Dies bedeutete, daß er vor dem Militärgericht in Alessandria erscheinen mußte. Schwester Clara Cerulli war bei der Verhandlung anwesend und sandte einen ausführlichen Bericht darüber an Bruder Giovanni DeCecca im Bethel in Brooklyn, da sie wußte, daß er sich stets für alles interessierte, was in Italien vor sich ging. Ihr Brief vom 19. September 1916 schildert den genauen Hergang der Ereignisse.
„Mein lieber Bruder in Christo!
Ich halte es für meine Pflicht, Dir unverzüglich gute Nachrichten über unseren lieben Bruder Remigio Cuminetti mit zuteilen. Er trat standhaft für den Glauben ein und gab vor Gericht in Alessandria ein gutes Zeugnis.
Schwester Fanny Lugli und ich hatten das große Vorrecht, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen, und wir wurden durch unseren Bruder, der einen starken Glauben bekundete, sehr erbaut.
Der Richter versuchte wiederholt, Remigio hereinzulegen und ihn zu dem einen oder anderen Zugeständnis zu veranlassen. Aber Remigio ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Die Verhandlung lief wie folgt ab:
RICHTER: ,Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie in einer ernsten Angelegenheit vor diesem Gericht stehen, und dennoch sehen Sie so aus, als gäbe es etwas zu lachen.‘
BRUDER CUMINETTI: ,Ich kann nichts für meinen Gesichtsausdruck. Die Freude in meinem Herzen muß sich wohl auf meinem Gesicht widerspiegeln.‘
RICHTER: ,Warum lehnen Sie es ab, eine Uniform anzuziehen und Ihr Land zu verteidigen?‘
BRUDER CUMINETTI: ,Ich stehe vor Gericht, weil ich mich geweigert habe, eine Uniform anzuziehen. Das ist alles. Ich bin mir keiner anderen Schuld bewußt. Meiner Meinung nach gehört es sich für einen Sohn Gottes nicht, eine Uniform anzuziehen, die für Haß und Krieg steht! Aus demselben Grund weigere ich mich, eine Armbinde zu tragen und in einer Fabrik zu arbeiten, in der Kriegsmaterial hergestellt wird. Ich lasse mir lieber den Stempel aufdrücken, ein Sohn Gottes zu sein, indem ich mich gegenüber meinem Nächsten friedlich verhalte.‘
RICHTER: ,Geben Sie zu, daß Sie sich im Gefängnis von Cuneo bis auf die Unterwäsche ausgezogen haben?‘
BRUDER CUMINETTI: ,Ja, Euer Gnaden, das stimmt. Dreimal wurde ich gezwungen, eine Uniform anzuziehen, und dreimal habe ich sie wieder ausgezogen. Mein Gewissen verbietet mir, meinem Nächsten Schaden zuzufügen. Ich bin bereit, mein Leben zum Nutzen anderer hinzugeben, aber ich werde nie meine Hand gegen meine Mitmenschen erheben, denn Gott hat uns durch seinen heiligen Geist angewiesen, einander zu lieben und nicht zu hassen.‘
RICHTER: ,Was für eine Schulbildung haben Sie?‘
BRUDER CUMINETTI: ,Das ist nicht so wichtig. Ich habe die Bibel studiert.‘
RICHTER: ,Beantworten Sie meine Fragen. Wie lange haben Sie die Schule besucht?‘
BRUDER CUMINETTI: ,Drei Jahre, aber ich wiederhole, daß das nicht so wichtig ist im Vergleich zu meiner Ausbildung in der Schule Christi.‘
RICHTER: ,Es ist schade, daß Sie mit gewissen Leuten [er meinte Schwester Lugli und mich] zusammengekommen sind, die Sie in die Irre geführt haben. [Geringschätzig:] Wie lange haben Sie dieses Buch, das sie „Bibel“ nennen, studiert?‘
BRUDER CUMINETTI: ,Sechs Jahre, und ich bereue nur, daß ich damit nicht früher angefangen habe.‘
RICHTER: ,Wer lehrt Sie diese neue Religion?‘
BRUDER CUMINETTI: ,Es ist Gott selbst. Reifere Bibelforscher haben mir geholfen, biblische Wahrheiten zu erkennen, aber nur Gott kann einem die Augen des Verständnisses öffnen.‘
RICHTER: ,Begreifen Sie den Ernst Ihres ungehorsamen Verhaltens? Werden Sie zu Ihrer Entscheidung stehen und stark genug sein, die Folgen zu tragen?‘
BRUDER CUMINETTI: ,Ja, davon bin ich überzeugt. Komme was da wolle, ich werde allem mutig entgegentreten. Auch wenn ich zum Tode verurteilt werden sollte, werde ich nie mein Versprechen brechen, dem Herrn in vollem Maße zu dienen.‘
Im Anschluß daran forderte der Staatsanwalt für Bruder Cuminetti eine Strafe von vier Jahren und vier Monaten. Dann hatte die Verteidigung das Wort.
Der Anwalt erhob sich und gab ein wunderbares Zeugnis über die Einstellung unseres Bruders, indem er sagte, daß ein solcher Mann, anstatt eine Gefängnisstrafe zu verbüßen, für seinen Mut und seine Treue zu Gott bewundert werden sollte. Es wurde darauf hingewiesen, daß der Angeklagte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, das biblische Gebot, nicht zu töten, zu ignorieren. Er handelte im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz.
Nachdem sich das Gericht für fünf Minuten zur Beratung zurückgezogen hatte, kehrte es in den Gerichtssaal zurück, um das Urteil zu verlesen: ,Remigio Cuminetti wird wegen Verrats am König und an den Gesetzen des Landes zu drei Jahren und 2 Monaten Gefängnis verurteilt.
Unser Bruder dankte mit einem strahlenden Lächeln.
Dann fragte ihn der Richter, ob er noch irgend etwas zu sagen habe.
Remigio antwortete: ,Ich hätte noch viel über Gottes Liebe und über seinen Vorsatz in Verbindung mit der Menschheit zu sagen.‘
Darauf gab der Richter unwirsch zurück: ,Davon haben wir bereits genug gehört. Ich wiederhole die Frage. Haben Sie noch irgend etwas hinsichtlich des Urteils zu sagen?‘
,Nein‘, erwiderte unser Bruder, und sein Gesicht glühte, ,ich wiederhole, daß ich bereit bin, mein Leben zugunsten anderer hinzugeben, aber ich werde meine Hand nicht gegen meinen Mitmenschen erheben!‘
Das war das Ende der Gerichtsverhandlung.
Schwester Fanny Lugli und ich hatten die Freude, mit unserem lieben Bruder zu sprechen. Jedermann bewunderte ihn. Sogar die Richter staunten über seine bescheidene Einstellung und über den Mut, der die Söhne des Lichts antreibt, sich nicht vor irdischen Mächten zu beugen. Sie unterwerfen sich nur Gott allein und beten zu ihm mit Geist und Wahrheit.“
„DIE ODYSSEE EINES WEHRDIENSTVERWEIGERERS“
Was auf das Gerichtsverfahren folgte, ist eine Geschichte für sich. Sie war so bemerkenswert, daß noch Jahre später die Zeitschrift L’Incontro darauf zurückkam, und zwar in ihrer Ausgabe vom Juli/August 1952. Die folgenden Auszüge stammen aus dem Artikel, betitelt „Die Odyssee eines Wehrdienstverweigerers im Ersten Weltkrieg“:
„Dieser Zeuge war Remigio Cuminetti, der 1890 in Porte di Pinerolo geboren wurde. ...
Als der Krieg ausbrach, wurde die Maschinenfabrik [die RIV von Villar Perosa] mit in die Kriegsbestrebungen einbezogen, und die Arbeiter waren verpflichtet, eine Armbinde zu tragen, und befanden sich unter Militärgewalt. Cuminetti hätte sich damit abfinden können und wäre ein Zivilist geblieben. Wenn er das getan hätte, wären ihm all die Schwierigkeiten erspart geblieben, die er später zu ertragen hatte. Als Facharbeiter hätte er ständig zurückgestellt werden können, aber er sagte sich sofort: ,Ich habe mich Gott hingegeben. Kann ich nun weiterhin seinen Willen tun und gleichzeitig die Kriegsbestrebungen unterstützen? Außerdem würde ich, wenn auch nur indirekt, den Geboten „Du sollst nicht töten“ und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ungehorsam sein. Sind nicht die Deutschen und die Österreicher genausogut meine Nachbarn wie die Franzosen, die Engländer und die Russen?‘ Für diesen aufrichtigen Mann war die Antwort klar und unmißverständlich ...
Als seine Altersgruppe zum Militärdienst eingezogen wurde, blieb er bei seiner Überzeugung und weigerte sich, der Armee beizutreten. Daraufhin wurde er wieder festgenommen und vor das Militärgericht in Alessandria gebracht. Er wurde zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe [in Wirklichkeit zu drei Jahren und zwei Monaten] verurteilt und ins Militärgefängnis von Gaeta überführt ... Die Militärbehörden empfanden es jedoch als ungerecht, daß er seine Zeit friedlich im Gefängnis verbrachte, während seine Landsleute auf dem Schlachtfeld ihr Leben einsetzten. ... Sie entschieden, ihn aus dem Gefängnis herauszunehmen und ihn dem militärischen Kommandobereich zu unterstellen, wo er gezwungen werden sollte, Soldat zu werden und für sein Land zu kämpfen. ... Dort angekommen, weigerte er sich, eine Uniform anzuziehen, und man ließ ihn, nur mit einem Hemd bekleidet, auf dem Platz stehen.
Nachdem er einige Zeit dem Gespött seiner Kameraden ausgesetzt gewesen war, überlegte er sich die Sache und kam zu dem Schluß, daß das Tragen gewisser Kleidung noch keinen Soldaten aus ihm machen würde. Er gelangte zu der Überzeugung, daß jemand, der das Militärabzeichen nicht an seiner Jacke trage, nicht als Soldat betrachtet werden könne noch sich der militärischen Disziplin zu unterwerfen habe. So zog er die Uniform ohne die Abzeichen an, und niemandem gelang es, ihn dazu zu bringen, die Abzeichen wieder an seinem Kragen anzubringen. Man sandte ihn ins Gefängnis zurück, und von dort wurde er in eine Anstalt für Geisteskranke überführt, denn die Behörden hatten sich dafür entschieden, ihn als geisteskrank zu betrachten. Da er aber seiner Sinne genauso mächtig war wie jeder andere, konnte der Leiter der Anstalt ihn nicht als geistesgestört einstufen und übergab ihn wieder seinem Regiment. Wegen seiner entschiedenen Weigerung, Militärabzeichen zu tragen oder irgendeine Art Militärdienst zu leisten, landete er bald wieder im Gefängnis. So vergingen etliche Monate, die er abwechselnd im Gefängnis und in der Anstalt für Geisteskranke verbrachte.
Schließlich kam er wieder zu seinem Regiment zurück, und diesmal hatte ein gewisser Major beschlossen, seinen Widerstand ein für allemal zu brechen. Eines Tages befahl er ihm mit vorgehaltenem Revolver seine Waffen zu nehmen und in die Schützengräben zu gehen. Cuminetti ... wußte, daß dieser Major bereits einige Soldaten aufgrund weit geringerer Vergehen umgebracht hatte, ... so stand für ihn fest, daß seine Zeit gekommen war. Trotzdem lehnte er es ruhig ab, die Waffen zu berühren. Dann hängten ihm zwei Soldaten einen Tornister um, den sie auf Befehl des Majors gepackt hatten, und schnallten ihm auch einen Patronengurt und einen Säbel um. Nachdem sie ihn so ausgerüstet hatten, bedrohte ihn der Major erneut mit dem Revolver und befahl ihm, sich zu den Linien zu begeben. Da Cuminetti sich nicht rührte, wurden zwei Soldaten angewiesen, ihn zu den Schützengräben zu schleppen. In dem Moment, als sie ihn wegbrachten, bemerkte Cuminetti: ,Armes Italien! Wenn deine Soldaten mit Gewalt in die Schützengräben gebracht werden müssen, wie willst du jemals den Krieg gewinnen?‘ Diese Bemerkung machte sogar den grimmigen, unerbittlichen Major nachgiebig, und er ordnete an, Cuminetti die Militärkleidung auszuziehen und ihn wieder ins Gefängnis zurückzuschicken.
Einige Zeit später ließ ihn der Oberst des Regiments zu sich rufen. Dieser Offizier war entschlossen, ihm auf freundliche Weise dazu zu bewegen, seine Militärabzeichen zu tragen. Er rief ihn in sein Büro und versicherte ihm ausdrücklich, er brauche, wenn er den Befehlen gehorche, niemals mehr ein Gewehr in die Hand zu nehmen und es werde dafür gesorgt, daß er hinter den Linien dienen könne. Cuminetti gab später zu, ... daß es sich hierbei um die schwerste Prüfung gehandelt habe, die er bis zu dem Zeitpunkt durchgemacht hatte. Als der Oberst in einem bestimmten Moment die demütige, respektvolle Einstellung des Mannes beobachtet hatte, dachte er, den Kampf gewonnen zu haben, und sagte in väterlichem Ton: ,Mein lieber Freund, wie können Sie nur ganz allein gegen die enorme Macht der ganzen Armee ankämpfen? Sie würden unweigerlich überwältigt werden. Ich werde jetzt für Sie die Abzeichen anheften, und Sie werden sie tragen, ohne jemals wieder zu rebellieren. Ich tue dies zu Ihrem Guten und schwöre, daß Sie niemals auf andere Menschen schießen müssen und daß Ihre Ansichten absolut respektiert werden.‘
Cuminetti erwiderte schlicht: ,Herr Oberst, wenn Sie versuchen, die Abzeichen an meine Uniform zu heften, werde ich Sie gewähren lassen, aber sobald ich draußen bin, werde ich die Abzeichen wieder abnehmen!‘ Konfrontiert mit einem solch unbeugsamen Willen, drang der Oberst nicht weiter in ihn und überließ ihn seinem Schicksal.
Wegen seines Glaubens stand dieser einfache, demütige Mann fünfmal vor Gericht. Er war in Regina Coeli, Rom, Piacenza und Gaeta eingesperrt, und außerdem verbrachte er eine Zeit in Reggio Emilia, einer Anstalt für Geisteskranke.“
Schließlich, nachdem er weitere Monate im Gefängnis gewesen war, wurde Bruder Cuminetti an die Front gebracht, um als Krankenträger zu dienen. Die Zeitschrift berichtet:
„Eines Tages, als er Dienst an der Front hatte, hörte er, daß ein verwundeter Offizier draußen vor den Schützengräben lag und nicht die Kraft hatte, sich hinter die Linien zu retten. Niemand war bereit, ihn zu holen. Cuminetti bot sich sofort für diese gefährliche Mission an, und es gelang ihm, den Offizier in Sicherheit zu bringen. Er selbst trug eine Verwundung am Bein davon.“
Für diese Tat sollte ihm eine silberne Tapferkeitsmedaille verliehen werden, „aber er lehnte sie ab, weil er aus Liebe zu seinem Nächsten gehandelt habe und nicht in der Absicht, eine Medaille zu erringen“.
Das Urteil, das das Militärgericht von Alessandria am 18. August 1916 gegen Bruder Cuminetti fällte, wurde im Gerichtsregister des Militärgerichtsarchivs von Turin unter der Nr. 10 419 festgehalten. Bruder Cuminetti war zweifellos der erste italienische Zeuge, der für die christliche Neutralität eintrat, und wahrscheinlich auch der erste Wehrdienstverweigerer in der neuzeitlichen Geschichte Italiens
DIE ERÖFFNUNG EINES ITALIENISCHEN BÜROS
Der Krieg war zu Ende und hatte überall auf der Halbinsel Tod und Verwüstung hinterlassen. Obwohl das Werk immer noch unter der Leitung des Schweizer Zweiges stand, wurde nach 1919 in Italien ein Büro eröffnet. Es befand sich in einem gemieteten Haus in Pinerolo, und zwar in der Via Silvio Pellico 11.
Im Jahre 1922 trat Bruder Remigio Cuminetti als Vertreter der Gesellschaft in Italien an die Stelle von Schwester Cerulli. Man betrachtete es nicht länger als passend, daß eine Frau diese verantwortliche Stellung einnahm, wenn sie von einem Mann ausgefüllt werden konnte, der mehr als genug Beweise für seine Treue geliefert hatte. Schwester Cerulli fühlte sich jedoch durch diesen Wechsel gekränkt und wandte sich von der Wahrheit ab.
Die Aufgabe des Übersetzens der Veröffentlichungen der Watch Tower Society wurde nach dem Krieg von Professor Giuseppe Banchetti übernommen. Er war ein waldensischer Pastor, aber er hatte die Wahrheit studiert und schätzte ihren Wert. Er hatte sogar versucht, gewisse Glaubensansichten in seine Religion aufzunehmen, indem er sie von der Kanzel verkündete. Allerdings hatte er damit keinen Erfolg. Doch säte er den Samen der Wahrheit in verschiedenen Teilen des Landes aus. Im Jahre 1913 war er in Cerignola in der Provinz Foggia tätig. Die Gesellschaft sandte ihm regelmäßig Literatur. Selbst nach dem Tod des Professors gingen immer noch Sendungen bei der Kirche der Waldenser ein. Später schlossen sich Personen, die die Literatur gelesen hatten, zu einer Gruppe von Bibelforschern zusammen.
Außer der Zeitschrift Der Wachtturm übersetzte Professor Banchetti die Bücher Die Harfe Gottes und Befreiung sowie einige Broschüren. Wie Professor Rivoire löste er sich nie vollständig von der Kirche der Waldenser, obwohl er den biblischen Erklärungen der Watch Tower Society glaubte und die Botschaft verbreitete.
Nachdem Professor Banchetti 1926 gestorben war, übersetzte eine Zeitlang noch eine gewisse Frau Courtial. Zum Beispiel übersetzte sie auch das Buch Schöpfung. Im Jahre 1928 wurde jedoch die Aufgabe einer Gott hingegebenen Person übertragen. Es war Giosuè Vittorio Paschetto, der bis zum Tage seiner Festnahme durch die faschistische Polizei (7. November 1939) die Übersetzungsarbeiten ausführte. Bis dahin hatte er die Bücher Regierung, Versöhnung, Leben, Prophezeiung, Licht (2 Bände), Rechtfertigung (3 Bände), Rüstung, Bewahrung, Jehova, Reichtum, Feinde und Die Rettung übersetzt. Diese Veröffentlichungen waren wirklich „Speise zur rechten Zeit“ für Gottes Volk (Mat. 24:45). Besonders das Buch Feinde bewirkte wegen der freimütigen Stellungnahme in der Neutralitätsfrage, daß eine Welle der Verfolgung über die kleine Gruppe der Brüder hinwegbrauste.
Am 23. August 1943 wurde Bruder Paschetto aus dem Gefängnis entlassen, und er setzte seine Arbeit mit anderen Übersetzern fort, bis er 1956 seinen irdischen Lauf beendete.
HILFE AUS DEM AUSLAND
Nun wenden wir uns wieder der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu. Kurz nach 1918 kehrte Bruder Marcello Martinelli, der die Wahrheit in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte, nach Italien zurück. Er stammte aus Valtellina, einem der wunderschönen Täler in den Rätischen Alpen, die zum Comer See hin abfallen. Bruder Martinelli bearbeitete dieses Gebiet mehrere Male mit der Königreichsbotschaft. Im Jahre 1923 wurde er ein „Kolporteur“ oder Vollzeitprediger des Königreiches und schloß sich Bruder Cuminetti im Gebiet von Pinerolo an. Bruder Martinelli wurde wegen seiner Herzensgüte sehr geschätzt, und in Zeiten heftiger Verfolgung drängte ihn diese Eigenschaft, liebevolle Briefe an die wenigen, verstreut lebenden Brüder zu schreiben. Bis 1960 stand Bruder Martinelli im Predigtwerk, dann beendete er seinen irdischen Dienst. In der Provinz Sondrio, wo er im Werke des Herrn tätig war, entstand eine kleine Gruppe von Bibelforschern.
In dem Zeitraum zwischen 1920 und 1935 kehrten weitere Auswanderer nach Italien zurück, die die Wahrheit in Belgien, in Frankreich oder in den Vereinigten Staaten angenommen hatten. Wo immer sie sich wieder ansiedelten, setzten sie ihre eifrige Predigttätigkeit fort und fanden interessierte Personen. Auf diese Weise entstanden weitere Gruppen von Bibelforschern.
Im Jahre 1923 lud der Schweizer Zweig drei Kolporteure, die in dem italienischsprachigen Schweizer Kanton Tessin tätig waren, ein, nach Italien zu ziehen. Es handelte sich um Ignazio Protti und seine beiden Schwestern Adele und Albina. Im darauffolgenden Jahr gesellte sich Schwester Emma Hotz zu ihnen, die ebenfalls als Kolporteur diente.
EIFRIGE TÄTIGKEIT VON FÜNF KOLPORTEUREN
Die Tätigkeit dieser eifrigen Kolporteure verdient es bestimmt, erwähnt zu werden. In einem Gebiet arbeiteten die drei Schwestern und in einem anderen die Brüder Ignazio Protti und Marcello Martinelli. In den Jahren von 1923 bis 1927 bearbeiteten sie verschiedene Gebiete in Piemont und einen Teil der Lombardei. Schwester Adele Protti, die später Bruder Brun aus der Schweiz heiratete, schrieb vor vielen Jahren:
„Im Jahre 1924 wurden in Pinerolo 20 000 Exemplare der Broschüre Eine wünschenswerte Regierung gedruckt. Außerdem hatten wir 100 000 Exemplare des Traktates Offene Anklage gegen die Geistlichkeit aus Bern erhalten. Dieses Traktat enthielt die Anklageschrift, die 1924 auf dem Kongreß in Columbus (Ohio) verlesen worden war. Es klagte die Geistlichkeit scharf an. Wir verbreiteten es in allen bedeutenden Städten Italiens.“
Der Wacht-Turm vom 15. Dezember 1925 berichtete über den Feldzug folgendes: „Unsere italienischen Brüder verteilten 100 000 Exemplare der ,Anklage‘, und sie sahen besonders darauf, daß der Papst und die anderen hohen Würdenträger des Vatikans ein Exemplar erhielten.“
Man kann sich ohne weiteres vorstellen, wie aufregend es für die Kolporteure gewesen sein muß, eine solch scharfe Botschaft zu verbreiten. Schwester Brun berichtete weiter:
„An einem einzigen Tag verbreiteten Bruder Cuminetti, Schwester Hotz und ich 10 000 Exemplare der ,Anklage‘ in Genua. Aus der Schweiz erhielten wir 100 000 Traktate ,Ein Zeugnis an die Herrscher der Welt‘, aber die meisten wurden von den Behörden beschlagnahmt. Etwa alle drei Monate besuchten wir unsere Brüder in San Germano Chisone, um uns in den Zusammenkünften geistig zu erbauen. Es läßt sich in Worten kaum beschreiben, wie sehr wir uns danach sehnten, unsere Brüder zu sehen und etwas Zeit mit ihnen zu verbringen.
Einmal hatte ich den ganzen Tag mit sehr gutem Erfolg ein Dorf bearbeitet. Ich war glücklich und machte mich auf den Heimweg. Die einzige Straße, die es gab, führte durch einen Wald. Während ich freudigen Gedanken nachging, bemerkte ich plötzlich einen jungen Mann mit einem Fahrrad neben mir. Ich war überhaupt nicht beunruhigt und erzählte ihm von der Königreichsregierung des Friedens und der Gerechtigkeit. Es dauerte fast zwei Stunden, bis wir den Weg nach Alessandria zurückgelegt hatten. Am Ende der Wegstrecke sagte der junge Mann zu mir:
,Fräulein, ich muß Ihnen gestehen, daß Sie mich vor einem schrecklichen Verbrechen bewahrt haben. Als ich Sie einholte, hatte ich die Absicht, Ihnen Schaden zuzufügen. Wenn Sie Widerstand geleistet hätten, hätte ich sie wahrscheinlich umgebracht. Aber als ich Ihr strahlendes Gesicht mit dem vertrauensvollen, unschuldigen Ausdruck sah, brachte ich es nicht fertig, Ihr Zutrauen zu mißbrauchen. Dann erzählten Sie mir von so vielen wunderbaren Dingen, die ich nie zuvor gehört hatte. Diese beiden Stunden haben genügt, meine Einstellung zum Leben zu ändern, und ich sehe ein, was für ein nichtswürdiger Mensch ich war. Ich möchte mein Leben gern ändern. Bitte geben Sie mir irgendeine Schrift, in der ich über diese Dinge etwas lesen kann.‘
Ich gab ihm die gesamte Literatur, die ich in meiner Tasche hatte, und er bezahlte sie. Dann gab er mir die Hand und sagte mir Lebewohl. Damals wurde ich — wie bei anderen Gelegenheiten auch — wirklich auf wunderbare Weise beschützt.“
Nach 50 Jahren treuen Dienstes starb Schwester Brun im Jahre 1976 in Zürich. Ihr Bruder Ignazio, ein anderer der fünf Kolporteure, schrieb im Jahre 1970:
„Wir zählten nicht einmal die Stunden, die wir im Dienst verbrachten. Wir arbeiteten einfach von morgens bis abends. Oft wurden wir festgenommen und nach kurzer Zeit wieder freigelassen. In Gallarate (in der Nähe von Varese) wurden Bruder Martinelli und ich verhaftet und aufgrund falscher Anklagen, die die Geistlichkeit sich ausgedacht hatte, ins Gefängnis geworfen. Uns wurde gestattet, täglich eine Stunde lang im Gefängnishof umherzugehen, und das gab uns Gelegenheit, den anderen Gefängnisinsassen Zeugnis zu geben. Oft umringten uns Gruppen von Zuhörern, und sogar manch ein Gefängniswärter blieb stehen. Eines Tages kam auch der Gefängnisdirektor. Als die Häftlinge erfuhren, daß wir entlassen werden sollten, umarmten sie uns und bedankten sich. Auch wir waren gerührt und dankten Gott, daß er uns die Möglichkeit gegeben hatte, diese Menschen mit der Botschaft zu erreichen.“
„Eines Tages“, fuhr Bruder Protti fort, „als ich von Haus zu Haus ging, bemerkte ich, daß ein Mann mir folgte. Kurz danach, als ich aus einem Haus kam, hielt er mich an und sagte, daß er ein Agent der Sicherheitspolizei sei. Er fragte nach meinem Personalausweis und wollte wissen, welcher Beschäftigung ich nachginge. Ich hatte vor, eine Broschüre anzubieten, und baute daher das Thema in meine Antwort mit ein, indem ich sagte: ,Ich kündige eine wünschenswerte Regierung an.‘ Der Agent war daraufhin fast beleidigt und erwiderte, es gebe bereits eine wünschenswerte Regierung. Offensichtlich meinte er das faschistische Regime. Ich sagte: ,Die Regierung, die Sie meinen, ist nur vorübergehend. Diejenige, die ich ankündige, wird für immer bestehen.‘ Dann zog ich meine Bibel heraus und ließ ihn Daniel 2:44 und 7:14 lesen. Ihr hättet sehen sollen, wie aufmerksam er die beiden Verse las! Er gab mir die Bibel zurück, und anstatt mich festzunehmen, wie ich erwartet hatte, ließ er mich gehen. Nach all diesen Jahren frage ich mich, ob der Agent sich wohl an unsere Unterhaltung erinnert hat, als das faschistische Regime zusammenbrach.“
Bruder Protti bewahrte bis zum Ende seine Treue im Dienst für das Königreich. Er starb 1977 im Alter von 80 Jahren in Basel.
1925 — DIE ERSTE HAUPTVERSAMMLUNG
Das Werk dehnte sich trotz vieler Schwierigkeiten weiter aus, und die erste Hauptversammlung wurde vom 23. bis zum 26. April 1925 in Pinerolo durchgeführt. Bruder A. H. Macmillan vom Hauptbüro der Gesellschaft machte mehrere Auslandsbesuche, und so war es ihm möglich, ebenfalls anwesend zu sein. Die Versammlung fand in einem großen Raum des Hotels Corona Grossa statt.
Es wäre geradezu absurd gewesen, von den faschistischen Behörden zu erwarten, daß sie die Versammlung genehmigen würden. So tarnten die Brüder die Hauptversammlung als Hochzeitsfeier. Während der Versammlung heiratete Bruder Remigio Cuminetti Schwester Albina Protti, eine der Kolporteurinnen aus der Schweiz. Bei dieser historischen Hauptversammlung waren 70 Personen anwesend, und 10 wurden getauft.
„In diesen Tagen verspürten wir viel Segen, Freude und Glück“, schrieb Schwester Brun, die bei der Hauptversammlung anwesend war. Sie fügte hinzu: „Der Hotelbesitzer brachte seine Gäste und Angestellten in den Saal und sagte: ,Kommt und seht, wir haben die Urkirche unter unserem Dach!‘ ... Alles war gut organisiert. Meistens gelang es uns, den Saal im Handumdrehen auszuräumen und die Stühle aufzustellen. Danach räumten wir sie wieder weg und ließen alles ordentlich zurück. Wir alle freuten uns und waren bereit, mit Hand anzulegen. Es war ein großes Zeugnis.“
Dennoch ergab sich bei diesem ersten Kongreß eine kuriose Situation. „Obwohl wir in mancher Hinsicht sehr verschieden waren, kamen wir doch gut miteinander aus. Was jedoch das Singen der Lieder betraf, so gelang es uns nicht, zu einer Übereinstimmung zu kommen. Die Brüder aus dem Norden sangen lebhaft, während diejenigen aus dem Süden langsam und mit so viel Gefühl sangen, daß wir es nicht übers Herz brachten, sie zu einer Änderung zu bewegen. So entschied der vorsitzführende Bruder, daß die Brüder aus dem Süden zuerst sangen und dann die Brüder aus dem Norden.“
DAS WERK GEHT ZURÜCK
Das Predigtwerk schien vielversprechend zu sein. Der Bericht, der im Wacht-Turm vom 15. Januar 1925 veröffentlicht wurde, lautete: „Zweiräder sind für drei Kolporteure beschafft worden, die auf diese Weise das Land durchqueren, Literatur verteilend und Bücher verkaufend. Wir haben große Hoffnung auf eine weite Verbreitung der Wahrheit in Italien in der nahen Zukunft.“
Einige Zeit zuvor hatte Bruder Cuminetti 10 000 Lire geerbt, in jenen Tagen eine beträchtliche Summe. Deshalb konnte er seine gesamte Zeit dem Zeugnisgeben widmen und die Brüder ermuntern, indem er sie in ihren Heimatgebieten aufsuchte. Der Wacht-Turm vom 1. Mai 1925 (italienisch) enthielt einen „Bericht über eine Reise quer durch Italien“, die Bruder Cuminetti und Bruder Martinelli Ende 1924 unternahmen. Sie reisten insgesamt 5 000 Kilometer und besuchten Brüder in abgelegenen Gebieten sowie interessierte Personen in verschiedenen Regionen von der Lombardei bis nach Sizilien. In dem Bericht wird erwähnt, daß man in Porto Sant’Elpidio (Mittelitalien) versuchte, einen Saal für einen Vortrag zu mieten. „Die Behörden zögerten zwar eine Weile, doch gaben sie uns schließlich die Genehmigung, weil wir so beharrlich waren ... Zweihundert Personen kamen, um den Vortrag ,Die Rückkehr der Toten steht bevor‘ zu hören.“ Es war zweifellos ein großer Erfolg.
Dann ging das Werk aus verschiedenen Gründen langsam zurück. Im Jahre 1926 und 1927 kehrten drei Kolporteure wegen schlechter Gesundheit und aus anderen Gründen in die Schweiz zurück. Der Hauptgrund des Rückgangs war jedoch das Konkordat, das 1929 zwischen der katholischen Kirche und dem faschistischen Staat unterzeichnet wurde und das der Kirche außergewöhnliche Privilegien gewährte. Dies kennzeichnete den Beginn einer traurigen Ära religiöser Unterdrückung.
Hier und da brannten noch einige „Wahrheitslämpchen“. An einigen Orten gab es kleine Gruppen von Brüdern oder auch nur alleinstehende Verkündiger, aber es war schwierig, mit ihnen in Verbindung zu treten und sie zusammenzuhalten. Sie glichen eher Glut, die unter der Asche verborgen ist und in Gefahr steht, vollständig zu erlöschen. Tatsächlich war dies bei einigen der Fall. In einem Brief beschreibt Bruder Cuminetti die Situation wie folgt:
„Wir möchten viel mehr tun, aber wir werden immer strenger beobachtet, ... sie fangen alles ab. Wir erhielten Das Goldene Zeitalter [jetzt Erwachet!] bis März, und dann hörten die Sendungen auf. Brooklyn teilte uns mit, daß etliche Pakete mit den neuesten Büchern und Broschüren an uns abgesandt worden seien. Wir haben sie aber niemals erhalten. Immer weniger Exemplare des Wacht-Turms erreichen ihr Ziel, und jeder Bruder, der Eifer bekundet, wird vom Feind verhaftet. ... Einigen hat man mit der Verbannung in einem anderen Teil des Landes und mit allen möglichen Grausamkeiten gedroht.“
DAS KÖNIGREICHSWERK NICHT VOLLSTÄNDIG UNTERDRÜCKT
Es wäre für die Geistlichkeit ein leichtes gewesen, mit der Unterstützung ihrer faschistischen Handlanger die Kontrolle über die Tätigkeit von ein paar Dutzend Personen auszuüben und sie schließlich völlig auszumerzen. Aber ‘die Hand Jehovas erwies sich nicht als zu kurz, um zu retten, noch war sein Ohr zu schwer geworden, um zu hören’ (Jes. 59:1). Er ließ nicht zu, daß seine Loyalgesinnten überwältigt wurden.
Hier und da gelang es kleinen Gruppen von Königreichsverkündigern, die schwierige Zeit zu überstehen. Und allein die Tatsache, daß diese Gruppen ins Dasein kamen und ausharrten, zeigt, daß Jehovas mächtige, wirksame Kraft sie beschützte.
DIE GRUPPE IN PRATOLA PELIGNA
Die gute Botschaft vom Königreich gelangte im Jahre 1919 durch einen Auswanderer, der die Wahrheit in den Vereinigten Staaten angenommen hatte, nach Pratola Peligna in der Provinz Aquila. Dieser Bruder, Vincenzo Pizzoferrato, blieb seiner himmlischen Berufung bis zu seinem Tod im Jahre 1951 treu. Er arbeitete als reisender Obsthändler in den nahe beieinanderliegenden Städten Sulmona, Raiano und Popoli, wo er mit seinem hochbeladenen Karren voller Obst und Literatur, die er zur Verbreitung dabeihatte, umherzog. Der Göttliche Plan der Zeitalter, Die Harfe Gottes und andere Veröffentlichungen wurden auf diese Weise verbreitet. Und bald scharte sich eine Gruppe interessierter Personen um ihn.
Als er im Jahre 1924 die Verbreitung des Traktates Die Rückkehr der Toten steht bevor in der Nähe des Friedhofes von Popoli (Pescara) fast beendet hatte, unterbrach ein Priester, begleitet von faschistischen Jugendlichen, seine Tätigkeit und brachte ihn zum Verhör auf die Polizeiwache. Es stellte sich jedoch heraus, daß der maresciallo (Wachtmeister) sehr günstig auf die Botschaft reagierte. Er rief alle Karabinieri (Polizisten) der Dienststelle zusammen, damit sie dem Bruder zuhörten. Es wurde Literatur verbreitet und ein ausgezeichnetes Zeugnis gegeben. Um Bruder Pizzoferrato vor weiteren Übergriffen der Faschisten zu schützen, veranlaßte der maresciallo, daß zwei Polizisten ihn zum Bahnhof begleiteten.
Als 1925 die Hauptversammlung in Pinerolo stattfand, war auch Bruder Pizzoferrato mit seiner Frau und einem Interessierten anwesend, der später ein Bruder wurde. Zu der Zeit gab es bereits eine Gruppe von etwa 30 Personen, die sich in seiner Wohnung versammelten, und später, als die Familie ein neues Haus baute, wurde ein Raum als Königreichssaal eingerichtet.
Im Jahre 1939 hetzte die Geistlichkeit die Behörden gegen die Brüder auf, was ernste Schwierigkeiten für sie zur Folge hatte. Man beschlagnahmte Literatur, und die Zusammenkünfte wurden verboten. Bruder Pizzoferrato wurde verhaftet und in Rom vor ein Sondertribunal gestellt, das ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilte. Bald darauf wurde er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes entlassen. Trotz der Gefahr einer erneuten Inhaftierung begann er sofort wieder, die „gute Botschaft“ zu verbreiten. Die dort ansässige Gruppe von Brüdern wurde also nie gänzlich ausgelöscht.
DIE GRUPPE IN ROSETO DEGLI ABRUZZI
Roseto degli Abruzzi ist ein Dorf an der Küste in der Provinz Teramo. Die Bewohner des Ortes hörten die Wahrheit zuerst von einer Schwester mit Namen Caterina Di Marco. Sie wurde in Roseto geboren und wanderte in die Vereinigten Staaten aus, wo sie 1921 in Philadelphia mit der Wahrheit in Berührung kam. Ein Jahr später wurde sie getauft, und im Jahre 1925 kehrte sie nach Roseto degli Abruzzi zurück. Was tat sie nach ihrer Rückkehr? Die Schwester berichtet:
„Unmittelbar nach meiner Rückkehr begann ich, mit anderen über meinen Glauben zu sprechen. Ich verbreitete sogar am Strand in der Nähe der Badekabinen Traktate und Broschüren. Ein Mann vom Ort las eine der Broschüren und rief aus: ,Ach, das muß die neue Religion sein, die Caterina aus Amerika mitgebracht hat.‘ Er wollte den Rest der Literatur, die ich besaß, ebenfalls lesen. Nachdem er alles gelesen hatte, war er überzeugt, daß es sich um die Wahrheit handelte.“ Er war der erste, der die Wahrheit erkannte, und später folgten ihm weitere aufrichtige Personen. Bruder DeCecca beschrieb Schwester Di Marco einmal als „echtes Schwert“ im Kampf gegen die religiösen Gegner. Obwohl diese 85jährige Schwester jetzt gebrechlich ist, bewahrt sie weiterhin ihre Treue und halt an ihrer Hoffnung fest.
Domenico Cimorosi, der erste, der aufgrund ihrer Predigttätigkeit die Wahrheit annahm, diente bis zu seinem Tode im Alter von 87 Jahren als allgemeiner Pionier. Einige Jahre vor seinem Tod schrieb er den folgenden Bericht über den Beginn des Werkes in dem Gebiet:
„Ich sprach mit meinem Bruder, meinem Vater, meinem Cousin und mit meinen Arbeitskollegen über die Wahrheit. Schließlich lasen wir zu fünft oder sechst die einzige kleine Broschüre, betitelt Trost für das Volk, die ich hatte. Wir schlugen auch die Schriftstellen in unseren Bibeln nach. Dann entschlossen wir uns, Caterina Di Marco aufzusuchen, die Dame, die aus Amerika zurückgekommen war. Wir erfaßten sofort die Logik ihrer Erklärungen und begannen, in ihrer Wohnung Zusammenkünfte abzuhalten. Obwohl uns die Faschisten kurz danach aufspürten, gelang es uns mit der Hilfe Jehovas doch, unsere Versammlungsorte geheimzuhalten.“
Religiöse Unduldsamkeit machte sich sehr schnell gegenüber der kleinen Gruppe aufrichtiger Personen bemerkbar. „Der Gemeindepriester verklagte mich wegen der Verbreitung des Traktates Offene Anklage gegen die Geistlichkeit“, berichtet Caterina Di Marco. „Ich wurde freigesprochen, aber die Schwierigkeiten hörten nicht auf. Später wurde ich das erstemal verhaftet, weil ich nicht zu einer Ansprache des Duce [des Führers Mussolini] gegangen war. Der Richter fragte mich, warum ich nicht gegangen sei. Ich antwortete, indem ich aus dem 3. Kapitel des Buches Daniel zitierte, wo berichtet wird, daß die drei Hebräer es ablehnten, sich vor dem goldenen Standbild niederzubeugen. Man verurteilte mich zu fünf Jahren Verbannung in einem anderen Teil Italiens.“
Vittorio Cimorosi, der Sohn von Domenico, erinnert sich noch daran, daß die Literatur in den 30er Jahren oft beschlagnahmt wurde. Dennoch erreichten einige Exemplare des Wachtturms und andere Veröffentlichungen ihr Ziel. Er berichtet: „Bruder DeCecca sandte meinem Vater und anderen interessierten Personen des öfteren geistige Speise. Er benutzte häufig Decknamen, um uns nicht zu gefährden. Einmal schrieb er: ,Wenn Ihr keine „Feinde“ habt, werdet Ihr welche in Montone finden.‘ Auf diesen Vorschlag hin reiste Bruder Guerino Castronà in das Dorf Montone, wo er einen Mann fand, der das Buch Feinde und andere Literatur besaß.“
DIE GRUPPE IN MALO
„Ich kann Jehova nicht genug dafür danken, daß mir die kostbare Gabe der Gottesfürchtigkeit in meiner Jugend verliehen wurde.“ Diese Worte stammen von Bruder Girolamo Sbalchiero, der bis zu seinem Tod im Jahre 1962 treu in seinem christlichen Dienst ausharrte. Sein Lebensbericht steht in engem Zusammenhang mit einer Gruppe von Zeugen, die im Laufe der Zeit zu einer blühenden Versammlung wurde.
Bruder Sbalchiero war zuvor ein eifriger Katholik gewesen. Er trug damals gewöhnlich eine geknotete Kordel um den Leib, mit der er sich geißelte. Er kasteite sich, um für begangene Sünden zu büßen. Oft betete er und kniete dabei auf Kieselsteinen. Er glaubte, Gott durch sein Leiden ein Opfer darzubringen. Auch beteiligte er sich an langen Wallfahrten. Dabei legte er einmal 50 Kilometer zu Fuß zurück. Im Jahre 1924 hörte Girolamo schließlich zum erstenmal von der Königreichsbotschaft, und zwar durch jemand; der in Amerika mit den Zeugen in Berührung gekommen war. Wie war seine Reaktion? Dieser fromme Zimmermann aus Malo, einem kleinen Dorf in der Nähe von Vicenza in Venetien, schrieb:
„Am Tage arbeitete ich, und abends las ich die Heilige Schrift. Mein Arbeitgeber hatte mir eine Bibel gegeben, weil er sie nicht wollte. Ich verstand zwar nicht viel von dem Gelesenen, doch ich war von der Schilderung des Krieges von Harmagedon sehr beeindruckt und begann sofort, anderen davon zu erzählen. Ich schrieb Bruder Cuminetti, der in Pinerolo diente, und seine Briefe waren mir eine große Hilfe. Ohne persönliche Unterstützung brauchte ich jedoch acht Jahre, um die Wahrheit völlig zu erfassen. Als ich sie dann erkannt hatte, hörte ich auf, in die Kirche zu gehen, und empfing auch nicht mehr die Kommunion, wie ich es mein Leben lang gewohnt war.“
Die Verfolgung ließ nicht lange auf sich warten. „Um die Bibel zu studieren“, erzählte Bruder Sbalchiero, „verbargen wir uns gewöhnlich an einsamen Stellen hinter Hecken. Einmal feierten wir sogar das Gedächtnismahl in einer Höhle. Einige Personen interessierten sich für die Wahrheit und schlossen sich mir an. An einem Sonntagnachmittag waren wir zu fünft in einer Privatwohnung zusammen und studierten die Bibel. Nach einer Weile erschien der Dorfgeistliche und beschimpfte uns. Er sagte, wir wären zu dumm, um die Bibel zu verstehen. Er fügte hinzu, daß die Priester allein die Macht hätten, Seelen zu retten.“
Nach einer hitzigen Diskussion, in der der Priester nicht in der Lage war, auch nur eine der gestellten Fragen zu beantworten, rief er die Polizei. Der maresciallo (Wachtmeister) kannte jedoch den Bruder und wußte auch, daß er wegen seiner Freundlichkeit in der Gegend sehr angesehen war, und so unternahm er nichts.
„Einige Zeit danach“, berichtete Bruder Sbalchiero weiter, „entschied sich die Gesellschaft für einen Feldzug mit der Broschüre Das Königreich, die Hoffnung der Welt. Ich setzte mich aufs Fahrrad und fuhr mit 165 Broschüren nach Padua. Unterwegs wurde ich von der Polizei angehalten, unter Arrest gestellt, und ein Prozeß wurde angestrengt, um mich in einen anderen Teil Italiens zu verbannen. Glücklicherweise erfuhren die Behörden meiner Heimatstadt davon und verwendeten sich zu meinen Gunsten. Man bewirkte schließlich meine Entlassung und sorgte dafür, daß ich nach Hause gebracht wurde. Nachdem wir auf dem größten öffentlichen Platz angekommen waren, sagten meine Begleiter zu mir: ,Haben Sie nun genug von alldem?‘ Ich erwiderte: ,Auf keinen Fall. Ich bin entschlossener denn je.‘ Daraufhin sahen sie einander kopfschüttelnd an.“
Giuseppe Sbalchiero, der Sohn von Girolamo, erzählt: „Eines Tages sagte ich zu meinem Vater: ,Wie können wir Tausenden von mächtigen Gegnern widerstehen und die Zeugnistätigkeit fortsetzen?‘ Er antwortete: ,Hab keine Angst, mein Sohn, denn dieses Werk ist nicht von Menschen, sondern von Gott.‘ “ (Vergleiche Apostelgeschichte 5:33-40.)
DIE GRUPPE IN FAENZA
Erinnern wir uns an Ignazio Protti, den Kolporteur, der 1923 aus der Schweiz nach Italien gekommen war? Nun, im Jahre 1924 hatte er die Gelegenheit, in seinem Geburtsort, dem kleinen Dorf Marradi, das von Bergen und Kastanienwäldern umgeben ist, Zeugnis zu geben. Die Samenkörner der Wahrheit fielen auf „vortrefflichen Boden“, und nicht wenige Personen nahmen die Botschaft an (Mat. 13:8). Diese wiederum teilten ihre Erkenntnis mit anderen.
Einige Jahre später erhielt ein Landwirt mit Namen Domenico Taroni in Sarna (Faenza), nicht weit entfernt von Marradi, etwas Literatur. Er nahm die „gute Botschaft“ bereitwillig an. Im Jahre 1927 abonnierte er den Wacht-Turm, aber nur wenige Exemplare trafen ein. Wahrscheinlich entgingen einige davon durch Zufall der Aufmerksamkeit der Behörden, und andere erreichten ihr Ziel auf geheimen Wegen. Bruder Taroni war unter den ersten Zeugen Jehovas in der fruchtbaren Region Romagna. Einer der ersten, mit denen er Kontakt aufnahm, war Vincenzo Artusi, der ein treuer Bruder wurde und bis zu seinem Tod im Jahre 1981 in einer der drei Versammlungen in Faenza als Ältester diente. Vincenzo seinerseits teilte die Wahrheit anderen mit, unter denen sich auch Emilio Babini und dessen Bruder Antonio befanden. Beide blieben Jehova treu bis zum Tod.
Diese eifrigen Brüder trafen sich in Privatwohnungen. Sobald die Geistlichkeit davon erfuhr, wurden sie verfolgt. Einige zogen sich zurück, aber andere bewahrten ihre Lauterkeit. Für die Nachkriegstätigkeit waren die neun Brüder, die im Jahre 1939 noch in dieser Gegend wohnten, ein guter Anfang.
DIE GRUPPE IN ZORTEA
In den Jahren 1931 und 1932 kehrten zwei Auswanderer, die die Wahrheit im Herzen hatten, aus dem Ausland wieder zurück. Es waren Narciso Stefanon, der aus Belgien gekommen war, und Albino Battisti, der aus Frankreich zurückgekehrt war. Sie begannen unverzüglich mit dem Predigen — der erstere in Zortea, einem kleinen Dorf mit wenigen hundert Einwohnern, das 1 000 Meter hoch am Bergabhang liegt; und der letztere, der die Wahrheit durch polnische Brüder kennengelernt hatte, in Calliano, das etwa 15 km von Trient entfernt liegt.
Bevor Narciso Stefanon nach Italien zurückkehrte, blieb ihm gerade noch Zeit, die Zeitschrift Der Wachtturm zu abonnieren und einige andere Veröffentlichungen der Gesellschaft zu lesen. Nach seiner Ankunft in Zortea ging er noch eine Zeitlang in die Kirche, und dort in der Kirche gab er zum erstenmal Zeugnis. Eines Tages erklärte der Dorfpriester in der Messe Teile des Evangeliums. Narciso widersprach öffentlich dem, was der Pfarrer gesagt hatte, und bewies mit der Diodati-Übersetzung, daß der Priester im Unrecht war.
Die Gemeinde teilte sich in zwei Gruppen, eine unterstützte Narciso Stefanon, die andere den Priester. Infolge des Einflusses des Priesters löste sich die erste Gruppe allmählich auf, und tatsächlich entschieden sich nur wenige für die Königreichsbotschaft. Narciso Stefanon wandte sich ein für allemal von der katholischen Kirche ab, und einige Interessierte studierten mit ihm die Veröffentlichungen des „treuen und verständigen Sklaven“ (Mat. 24:45-47, Neue-Welt-Übersetzung). Sie trafen sich gewöhnlich auf Heuböden, in Scheunen und irgendwo sonst, wo sie der Überwachung durch die Geistlichkeit und die Faschisten entgehen konnten. Zu dieser Zeit wurden wahre Christen von dem Regime erbarmungslos verfolgt.
Francesco Zortea gehörte zu denen, die „hörende Ohren“ hatten. Der Name des Dorfes war identisch mit seinem Nachnamen. Als er im Jahre 1933 zum erstenmal von der Wahrheit hörte, war er 25 Jahre alt. Von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Tod im Jahre 1977 bewies er einen unbezwinglichen Glauben an Jehova.
In einem Bericht über seinen christlichen Dienst schrieb Bruder Zortea:
„Wir wurden bespitzelt, verfolgt und in einem Maße kontrolliert, daß wir uns verstecken mußten, wenn wir die Heilige Schrift aufschlagen wollten. Ich machte viele Erfahrungen dieser Art, und sie dienten dazu, meinen Glauben zu stärken, anstatt ihn zu schwächen. Im April 1934 ging ich zu Fuß nach Fonzaso (Belluno), etwa 20 Kilometer von meinem Heimatort entfernt, um dort Zeugnis zu geben. Während ich mit der Königreichsbotschaft von Haus zu Haus ging, wurde ich von Polizisten angehalten und zur Polizeiwache gebracht. Dort wurde ich verhört, meine Literatur wurde beschlagnahmt, und ich wurde bis zum folgenden Morgen in eine Zelle gesperrt.
Später, im Juli 1935, wurde ich wegen einer dringenden offiziellen Mitteilung auf die Polizeiwache gebeten. Nach meiner Ankunft sagte der Wachtmeister zu mir: ,Herr Zortea, wir müssen Ihnen mitteilen, daß Ihr Fall der „pretura“ [zuständiges Amtsgericht] in Trient übergeben wurde, und diese Behörde verlangt von Ihnen eine genaue Erklärung Ihrer Beschäftigung.‘ Ich sagte ihm, daß ich den Menschen ,Gottes Königreich‘ ankündigen würde.
Im August wurde ich erneut dringend auf die Polizeiwache gebeten. Dieses Mal sagte man mir, die ,pretura‘ von Trient sei mit meiner ersten Erklärung nicht einverstanden gewesen. Sie wünsche eine andere, die deutlich machte, was mit den Worten ,Gottes Königreich ankündigen‘ gemeint sei. So erklärte ich die biblische Bedeutung in Übereinstimmung mit den Worten ,Dein Königreich komme‘ aus dem Mustergebet. Sie müssen das Königreich für eine politische Regierung gehalten haben“ (Mat. 6:9, 10).
Aber die eigentlichen Probleme sollten sich für diesen Bruder erst noch einstellen. Im Oktober 1935 erklärte Italien Äthiopien den Krieg. Als Bruder Zortea den Stellungsbefehl für den Wehrdienst erhielt, war er entschlossen, seine neutrale Haltung zu bewahren. Er schrieb: „Ich weigerte mich, eine Uniform anzuziehen und gegen meine Mitmenschen zu kämpfen.“ Daraufhin wurde er zu fünf Jahren Verbannung in einem anderen Teil Italiens verurteilt. Bruder Stefanon und Bruder Battisti erlitten das gleiche Schicksal.
Am Verbannungsort Muro Lucano in der Provinz Potenza setzte Bruder Zortea die Predigttätigkeit fort. Er berichtete: „Sobald ich mich eingelebt hatte, nahm ich mit Bruder Remigio Cuminetti Verbindung auf und bat um Literatur, damit ich weiter im Predigtwerk stehen konnte. Kurz danach erhielt ich ein Päckchen Broschüren, die ich mit Vorsicht verbreitete. Ich wandte verschiedene Methoden an. Einige Broschüren händigte ich persönlich aus; andere legte ich in geparkte Autos oder auf öffentliche Bänke, die am Wegesrand standen.“
Dank einer Amnestie der Regierung war es Bruder Zortea möglich, im Jahre 1937 in seinen Heimatort Zortea zurückzukehren, gerade zur rechten Zeit, um eine andere Episode religiöser Unduldsamkeit mitzuerleben, wodurch die Geistlichkeit ihren Ärger gegenüber Jehovas Zeugen Luft machte. Eine der einheimischen Schwestern war gestorben, und der Priester wollte nicht erlauben, daß man sie auf dem Dorffriedhof begrabe, und zwar unter dem Vorwand, heiliger Boden werde entweiht, wenn dies geschehe. Drei Tage vergingen, ohne daß sich etwas tat. Dann hatten die Dorfgeistlichen von Zortea und dem Nachbardorf Prade eine Unterredung mit dem Ratssekretär und dem podesta (Bürgermeister unter dem faschistischen Regime). Was danach geschah, hätte ebensogut aus einem Bericht über die ersten Christen stammen können. Bruder Zortea schrieb:
„Erst gegen Mittag des dritten Tages wurde uns mitgeteilt, daß das Begräbnis unverzüglich stattfinden und daß der Leichnam in Prade begraben werden müsse, wo der Gemeinderat ein Stück Land auf dem Friedhof besaß. Wir machten uns auf den Weg. Vier von uns gingen voraus, und die Familienangehörigen der Schwester und einige interessierte Personen folgten uns.
Mehrere Polizisten und ein Vertreter des Gemeinderates begleiteten uns. Unterwegs wurden wir ausgelacht, ausgepfiffen und verhöhnt, und als wir in Prade ankamen, fanden wir eine wartende Menschenmenge vor, die den letzten Akt dieser Komödie beobachten wollte, der der interessanteste werden sollte.
Man hatte entschieden, daß wir den Friedhof nicht durch die Pforte betreten dürften, weil sie ,gesegnet‘ sei. Deshalb hätten wir den Sarg mit Hilfe von zwei Leitern — die eine innerhalb, die andere außerhalb der Friedhofsmauer — über die Mauer heben müssen. Die Menge war gekommen, um zu sehen, wie wir den Sarg über die Mauer heben würden. In diesem Augenblick unterbrach der Vertreter des Gemeinderates das Geschehen und erkundigte sich, wer für diese Anordnung verantwortlich sei. Als er hörte, daß es sich um die Entscheidung des Dorfgeistlichen handelte, sagte er, der Bürgermeister habe angeordnet, der Leichenzug solle durch die Pforte gehen. Und das wurde uns dann auch gestattet.“
DIE GRUPPEN IN MONTESILVANO, PIANELLA UND SPOLTORE
Zu Beginn der 30er Jahre kehrte Luigi D’Angelo nach Spoltore in den Abruzzen zurück. Er hatte die Wahrheit in Frankreich kennengelernt, und nach seiner Rückkehr bewies er christliche Liebe gegenüber seinen Verwandten, Freunden und Nachbarn, indem er ihnen das, was er wußte, mitteilte. Brüder, die sich noch an ihn erinnern, berichten folgendes:
„Bruder D’Angelo war sehr aktiv und voller Eifer. Oftmals reiste er viele Kilometer, um Brüder in abgelegenen Gebieten zu besuchen, obwohl diese Reisen beschwerlich waren. Fahrräder waren die gebräuchlichsten Transportmittel in jenen Tagen, und es ist für uns heute noch ermunternd, an eine seiner längsten Reisen zu denken, bei der er fast 600 Kilometer mit dem Rad über den Apennin zurücklegte, um einen Bruder in Avellino zu besuchen. Bevor er aufbrach, sah er sich nach einem dicken Stock um, den er am Fahrrad befestigte, um in den Bergen gegen etwaige Angriffe von Wölfen gewappnet zu sein. Er band sich ein Kissen auf den Sattel und machte sich voller Begeisterung auf den Weg, beseelt von dem Wunsch, einen Bruder durch die christliche Gemeinschaft zu erbauen, die wir alle so dringend benötigen. Sein Dienst war nur von kurzer Dauer, denn im Jahre 1936 wurde er krank und starb.“
Die Samenkörner der Wahrheit, die dieser Bruder pflanzte, verkümmerten jedoch nicht. Vielmehr wurden sie zum Keimen gebracht gemäß dem Willen Gottes, der „es wachsen läßt“ (1. Kor. 3:7). So war es, daß ein einziger Zeuge den Grundstock für Gruppen von Verkündigern bildete, die in den Städten Montesilvano, Pianella und Spoltore in der Provinz Pescara entstanden. Diese Brüder mußten ebenfalls ‘ihren Marterpfahl aufnehmen’ und als Nachfolger Jesu Christi Verfolgung erdulden (Luk. 9:23).
Die Familie Di Censo aus Montesilvano gehörte zu denen, die die Königreichsbotschaft annahmen. Sie trennte sich von ihren religiösen Bildern, und bald darauf wurde ihr Heim ein Versammlungsort für alle, die die Heilige Schrift studieren wollten. Was geschah dann? Schwester Mariantonia Di Censo, die noch treu auf dem Weg der Wahrheit wandelt, berichtet:
„Sehr bald brachte die Geistlichkeit uns Widerstand entgegen. Sie organisierte eine eindrucksvolle Prozession, an der die gesamte Bevölkerung des Ortes teilnahm. Die Teilnehmer umringten langsam unser Haus, stießen ein Kreuz in den Boden und schrien: ,Protestanten raus! Geht wieder zur Kirche!‘ Wir waren zu einem öffentlichen Schauspiel geworden. Diesen Feindseligkeiten standen wir allein gegenüber, und nur Jehova konnte uns stützen und uns die nötige Kraft geben, um die Wahrheit hochzuhalten und weiterzumachen.“
Gerardo Di Felice, der auch zu der Gruppe in Montesilvano gehörte, mußte seinen Glauben bei mehreren Gelegenheiten unter Beweis stellen. Einmal, als er in seinem Haus ein Bibelstudium durchführte, drang eine Horde fanatischer Faschisten — von der Geistlichkeit angestachelt — in das Haus ein und schlug ihn so sehr, daß er bewußtlos auf dem Boden liegenblieb.
Später bewahrte er seine neutrale Stellung mit Entschlossenheit und Mut. Er schrieb: „Zuerst wurde ich in das Militärkrankenhaus von Bari gebracht und dann in die psychiatrische Klinik von Bisceglie [aus der man ihn mit der Begründung entließ, er leide an Paranoia]. Eines Tages entdeckte eine Nonne, daß ich unter der Decke die Bibel las. Sie beschlagnahmte sie und sagte, das Buch sei völlig vergiftet.“
Bruder Francesco Di Giampaolo, ein Uhrmacher aus Montesilvano, schildert folgendes: „Ich war gerade bei der Arbeit, als eine Gruppe Rowdies, von den Priestern angestiftet, große Schlammklumpen gegen das Gebäude warfen, in dem ich wohnte. Meine Nachbarn und andere Mieter liefen sofort auf die Straße und schrien: ,Wir sind keine Protestanten!‘ Sie wurden getroffen aber mir geschah nichts.“
EIN BLITZFELDZUG
Laßt uns nun in das Jahr 1932 zurückkehren. Bruder Martin Harbeck, der Zweigaufseher der Schweiz, war der Meinung, daß das Werk in Italien besser vorankäme, wenn sich das Büro nicht in Pinerolo befände, sondern in einer zentraleren Gegend und in einer bedeutenderen Stadt. Daher eröffnete man in jenem Jahr in Mailand ein Büro. Bruder Cuminetti dachte angesichts der harten Verfolgungszeit, es sei unklug, wenn er in eine andere Stadt ziehen würde. Deshalb blieb er in Pinerolo und erhielt auf geheimem Wege weiterhin den Kontakt mit den Brüdern aufrecht.
Das neue Büro wurde in der Corso di Porta Nuova 19 eröffnet. Es handelte sich um ein ansprechendes Apartment, das in Büroräume umgewandelt und mit schönen Möbeln ausgestattet worden war. Schwester Maria Pizzato erhielt die Zuteilung, dort als Sekretärin für Bruder Harbeck zu arbeiten.
Es ist interessant, wie Schwester Pizzato die Wahrheit kennenlernte. Vielleicht erinnern wir uns daran, daß zu Beginn des Jahrhunderts Der Wacht-Turm durch die führenden Zeitungsagenturen in den bedeutendsten Provinzstädten verbreitet wurde. Maria Pizzatos Mutter kaufte in den Jahren 1903 und 1904 einige Ausgaben von einem Zeitungshändler auf dem Piazza Vittorio Emanuele in Vicenza, einem der bekanntesten Plätze in der Stadt. Erst viele Jahre später (1915) las Maria Pizzato diese Zeitschriften erneut, aber jetzt mit größerer Aufmerksamkeit. Diesmal wurde ihr Interesse geweckt, und sie beschloß, nach Pinerolo zu schreiben. Clara Cerulli, die damals noch eine Schwester war, antwortete ihr und sandte ihr einige Veröffentlichungen. Auf diese Weise begann Maria Pizzato, die wahrhaft lebengebende Erkenntnis zu schätzen.
Das neue Büro in Mailand war bei der dortigen Handelskammer unter dem Namen „Società Watch Tower“ — eine Gesellschaft für die Verbreitung und den Druck biblischer Bücher und Traktate — eingetragen. Bruder Harbeck hatte die Leitung. Man eröffnete ein Postscheckkonto und mietete ein Postfach. Alles war fertig, und mit Zuversicht vertraute man darauf, eine ausgedehnte Tätigkeit im ganzen Land durchführen zu können. Den Auftakt sollte der Feldzug mit der Broschüre Das Königreich — die Hoffnung der Welt bilden. Man wollte den Feldzug blitzschnell durchführen, um so die gefürchtete O.V.R.A. (Geheimpolizei, die sich mit antifaschistischen Tätigkeiten befaßte) völlig zu überrumpeln. Zu der Zeit gab es nur wenige italienische Brüder, es waren insgesamt kaum mehr als 50. So sorgte das Büro in Bern dafür, daß 20 Brüder aus der Schweiz die Verbreitung durchführten, um Schwierigkeiten für die ortsansässigen Brüder zu vermeiden. Jeder der Schweizer Verkündiger ging in eine andere Stadt Nord- und Mittelitaliens (bis nach Florenz), um die Broschüren von Haus zu Haus, auf den Straßen und den öffentlichen Plätzen zu verbreiten.
In der Provinz Mailand wurde allen Personen in höheren Berufsständen per Post eine Gratisbroschüre zugesandt. Zu dieser Zeit war es nicht gestattet, Literatur aus dem Ausland zu importieren. Deshalb wurde die Broschüre von der Archetipografia in Mailand gedruckt. Drei Exemplare wurden dem Pressebüro der prefettura (Präfektur) vorgelegt, um die erforderliche Erlaubnis zu erlangen, und diese wurde gewährt.
Wie würden die politischen und die kirchlichen Kreise auf diesen theokratischen Blitzfeldzug reagieren? Schon Tage vor dem festgelegten Datum, d. h. einige Tage vor dem 19. März — gemäß dem katholischen Kalender der St.-Josefs-Tag —, war alles startbereit. Über diesen besonderen Feldzug berichtete Schwester Adele Brun, die zu den 20 Schweizer Zeugen gehörte, folgendes:
„Ich wurde nach Turin gesandt. Bruder Boss aus Bern wartete auf mich. Er hatte schon ein Zimmer für mich gefunden, und 10 000 Exemplare der Broschüre lagen in Paketen in einem Lagerhaus am Ort. Bruder Boss teilte mir mit, daß ich mit den einheimischen Zeitungsverkäufern Verbindung aufnehmen und sie bitten sollte, mir bei der Verbreitung zu helfen, denn die Arbeit sollte so schnell wie möglich durchgeführt werden. Das tat ich. Dann ging Bruder Boss weg, und ich war auf mich allein gestellt.
Ich nahm mit insgesamt 12 Zeitungsverkäufern Verbindung auf, und wir kamen überein, daß jeder von ihnen für die Verbreitung der Broschüren 20 Lire pro Tag bekommen sollte. Eine Frau, die mir die Geschickteste zu sein schien, bat ich, die Sache in die Hand zu nehmen, und versprach ihr zusätzlich 10 Lire, wenn sie alles gut organisieren würde. Außerdem suchte ich vier Zeitungsverkäufer aus, die für den Nachschub sorgen sollten. Bei ihnen konnte man je nach Bedarf weitere Broschüren erhalten. Die Aktion war sehr erfolgreich. Überall wurden Broschüren zurückgelassen, sogar in Restaurants und Büros.
Gegen Mittag teilte mir der Besitzer des Lagerhauses, wo wir die Broschüren deponiert hatten, mit, daß er am nächsten Tag (St.-Josefs-Tag) schließen würde. Was sollte ich tun? Würde ich warten, bis der Feiertag vorüber wäre, dann hätten die Priester Gelegenheit gehabt, die Literatur beschlagnahmen zu lassen.
Etwa gegen 3 Uhr nachmittags kehrten die 12 Zeitungsverkäufer einer nach dem anderen zurück. Sie waren sehr müde und wollten nach Hause gehen, denn sie hatten noch nichts gegessen. Anstatt sie nach Hause zu schicken, besorgte ich etwas zum Essen, und wir nahmen zusammen eine Mahlzeit ein. Dann schlug ich vor: ,Wenn Sie die Arbeit bis heute abend schaffen, werde ich Ihnen zusätzlich 10 Lire geben.‘ Sie waren einverstanden, und nach einer kurzen Pause gingen alle wieder an die Arbeit. Am Abend waren alle Broschüren verbreitet.“
Nachdem Schwester Brun auch in der Stadt Novara an dem Feldzug teilgenommen hatte, war es Zeit für sie abzureisen. Sie berichtete: „Ich bestieg einen Zug nach Mailand, wo man 200 000 Exemplare der Broschüre beschlagnahmt hatte. Noch in derselben Nacht kehrte ich in die Schweiz zurück, wo mein Mann meiner Ankunft schon besorgt entgegensah. Die Tätigkeit wurde so schnell und unerwartet durchgeführt, daß es nicht gelang, auch nur einen der 20 Brüder festzunehmen.“ Man schätzte, daß trotz der Menge beschlagnahmter Literatur etwa 300 000 Broschüren verbreitet worden waren.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. „Nur zwei oder drei Tage nach dem Feldzug“, berichtet Schwester Pizzato, „überschütteten uns die Tageszeitungen mit wütenden Angriffen, besonders diejenigen, die unter dem Einfluß der Geistlichkeit standen. Das Büro in der Corso di Porta Nuova wurde regelrecht mit Anfragen überschwemmt, und aus ganz Italien trafen Briefe ein, in denen um Bücher oder Erklärungen gebeten wurde.
Zu diesem kritischen Zeitpunkt erschienen im Büro zwei Polizisten, die Bruder Harbeck und mir befahlen, unverzüglich die questura [Polizeipräsidium] aufzusuchen. Nach der Vernehmung wurde Bruder Harbeck angewiesen, das Büro zu schließen. Man war bereit, uns die beschlagnahmten Broschüren unter der Bedingung zurückzugeben, daß wir sie in die Schweiz ausführten. Es wurde erklärt, daß diese Maßnahmen zur Wahrung des Ansehens und der Würde der katholischen Kirche im Einklang mit den Lateranverträgen getroffen worden seien.“
Nachdem das Büro in Mailand nur wenige Monate nach seiner Eröffnung wieder geschlossen worden war, setzte Bruder Cuminetti — auf sich allein gestellt — heimlich und mit Geduld die Korrespondenz mit den Brüdern fort. Gelegentlich sandte er ihnen etwas Literatur oder schrieb persönliche Briefe. Wenn es ihm möglich war, besuchte er seine Brüder und ermunterte sie im Werk des Herrn.
Im Jahre 1935 zog Bruder Cuminetti von Pinerolo nach Turin, und zwar in die Via Borgone 18. Hier setzte er seine Untergrundtätigkeit fort. Diese Regelung bestand bis zum 18. Januar 1939. An diesem Tag starb Bruder Cuminetti nach einer Operation. Er gab Ärzten und Krankenschwestern bis zu seinem Tod Zeugnis. Obwohl er kaum 50 Jahre alt wurde, bewahrte ihn wahrscheinlich der Tod vor einer weiteren „Odyssee“ im Zweiten Weltkriegs In dieser Zeit heftiger Verfolgung sollten andere Zeugen das Vorrecht haben, ihre Lauterkeit gegenüber Jehova unter Beweis zu stellen.
EINE ZEIT HEFTIGER VERFOLGUNG
Italiens Kriegserklärung an Äthiopien im Jahre 1935 und seine Entscheidung im Juni 1940, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten, brachten für die wenigen Zeugen im Land zunehmende Verfolgung mit sich. Im Laufe der Zeit wurde es für die Brüder immer schwieriger, ihre Neutralität zu bewahren.
Das Zweigbüro in der Schweiz tat sein Bestes, um mit den Königreichsverkündigern in Verbindung zu bleiben. Im Jahre 1939 wurde Schwester Adele Brun beauftragt, die Brüder in Nord- und Mittelitalien zu besuchen. Ihre Besuche erstreckten sich über eine Zeitspanne von drei Wochen. Einige Brüder erinnern sich noch an die Ermunterung und die Freude, die diese erbauenden Besuche auslösten. Bei ihrer Rückkehr in die Schweiz erfuhr Schwester Brun von ihrer verwitweten Schwester Albina, daß ihr die Polizei ständig auf der Spur gewesen war.
Obwohl die wenigen Verkündiger weit verstreut wohnten, wurde das Predigen im Untergrund organisiert, besonders von Bruder Martinelli. Literatur wurde von Personen, die in der Schweiz arbeiteten, über die Grenze gebracht. Sie kamen abends mit der sorgsam versteckten Literatur nach Hause.
Inzwischen hatte Bruder Harbeck eine geheime Unterredung mit Schwester Pizzato, um sie zu ermuntern, mit Brüdern Kontakt aufzunehmen, die nach dem Tode Bruder Cuminettis die Verbindung mit der Organisation verloren hatten. Vom Zweigbüro in Bern erhielt sie etwa 50 Adressen. Der Literaturvorrat befand sich in Mailand in der Wohnung einer angeblich interessierten Person, der Tochter einer verstorbenen Schwester. Diese Frau muß jedoch in irgendeiner Weise mit der Polizei zusammengearbeitet haben. Schwester Pizzato berichtet:
„Diese neue Entwicklung des Werkes war nur von kurzer Dauer. Im September 1939 begannen wir mit der Versendung von Paketen. Sie durften nicht mehr als 3 Kilogramm wiegen, denn bei Paketen dieser Größe war es gemäß den damals geltenden postalischen Bestimmungen nicht nötig, den Absender anzugeben. Gewöhnlich packte ich die Literatur am Abend ein, und um keinen Verdacht zu erwecken, gab ich die Pakete morgens auf dem Weg zur Arbeit auf verschiedenen Postämtern auf.“
Es geschah jedoch etwas, wodurch die Verfolgung der Zeugen zunahm. Unglücklicherweise wurde am 28. Oktober 1939 in Montesilvano ein Paket von einem Postangestellten geöffnet. Es enthielt einige Broschüren und das Buch Feinde. Der Inhalt des Paketes wurde sofort der Polizei übergeben, und die folgende Untersuchung ergab sehr bald, woher das Paket gekommen war, obwohl es keinen Absender hatte. Die Literatur war für Schwester Mariantonia Di Censo bestimmt, die am Tag darauf festgenommen wurde. Am 1. November erhielt dann Schwester Pizzato den Besuch der faschistischen Polizei (O. V. R. A.). Schwester Pizzato berichtet:
„Sehr früh am Morgen stürmte die Polizei meine Wohnung in der Via Vincenzo Monti 28 in Mailand. Es waren sieben Männer — sechs Polizeibeamte und ein commissario [Polizeikommissar]. Sie stürzten ins Zimmer und befahlen mir in schroffer Weise, die Hände hochzuheben, so, als wäre ich ein gefährlicher Verbrecher. Sie fanden bald das, was sie als belastendes Material betrachteten, nämlich eine Bibel und biblische Literatur.
Die O.V.R.A. fand in Schwester Pizzatos Wohnung die Adressen verschiedener Brüder. So konnte die Polizei Razzien bei ihnen durchführen. Von Oktober bis Anfang Dezember wurden etwa 300 Personen von der Polizei verhört, obgleich viele von ihnen nur Abonnenten des Wachtturms waren oder Veröffentlichungen der Gesellschaft besaßen. Ungefähr 120 bis 140 Brüder und Schwestern wurden verhaftet und verurteilt. Von ihnen wurden 26 als Rädelsführer vor das Sondertribunal gestellt.
Guerino D’Angelo, der zu der letztgenannten Gruppe gehörte, berichtet, was bei seiner Festnahme geschah: „Ich säte gerade Mais für eine Familie von Glaubensbrüdern. Die Männer aus dieser Familie waren bereits im Gefängnis. Nur die alten Leute und die Kinder waren noch zu Hause. Die Polizei erschien und befahl mir, die Sämaschine dort zu lassen, wo sie war. Dann brachte man mich ins Gefängnis, wo ich heftig geschlagen wurde.“
Vincenzo Artusi berichtet: „Am 15. November 1939, als ich gerade zur Arbeit ging, erwarteten mich zwei Polizisten unten im Treppenhaus. Sie fragten mich, ob ich Herr Artusi sei. Als ich die Frage bejahte, zwangen sie mich, wieder in die Wohnung zu gehen und zu warten, bis sie alles von oben bis unten durchsucht hatten. Sie kehrten das Unterste zuoberst und rissen Schubladen heraus, um Beweise gegen mich zu finden. Schließlich fanden sie die Dinge, die sie suchten — die Bibel und das Buch Feinde. Sie nahmen mich mit, ohne mir Zeit zu lassen, mich von meinen drei Kindern zu verabschieden. Man brachte mich in einen Raum, in dem sich viele Polizisten befanden. Hier wurde ich drei Stunden lang verhört.“
Schwester Albina Cuminetti, die kurz zuvor ihren Mann verloren hatte, wurde verhaftet und vor das Sondertribunal gestellt. Sie schrieb:
„Ich wurde verhaftet und mit dem Auto ins Gefängnis gebracht. Außer mir befanden sich zwei Polizeibeamte, ein Kommissar und ein hoher Beamter vom Innenministerium im Auto. Ich mußte lächeln bei dem Gedanken, daß vier Männer — zwei von ihnen hohe Beamte — nötig waren, eine so schwache Frau wie mich abzuführen. Ich hatte keine Angst vor ihnen. Im Gegenteil, ich sprach ernsthaft mit ihnen über Gottes Königreich. Sie begannen zu lachen, aber ich sagte ihnen, daß sie sich nicht über mich lustig machten, sondern über die Verheißungen Gottes, und das werde nicht ungestraft bleiben. Ich fügte hinzu, daß ihr Spott sich in Verbitterung verwandeln werde. Tatsächlich starben der Kommissar und der Beamte vom Ministerium nach dem Sturz des faschistischen Regimes im Gefängnis.“
DIE FASCHISTISCHE REGIERUNG ERGREIFT SONDERMASSNAHMEN
Wir haben bereits erwähnt, daß die Verfolgung der wahren Christen nach dem Jahre 1935 heftiger wurde. Warum?
Am 9. April 1935 gab die Abteilung für Kultgemeinschaften vom Innenministerium ein Rundschreiben, betitelt „Pfingstbewegung“, heraus. Damals kannten die Behörden Jehovas Zeugen noch nicht genau und waren der Meinung, sie würden zur „Pfingstbewegung“ gehören. In dem Rundschreiben, das den Verwaltungen der Provinzen zugesandt wurde, hieß es, daß jene Gemeinschaften, deren Tätigkeit „im Widerspruch zu unserer Gesellschaftsordnung steht und sich schädlich auf die physische und geistige Wohlfahrt unseres Volkes auswirkt“, unverzüglich aufzulösen seien.
Am 22. August 1939 wurde ein weiteres Rundschreiben (Nr. 441/027713) herausgegeben: „Religiöse Sekten wie die Pfingstbewegung und ähnliche“. Darin hieß es:
„Schon seit geraumer Zeit beobachtet man in Italien die Existenz gewisser evangelischer Sekten aus dem Ausland, aber ganz besonders aus Amerika. Ihre Lehren stehen im Gegensatz zu jeder bestehenden Regierung. ...
Die ,Pfingstler‘ sind äußerst aktive und hartnäckige Propagandisten. Nachdem vor kurzem Maßnahmen gegen sie ergriffen wurden, versuchen sie sich zu versammeln, wo immer sie können, sogar unter freiem Himmel. Meistens jedoch treffen sie sich in den Wohnungen ihrer Anhänger — ob bei Tag oder bei Nacht —, um der Überwachung durch die Behörden zu entgehen. ...
Unlängst verweigerten Personen, die zum Militärdienst einberufen worden waren, das Übungsschießen, denn als ,Pfingstler sind sie grundsätzlich gegen den Gebrauch von Waffen. ...
Deshalb ist es notwendig, diesen Sekten mit der äußersten Entschlossenheit zu begegnen. ...
Wir bitten also darum, daß eine genaue Untersuchung angestellt wird, um festzustellen, ob in den verschiedenen Provinzen Gruppen der Pfingstbewegung oder ähnliche Sekten existieren. Gegen jedermann, der sich an propagandistischen Tätigkeiten beteiligt, religiöse Bräuche pflegt oder Zusammenkünfte besucht, sollte gerichtlich vorgegangen werden. In bezug auf andere Fälle sollten Anweisungen vom Ministerium angefordert werden. Außerdem empfehlen wir, daß alle bekannten Mitverbundenen der in Frage kommenden Sekten streng bewacht und daß sie selbst und ihre Wohnungen bei dem geringsten Verdacht regelmäßig durchsucht werden, um festzustellen, ob sie Druckerzeugnisse für Propagandazwecke besitzen oder zwecks Religionsausübung Kontakt mit Gleichgesinnten aufrechterhalten. ...
Bei allen Broschüren, die bisher bei den Anhängern der Pfingstbewegung beschlagnahmt worden sind, handelt es sich um Übersetzungen amerikanischer Publikationen, die fast ausnahmslos von einem gewissen J. F. Rutherford geschrieben und von der ,Watch Tower Bible and Tract Society — International Bible Students’ Association —, Brooklyn, N. Y., USA‘, gedruckt worden sind ... Die Broschüren haben die folgenden Titel ... [Eine Liste der Wachtturm-Publikationen folgte.]
Die Einführung solcher Broschüren in das Reich und die nachfolgende Verbreitung müssen verhindert werden.
Abschließend sollte beachtet werden, daß zwar die Sekte der Pfingstbewegung die einzige ist, die klar gekennzeichnet ist, doch wird Bezug genommen auf ,Sekten‘ und nicht auf eine einzige ,Sekte‘, denn die obenerwähnten Broschüren vermitteln den Eindruck, als wären andere Sekten oder Glaubensgemeinschaften aus den ursprünglich anerkannten evangelischen Religionsorganisationen hervorgegangen.
Die in dem Rundschreiben empfohlenen Maßnahmen waren für die Welle der Festnahmen verantwortlich, die gegen Ende des Jahres 1939 zu einer Masseninhaftierung von Zeugen Jehovas führte.
BERICHT ÜBER JEHOVAS ZEUGEN
Dr. Pasquale Andriani, der Polizeichef von Avezzano (Abruzzen), führte in Übereinstimmung mit den Bestimmungen, die in dem zuvor erwähnten Rundschreiben enthalten waren, eine Untersuchung durch. Am 12. Januar 1940 sandte er den Bericht darüber an den Staatsanwalt des Sondertribunals zum Schutze des Staates. Einen Durchschlag übersandte er dem Polizeipräsidenten. Die Überschrift dieses Berichtes lautete: „Die religiöse Sekte der ,Zeugen Jehovas“. Zu den wesentlichen Punkten darin zählten die folgenden Ausführungen:
„Das Innenministerium gab in einem Rundschreiben vom August letzten Jahres Anweisungen heraus, nach denen die Glieder jener Sekten, die ihre Tätigkeit in den politischen Bereich ausdehnen, kenntlich gemacht werden sollten. Diese Sekten sollten deshalb wie politische Bewegungen umstürzlerischer Natur betrachtet und behandelt werden.
Wir meinen, daß eine gründliche Befolgung der Anordnungen weitere Untersuchungen erforderlich macht, um zwischen den verschiedenen Sekten, die in bestimmten Provinzen des Reiches ziemlich starke Gruppen von Anhängern haben, zu unterscheiden. ...
Die Sekte [Jehovas Zeugen] ist, vom politischen Standpunkt aus gesehen, besonders gefährlich. ...
Zusammenfassend kann gesagt werden [aus der Broschüre ,Warnung‘], daß der ,Duce‘ mit dem Riesen Goliath verglichen wird und daß ,das verhaßte Ungetüm der heutigen Zeit die totalitäre Regierung unter einem absoluten und willkürlich herrschenden Diktator‘ ist und von der Kirche in Rom, ‚der großen Hure‘, unterstützt wird. Nachdem das italienische Volk unterworfen worden war, hat dieses Regime damit begonnen, ,auf Kosten so vieler Menschenleben‘ Äthiopien zu erobern. ...
Der schwierigste Aspekt des Problems ergibt sich jedoch aus ihrem Respekt vor dem christlichen Gebot ,Du sollst nicht töten‘ und ihrer Überzeugung, daß sie unter keinen Umständen eine Waffe gegen ihren Nächsten erheben sollten.
Deshalb sind sie der Meinung, sie müßten von jeder Art Militärdienst befreit werden. Ihre jungen Leute verweigern die militärische Ausbildung, und wenn sie aufgrund dieser Haltung eingesperrt werden, verweigern sie nach Beendigung ihrer Strafe erneut die Teilnahme.“
In dem Bericht wird außerdem ein Rundschreiben erwähnt, das Schwester Pizzato den Brüdern zusandte, und es werden einige Auszüge daraus zitiert: „Mit Hilfe dieses Rundschreibens — wir besitzen davon mehrere und fügen ein Exemplar bei — wurden Gläubige ermuntert, sich ,die in diesen unheilvollen Zeiten so notwendige geistige Speise‘ nicht entgehen zu lassen. Sie wurden darüber unterrichtet, daß in Mailand ein Depot eingerichtet worden sei, wo sie ,Literatur‘ bestellen und Abonnements auf die Zeitschrift ,Der Wachtturm‘ erneuern könnten. Die Empfänger wurden außerdem darauf aufmerksam gemacht, daß es ,mit Rücksicht auf die schwierige Situation in diesem Land‘ notwendig sei, ,äußerst vorsichtig‘ bei der Literaturbestellung vorzugehen. Bestellungen mußten gemäß abgesprochenen Schlüsselwörtern vorgenommen werden, wobei mehrere Zahlen oder Buchstaben die erbetenen Bücher kennzeichneten: ,Feinde‘: 1-33-1; ,Warnung‘: 2-44-2; ,Das Königreich‘: 3-55-3; ,Wachtturm‘: WT.“
DIE ANSTIFTER WERDEN ENTLARVT
Die Behörden gingen zielstrebig gegen uns vor. Warum? Wer steckte wirklich hinter den Massenverhaftungen? In dem zuvor erwähnten Bericht wurde in Verbindung mit der Schließung des Büros in Mailand ausdrücklich gesagt: „Schon nach wenigen Monaten wurde das Büro wegen der antifaschistischen Töne in den verbreiteten Büchern und aufgrund der Reaktion der katholischen Geistlichkeit von der Mailänder Polizei geschlossen“ (Kursivschrift von uns).
Der Bericht erwähnt dann die Tätigkeit der 26 festgenommenen Zeugen; sie werden als die Hauptverantwortlichen dieser religiösen Bewegung in Italien bezeichnet.
Die Tatsache, daß hauptsächlich die Geistlichkeit für die vorhandenen Schwierigkeiten mit den faschistischen Behörden verantwortlich war, ist auch aus den Falschanklagen ersichtlich, die in einem Artikel der katholischen Zeitschrift Fides vom Februar 1939 enthalten waren. In dem Artikel, der von einem anonymen „Priester und Seelsorger“ geschrieben worden war, hieß es:
„Rutherford [der zweite Präsident der Watch Tower Society] ... untergräbt die elementaren Grundsätze, auf die sich Nationen und Völker stützen. Sein Plan besteht darin, den Weg für eine bevorstehende Weltrevolution zu bereiten, in der alle Religionen, besonders die katholische Kirche, zusammen mit allen Regierungen und Königreichen gestürzt werden sollen, damit das utopische System des atheistischen Kommunismus eingeführt werden kann. ... Die Bewegung der Zeugen Jehovas ist ein Ausdruck des atheistischen Kommunismus und bedeutet einen offenen Angriff auf die Staatssicherheit.“
Die faschistischen Behörden konnten diese Beschuldigungen von seiten der hochgeachteten Geistlichkeit schwerlich ignorieren. Deshalb wurden Jehovas Zeugen verfolgt und angeklagt, Königreiche und Regierungen zu stürzen und darauf hinzuarbeiten, einen atheistischen, kommunistischen Idealstaat aufzurichten.
DAS WERK WIRD VOLLSTÄNDIG VERBOTEN
Nach Erhalt dieses Berichtes gab das Innenministerium ein weiteres Rundschreiben heraus — das letzte seiner Art —, in dem Jehovas Zeugen eindeutig bezeichnet und verboten wurden. Es handelte sich um das Rundschreiben Nr. 441/02977 vom 13. März 1940: „Die religiöse Sekte der ,Zeugen Jehovas‘ oder ,Bibelforscher‘ und andere religiöse Sekten, deren Grundsätze im Gegensatz zu unserer Verfassung stehen“. Darin wurde ausgeführt:
„Nach Verbreitung des amtlichen Rundschreibens Nr. 441/027713 vom 22. August 1939 wurde eine strengere Untersuchung jener religiösen Sekten angestellt, die sich klar und deutlich von der bekannten Sekte der ,Pfingstbewegung‘ unterscheiden und deren Satzungen im Gegensatz zu unserem Staatssystem stehen.
Aufgrund dieser Untersuchung stellte man fest, daß es sich bei der ,Watch Tower Bible and Tract Society — International Bible Students’ Association —, Brooklyn, New York, USA‘, ... um eine unabhängige evangelische Sekte, gewöhnlich unter dem Namen ,Jehovas Zeugen oder ,Bibelforscher bekannt, handelt. Unter Berücksichtigung der Aussagen vieler inhaftierter ... [Mitglieder] und einer Untersuchung der Druckerzeugnisse, die bei ihnen gefunden wurden, war es uns möglich, die Merkmale der Sekte klar aufzuzeichnen. ...
Das einzige von Jehovas Zeugen anerkannte Gesetz ist das Gesetz Gottes; jedoch beachten sie die bürgerlichen Gesetze, wenn sie nicht im Widerspruch zum göttlichen Gesetz stehen. ...
,Jehovas Zeugen’ verkünden, daß ,der Duce’ und der Faschismus vom Teufel stammen und daß dieses Phänomen nach einer kurzen Zeit des Sieges unweigerlich in die Vernichtung gehen wird, wie es in dem Buch der Offenbarung vorhergesagt worden ist. ...
Es sollte deshalb keine Mühe gescheut werden, auch nur das geringfügigste Anzeichen der Tätigkeit dieser Sekte zu unterdrücken. Da sie durch Druckerzeugnisse unterhalten wird, die der ,Watch Tower‘ herausgibt, sind strenge Maßnahmen berechtigt, diese Literatur bei jeder Gelegenheit zu beschlagnahmen oder sie abzufangen, falls sie per Post versandt werden sollte.“a
VOR DEM SONDERTRIBUNAL
Das faschistische Sondertribunal entstand nach einem Attentat auf Mussolini im Oktober 1926 in Bologna. Es war eine der vielen Maßnahmen, die getroffen wurden, um jede antifaschistische Bewegung im Keim zu ersticken. Unter dem Namen „Das Sondertribunal zum Schutze des Staates“ war es von 1927 bis 1943 tätig. In dieser Zeit wurden 5 000 Urteile gefällt, einschließlich 42 Todesurteilen (von denen 31 vollstreckt wurden). Der Hauptsitz des Gerichts befand sich im Justizpalast in Rom.
Am 19. April 1940 nahm das Gericht auf der imposanten halbkreisförmigen Bank im nüchternen Gerichtssaal des Justizpalastes unter dem Vorsitz des weithin gefürchteten Tringali Casanova Platz. Die Angeklagten — 4 Frauen und 22 Männer, letztere in Handschellen — saßen in einer Reihe auf einer Seite des Saales. Sie wurden von einigen Karabinieri (Polizisten) bewacht. Es war eine Wiederholung dessen, was treuen Christen im alten Rom widerfahren war.
Schwester Pizzato berichtet: „Die Verhandlung war nur eine Farce. An einem einzigen Tag war alles vorbei. Die Urteile waren ganz offensichtlich schon im voraus gefällt worden. Wenn ich nach all den Jahren zurückdenke, kommt mir ein Vorfall in den Sinn, der fast ulkig schien. Ich mußte zuerst vor Gericht aussagen, und in meiner Nervosität sprang ich auf und stürzte auf den Gerichtspräsidenten zu. Offenbar erwartete man irgendeinen Gewaltakt oder eine Flut von Schimpfworten, denn die Karabinieri liefen herbei und hielten mich zurück. Fürst Tringali Casanova, der Gerichtspräsident, wurde blaß!
Das Gericht hatte die Verteidigung einigen Rechtsanwälten aus dem römischen Zuständigkeitsbereich übertragen. Ich muß sagen, sie verteidigten unseren Fall gut und sprachen mit einer solchen Herzlichkeit zu unseren Gunsten, daß der Präsident mit unüberhörbarem Sarkasmus einen von ihnen fragte, ob er zufällig die Religion der Zeugen Jehovas angenommen habe.“
Die sieben Verteidiger taten ihr Bestes, aber die Brüder wurden trotz allem für schuldig befunden. Einer der Anwälte hatte den Mut, die 26 Zeugen „die Zierde der italienischen Nation“ zu nennen. Ein anderer fragte: „Wenn das faschistische Regime so stark ist, wie es behauptet, warum fürchtet es dann diese Leute?“ Ein dritter sagte: „Diese Verhandlung erinnert mich an eine andere, die vor 1 900 Jahren stattgefunden hat. Pilatus stellte damals die Frage: ,Was ist Wahrheit?‘ “ Dann machte er eine Geste in Richtung der Brüder und sagte: „Diese Leute hier sagen uns die Wahrheit, und dennoch wollen Sie sie ins Gefängnis werfen; diese ehrenwerten Leute sollten für ihren Glauben hochgeachtet werden.“ Ein anderer Anwalt sagte: „Obwohl es sich um 26 Personen handelt, sprechen sie doch wie e i n Mann, denn sie alle haben e i n e n Lehrer“ (Joh. 18:33-38).
Die Brüder erwiesen sich vor Gericht als mutig und stark, obgleich einige von ihnen während der Verhöre bedroht worden waren und fürchteten, zum Tode verurteilt zu werden. Bruder Guerino D’Angelo erinnert sich:
„Nur einer von uns 26 wurde von Menschenfurcht übermannt und ging einen Kompromiß ein. Er unterzeichnete eine Erklärung, durch die er sich dem faschistischen Staat unterwarf. Sie wurde von einem Richter vorgelesen. Dennoch wurde auch er verurteilt. Der Richter wandte sich an die Brüder und sagte: ,Dieser Mann taugt weder für uns noch für Sie etwas.‘ Später gab der Betreffende die Wahrheit auf. Er gehörte zu den ganz wenigen, die ihre Lauterkeit nicht bewahrten.“
Die Brüder wurden insgesamt zu 186 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafen der einzelnen beliefen sich auf zwei bis elf Jahre. Das Urteil des Gerichts war endgültig, und es konnte keine Berufung eingelegt werden. Die verurteilten Brüder blieben bis zum Sturz des faschistischen Regimes im Gefängnis. Sie wurden — mit einigen Ausnahmen — nach dem Monat August 1943 entlassen.
In dem Buch, betitelt Aula IV — Tutti i processi del Tribunale Speciale fascista (Gerichtssaal IV — Alle Gerichtsverhandlungen des faschistischen Sondertribunals), wird das Urteil Nr. 50 vom 19. April 1940 erwähnt, das über die 26 Zeugen Jehovas ausgesprochen worden war, und folgendes dazu gesagt:
„Eine religiöse Bewegung aus den USA begann sich in Italien auszubreiten. Ihre Anhänger, bekannt als ,Jehovas Zeugen‘, wurden ständig von den Faschisten verfolgt. Dennoch fuhren sie fort, ihre Abneigung gegen den Krieg zu verkünden. Sie weigerten sich, mit Waffengewalt gegen ihre Mitmenschen vorzugehen, und betrachteten das faschistische Regime als eine ,Ausgeburt Satans‘. Die größte Verhaftungswelle ging im Herbst 1939 über das Land. (Bildung einer Gemeinschaft gegen die nationalen Interessen; Mitgliedschaft derselben; Propaganda; Beschimpfung des ,Duce‘ und des Papstes.)“
Eine Vorstellung der gegen die Brüder vorgebrachten Beschuldigungen vermittelt das Dokument, das von der Procura del Re (Staatsanwaltschaft) von Vicenza für Schwester Pizzato ausgestellt wurde. Sie wurde in fünf Anklagepunkten verurteilt: „Fünf Jahre Gefängnis für die Teilnahme an Versammlungen zur Anstiftung einer politischen Verschwörung; ein Jahr Gefängnis für Verletzung der Würde und Schädigung des Ansehens des ,Duce‘, des Staatsoberhauptes; zwei Jahre Gefängnis für Beleidigung des Pontifex maximus; ein Jahr Gefängnis für Verletzung der Würde eines ausländischen Staatsoberhauptes [Hitler] und zwei Jahre Gefängnis für Schädigung des Ansehens von König und Reichsherrscher.“
Dreizehn der 26 angeklagten Zeugen stammten aus der Abruzzenregion. Deshalb hieß es in dem Buch Abruzzo, un profilo storico (Abriß der Geschichte der Abruzzenregion) von Raffaele Colapietra (herausgegeben von Rocco Carabba): „Keine einzige politische Partei [in der Abruzzenregion], nicht einmal die Kommunisten, kann sich einer so zahlreichen und schwergeprüften Gruppe rühmen, wie es diese bescheidenen, arglosen Bauern von der Küste sind.“
BRÜDER IM GEFÄNGNIS
Die Erfahrungen der Brüder, die in den Kriegsjahren im Gefängnis waren, zeigen, daß Jehova sie stets liebevoll unterstützte. Außerdem waren sie im Glauben und im Mut vorbildlich. Im Gefängnis fuhren sie eifrig fort, mit anderen über die „gute Botschaft“ zu sprechen, aber selbst dort wurden sie von der Geistlichkeit verfolgt.
Santina Cimorosi aus Roseto degli Abruzzi, die zur Zeit ihrer Verhaftung 25 Jahre alt war, berichtet:
„Wir wurden auf die Polizeiwache gebracht, und man sagte, wir seien eine Gefahr für den Staat, weil wir mit dem Krieg nicht ein erstanden seien. Mein Vater [Domenico Cimorosi] kam in eine Zelle und ich in eine andere. In den Zellen war es dunkel. Der Polizist machte die Taschenlampe an und wies auf eine hölzerne Schlafstelle. Dann schloß er mich ein. Als ich das Geräusch des sich drehenden Schlüssels vernahm, überkam mich eine Welle von Beklommenheit und Furcht. Ich fing an zu weinen. Dann kniete ich nieder und betete laut zu Jehova. Nach und nach wich die Furcht von mir, und ich hörte auf zu weinen. Jehova erhörte mein Gebet, indem er mir Kraft und Mut verlieh, und ich erkannte, daß ich ohne seine Hilfe nichts war. Die Nacht verbrachte ich betend, und am nächsten Morgen wurde ich in das Gefängnis von Teramo gebracht, wo ich zusammen mit meinem Vater, mit Caterina Di Marco und drei anderen Brüdern eine Zelle teilte. Insgesamt waren wir sechs.
Von Zeit zu Zeit verhörte man uns, um herauszufinden, wer unsere ,Führer‘ seien. Ich wurde wiederholt gefragt: ,Sind Sie noch ein Zeuge Jehovas?‘ Und natürlich antwortete ich stets: ,Ja!‘ Auch versuchte man, mich einzuschüchtern, indem man sagte, ich würde nie aus dem Gefängnis entlassen werden. Aber ich vertraute auf Jehova und seine Macht, mir zu helfen. Später stellte man einen Altar vor meiner Zellentür auf. Er wurde extra für mich dort aufgestellt, und einige Wochen lang hielt der Priester dort die Messe. Man ließ meine Zellentür offen, um zu sehen, ob ich wieder zur katholischen Kirche zurückkehren würde. Oder vielleicht hoffte man auch, daß ich den Gottesdienst stören würde, wodurch ich eine längere Strafe verdient hätte. Aber ich blieb ruhig in meiner Zelle, so, als würde draußen nichts geschehen. Ich dankte Jehova, weil er mir half, weise zu handeln. Als man bemerkte, daß ich nicht reagierte, entfernte man den Altar schließlich, und der Priester kam nicht mehr.
Bruder Dante Rioggi, der die Wahrheit durch Bruder Marcello Martinelli kennengelernt hatte, berichtet: „Mir wurde nicht erlaubt, vom Gefängnis aus meinen Verwandten oder anderen Personen zu schreiben. Meine Literatur, das Geld und die Armbanduhr wurden mir weggenommen. Von November [1939] bis Ende Februar litt ich unter der Kälte, und zwar nicht nur, weil die Zelle nicht geheizt war, sondern auch, weil im Fenster kein Glas war. Ich erhielt nicht einmal Wäsche zum Wechseln, und schnell wurde aus mir eine jämmerliche, abstoßende Kreatur voll Ungeziefer. Zwei- bis dreimal besuchte mich ein Priester und versicherte mir, ich würde freigelassen, wenn ich zur Religion meiner Eltern zurückkehrte. Ich wandte mich an die questura [Polizeipräsidium] und erhielt eine Bibel. Ich schöpfte Mut aus dem Beispiel treuer Männer, die ihre Lauterkeit sogar unter Einsatz ihres Lebens bewahrt hatten und von Jehova gesegnet worden waren. Das Gebet war eine weitere Kraftquelle, durch die mein Glaube an Jehovas Verheißungen gestärkt wurde.“
Bruder Domenico Giorgini, der bereits über 40 Jahre treu im Dienst steht und noch als Ältester in einer Versammlung in der Provinz Teramo dient, berichtet: „Man schrieb den 6. Oktober 1939. Während wir im Weinberg mit der Weinlese beschäftigt waren, sah ich einen Lastwagen mit zwei Polizeibeamten vor meinem Haus vorfahren. Sie brachten mich ins Gefängnis von Teramo, wo ich fünf Monate verbrachte. Dann wurde ich zu drei Jahren Verbannung auf der Insel Ventotene verurteilt. Hier war ich mit fünf Brüdern und etwa 600 politischen Gefangenen zusammen. Unter diesen Gefangenen befanden sich einige prominente politische Persönlichkeiten. Einer von ihnen wurde später Präsident der Republik. Ich hatte das Vorrecht, mit ihnen über Gottes Königreich zu sprechen. Da das faschistische Regime viele dieser politischen Gefangenen als besonders gefährlich betrachtete, wurde die Insel streng bewacht. Ein Patrouillenboot mit schußbereitem Maschinengewehr wurde eingesetzt, und auf jeden, der einen Fluchtversuch unternahm, wurde geschossen.“
SCHWESTERN IM GEFÄNGNIS
Schwester Mariantonia Di Censo, die von dem Sondertribunal zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, erzählt: „Ich werde die Worte des Untersuchungsrichters nie vergessen. Er sagte: ,Ich habe die Literatur der Zeugen gelesen, um herauszufinden, worum es eigentlich geht, und ich habe die 26 Angeklagten verhört. Sie alle stimmen in ihren Glaubensansichten überein und sind bereit, sich selbst zu beschuldigen, wenn sie dadurch ihre Gefährten retten können. Die Angelegenheit ist nicht so schwerwiegend, wie sie hingestellt wurde. Die Geistlichkeit hat die Sache zu sehr aufgebauscht.‘ “
Schwester Di Censo verbüßte ihre Freiheitsstrafe in Perugia. Eine andere Schwester, die ebenfalls in Perugia im Gefängnis war, war Albina Cuminetti, die ihren irdischen Lauf im Jahre 1962 in Treue vollendete. In einem Bericht heißt es: „Einmal fragte eine Mitgefangene Albina, was sie denn getan habe. Albina erwiderte: ,Ich habe überhaupt nichts getan. Wir alle sind hier, weil wir uns weigern, unsere Mitmenschen zu töten.‘
,Was!‘ rief die Frau aus. ,Sie sind hier, weil Sie es ablehnen zu töten? Wie viele Jahre hat man Ihnen gegeben?‘
,Elf‘, antwortete Schwester Cuminetti.
Daraufhin rief die andere: ,Das hat gerade noch gefehlt! Ihnen hat man elf Jahre gegeben, weil Sie es ablehnen, Ihre Mitmenschen zu töten, mich hingegen hat man zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, weil ich meinen Mann umgebracht habe. Das ist die Höhe! Entweder bin ich verrückt oder das Gericht.‘ “
„Eines Tages“, heißt es in dem Bericht weiter, „hatte Albina Gelegenheit, dem Gefängnisdirektor in Anwesenheit einer Nonne, die mit der Beaufsichtigung von Häftlingen betraut war, Zeugnis zu geben.“
BRIEF DES GEFÄNGNISDIREKTORS
Als sich Schwester Cuminetti und die anderen drei Schwestern, mit denen sie im Gefängnis war, 1953 auf einem Kongreß trafen, schrieben sie einen Brief an den Gefängnisdirektor von Perugia. In der Zwischenzeit war er nach Alessandria versetzt worden, aber schließlich erreichte ihn der Brief, und am 28. Januar 1954 schrieb er folgende bedeutsame Worte:
„Verehrte gnädige Frau!
Vielen Dank für die freundlichen Worte, die Sie in Ihrem Brief für mich fanden. Sie alle waren für ein ,nichtbegangenes Verbrechen verurteilt worden, und es freut mich sehr, zu erfahren, daß Sie sich in Rom, der Stadt, in der Sie vor Gericht gestellt wurden, wieder versammeln konnten, dieses Mal, um auf Ihrem Kongreß Lieder zum Lobpreis Ihres Gottes Jehova zu singen.
Sollten Sie die anderen Damen, die so viel litten für den Gott, an den sie glaubten und immer noch glauben, treffen oder ihnen schreiben, dann richten Sie ihnen bitte meine Grüße aus. Ich werde mich stets an Sie erinnern und bewundere Ihren Glauben und Ihre Charakterstärke.
Ich danke Ihnen für das Buch, das Sie mir gesandt haben, und verbleibe
Ihr
Dr. Antonio Paolorosso
Direktor der Strafanstalt von Alessandria“
„Die geprüfte Echtheit eures Glaubens“, schrieb der Apostel Petrus, ist „viel wertvoller als Gold“ (1. Pet. 1:7). Die Brüder, die ihre Lauterkeit unter Verfolgung bewahrten, erkannten, daß diese Schwierigkeiten ihnen zur Stärkung gereichten.
NEUTRALITÄT EIN SCHUTZ
Das Bewahren der Neutralität diente den Brüdern in Italien als Schutz, wie dies auch in anderen Ländern der Fall war. Ein Beispiel hierfür ist Aldo Fornerone, ein 76 Jahre alter treuer Bruder, der während des Zweiten Weltkrieges eingesperrt und verbannt war. Er berichtet:
„Obwohl die Nationalsozialisten auf dem Rückzug waren, hielten sie noch das Gebiet besetzt, in dem ich wohnte. Während einer Strafexpedition drangen drei deutsche Soldaten in unser Haus ein. Der Offizier sah sofort die Bibel auf dem Tisch liegen und entdeckte ein Bild an der Wand, das eine Szene aus Jesaja 11:6-9 darstellte. Ein Wolf, Lämmer, ein Löwe, eine Ziege und ein Kalb zusammen mit einem kleinen Knaben waren darauf zu sehen. Auf deutsch fragte er: ,Bibelforscher?‘ Ich nickte.
Dann bat er meine Frau auf französisch, ihnen etwas zu essen zu geben, und befahl seinen Männern, die Tür zu schließen und im Haus zu bleiben. Weiter bemerkte er auf französisch: ,Ich habe meinen Männern gesagt, daß uns hier nichts passieren wird, weil Sie Zeugen Jehovas sind. Das sind die einzigen Leute, denen wir vertrauen können.‘ Weiter erzählte er uns, daß er Verwandte in Deutschland habe, die sich im Konzentrationslager befänden, weil sie Zeugen seien. Während die Soldaten aßen, hörte man, daß draußen geschossen wurde. Viele Häuser wurden in Brand gesteckt, und zahlreiche Zivilisten kamen um. Nach der Strafexpedition verließen die Soldaten das Dorf, und der Offizier gab uns zum Abschied die Hand.
Kurz darauf erschien eine Gruppe von 16 italienischen Widerstandskämpfern mit ihrem Anführer. ,Warum hat man Sie nicht mitgenommen wie den Rest der Zivilisten?‘ fragte er. Er kannte mich und wußte, daß ich im Gefängnis und in der Verbannung gewesen war, weil ich mich nicht am Krieg beteiligte. Alle hörten zu, als ich Zeugnis gab, und nahmen die Broschüre Trost für das Volk entgegen. Nachdem auch sie etwas gegessen und getrunken hatten, gingen sie ihres Weges. Der Anführer sagte: ,Wenn jedermann so wäre wie Sie, würden wir nicht wie wilde Tiere gejagt werden, und es gäbe nicht soviel Unheil in der Welt.‘ Durch diese Erfahrung wurde mir wie nie zuvor klar, von welchem Wert die Bewahrung der Neutralität ist.“
HILFE VON BRÜDERN
Die Frauen und kleinen Kinder der Brüder, die ins Gefängnis geworfen worden waren, waren zu Hause auf sich selbst gestellt. Erhielten sie von irgend jemandem Hilfe? Vincenzo Artusi berichtet:
„Als man mich für ein Jahr in einen anderen Teil Italiens verbannte, machte ich mir sehr große Sorgen um meine Frau und meine drei kleinen Kinder. Ich fürchtete auch, daß die Geistlichkeit meine Abwesenheit vielleicht ausnützen würde, um meine Frau von der Wahrheit abwendig zu machen, denn sie war erst kurze Zeit interessiert. Aber Jehova wachte über sie und die Kinder, und meine Familie wurde von den Brüdern, die noch in Freiheit waren, materiell und geistig unterstützt. Aufgrund der liebevollen, erbauenden Besuche der Brüder wandte sich meine Frau schließlich völlig von der katholischen Kirche ab.“
TROTZ DES KRIEGES WIRD DAS WERK FORTGESETZT
Der Sturz des faschistischen Regimes erfolgte im Jahre 1943, und die Mehrheit der Brüder wurde danach aus dem Gefängnis entlassen. Der Krieg wütete jedoch noch immer im Land, und während die Alliierten vom Süden her vordrangen, zogen sich die nationalsozialistischen Truppen langsam in den Norden zurück und hinterließen Tod und Verwüstung.
Selbst in den düstersten Kriegstagen wurden Anstrengungen unternommen, die Verbindung mit den Brüdern aufzunehmen, die noch zu Hause waren und relative Bewegungsfreiheit genossen. Bruder Agostino Fossati, der bis zu seinem Tod im Jahre 1980 treu ausharrte, war wegen der Wahrheit aus der Schweiz ausgewiesen worden. In den Jahren 1940 und 1941 tat er alles in seiner Macht Stehende, um mit gewissen Brüdern zu korrespondieren und ihnen verschiedene Veröffentlichungen zu senden, darunter auch Artikel aus dem Wachtturm, die er aus dem Französischen übersetzt hatte. Im Januar 1942 wurde er festgenommen und in die Verbannung geschickt.
Einige Zeit später suchte Bruder Narciso Riet Zuflucht in Italien. Er wurde in Deutschland als Sohn italienischer Eltern geboren, die aus der Provinz Udine stammten, und wohnte in Mülheim an der Ruhr, bis die Gestapo seine Tätigkeit entdeckte, die darin bestand, Exemplare des Wachtturms in Konzentrationslager zu schmuggeln. Als ihm bewußt wurde, daß es gefährlich sei, länger in Mülheim zu bleiben, half ihm ein Bruder, der bei der Eisenbahn arbeitete, mit seiner Frau in Verbindung zu treten, die erst kurz zuvor nach Italien übergesiedelt war und in Cernobbio am Comer See wohnte, unweit der Schweizer Grenze.
Das Zweigbüro in der Schweiz übertrug Bruder Riet die Arbeit, den Wachtturm vom Deutschen ins Italienische zu übersetzen und die Exemplare dann an die Brüder weiterzuleiten. Um sicherzugehen, daß der Polizei bei der Post nichts in die Hände fiel, wurden Brüdern, die nicht zu weit entfernt in Nord- und Mittelitalien wohnten, die Exemplare persönlich zugestellt.
Bruder Riet kaufte eine Schreibmaschine und begann unverzüglich, die Hauptartikel der Zeitschriften zu übersetzen. Zunächst half ihm Bruder Agostino Fossati, der nach Ende seiner einjährigen Verbannung zurückgekehrt war, und später Schwester Maria Pizzato, die im Jahre 1943 entlassen worden war. Die Zeitschriften gelangten auf geheimen Wegen nach Italien. Nach Fertigstellung der Übersetzung wurden mit Hilfe eines Vervielfältigungsapparates Kopien angefertigt und Bruder Fossati übergeben, der für die Auslieferung verantwortlich war. Er fuhr nach Pescara, Trient, Sondrio, Aosta und Pinerolo, um den Brüdern die geistige Speise zu bringen. Dies tat er unter der ständigen Gefahr, festgenommen und eingesperrt zu werden.
Nach Ankunft Schwester Pizzatos fanden die Nationalsozialisten, unterstützt von ihren faschistischen Handlangern, heraus, wo Bruder Riet wohnte. Schwester Pizzato berichtet: „Eines Tages — es war Ende Dezember — wurde sein Haus umstellt, und ein SS-Offizier mit seinen Männern stürmte hinein. Narciso wurde festgenommen und mit vorgehaltenem Gewehr in Schach gehalten, während die Soldaten das Haus durchsuchten. Sie fanden bald die ,kriminellen‘ Beweisstücke, nach denen sie suchten, nämlich zwei Bibeln und einige Briefe. Narciso schickte man zurück nach Deutschland, wo er in das Konzentrationslager Dachau kam. Dort wurde er schrecklich gequält. Eine längere Zeit mußte er, angekettet wie ein Hund, in einer niedrigen, engen Zelle Tag und Nacht zusammengerollt zubringen. Nachdem ihm in einem Lager nach dem anderen viel Leid zugefügt worden war, wurde er mit anderen unglückseligen Häftlingen zu Tode gebracht, bevor die Alliierten Berlin besetzten. Sein Leichnam wurde nie gefunden.“
Schwester Pizzato setzte die Arbeit fort, die Bruder Riet begonnen hatte, und als Bruder Fossati erneut inhaftiert wurde, mußte sie die geistige Speise auch selbst verteilen. Nachdem sie von jedem übersetzten Artikel 70 Kopien abgezogen hatte, stellte sie sie persönlich den Brüdern zu, solange das Reisen noch möglich war.
Nachdem fast alle Verbindungen durch die Bombenangriffe unterbrochen worden waren, entschloß sie sich, den übersetzten Hauptartikel des Wachtturms vom 1. Januar 1945 (englisch) durch die Post an die Brüder in Castione Andevenno (Sondrio) zu senden. Der Artikel wurde abgefangen und der Polizei übergeben. So wurde Schwester Pizzato erneut verhört. Nach dem Verhör wurde ihr jedoch gestattet, nach Hause zu gehen, und sie beschloß, das Gebiet sofort zu verlassen, um andere nicht in Gefahr zu bringen. Noch in derselben Nacht vernichtete sie alle Beweise ihrer Tätigkeit, die sie von Dezember 1943 bis März 1945 durchgeführt hatte, und zusammen mit der Witwe von Bruder Riet gelangte sie mit Hilfe von Freunden in die Schweiz.
Nach Kriegsende mußten alle Flüchtlinge nach Italien zurückkehren, und die beiden Schwestern gingen nach Cernobbio zurück. Nachdem nun der Faschismus hinweggefegt worden war und der Krieg zu Ende war, beauftragte das Zweigbüro in der Schweiz Schwester Pizzato, mit den Brüdern erneut Kontakt aufzunehmen. Die Brüder hatten schwere Prüfungen durchgemacht, aber sie waren Jehova dankbar und voller Eifer. Sehr wenige waren den Machenschaften des Teufels zum Opfer gefallen. Nun öffnete sich vor ihnen eine große Tür zur Tätigkeit (1. Kor. 16:9).
NEUORGANISIERUNG DES WERKES UND ERÖFFNUNG EINES ZWEIGBÜROS
Gegen Ende des Jahres 1945 besuchten Bruder N. H. Knorr, der damalige Präsident der Watch Tower Society, und sein Sekretär, M. G. Henschel, Europa. Das Zweigbüro in der Schweiz lud Schwester Pizzato ein, nach Bern zu kommen, um Bruder Knorr über die Tätigkeit in Italien zu berichten. Über dieses Treffen schreibt Schwester Pizzato:
„Bruder Knorr erkannte die Notwendigkeit, sofort Broschüren in Italienisch drucken zu lassen, damit mit dem Predigtwerk erneut begonnen werden konnte. Zu diesem Zweck ordnete er an, daß entweder in Mailand oder in Como bestimmte Broschüren gedruckt werden sollten. Inzwischen warteten wir auf Literatur aus den Vereinigten Staaten. Außerdem ließ Bruder Knorr mich wissen, meine Tätigkeit könne, obwohl sie sehr geschätzt werde, nur als eine Übergangslösung betrachtet werden und es sei bereits geplant, die Verantwortung für das Werk so bald wie möglich einem Bruder aus den Vereinigten Staaten zu übertragen.“
Bruder Umberto Vannozzi, ein junger Mann italienischer Herkunft, der in der Schweiz wohnte, war ebenfalls bei der Zusammenkunft anwesend. Er hatte eine Zeitlang die Aufgabe, kleine Gruppen von Brüdern zu stärken und sie im Weg Jehovas zu unterweisen.
Sobald in Como die Voraussetzungen für das Drucken gegeben waren, wurden je 20 000 Exemplare der Broschüren Freiheit in der neuen Welt und „Die Sanftmütigen ererben die Erde“ gedruckt sowie 25 000 Broschüren „Seid fröhlich, ihr Nationen“ und 50 000 mit dem Titel Freude für alles Volk.
Zu dieser Zeit war Cernobbio eine Kleinstadt mit etwa 3 000 Einwohnern und kaum als Ausgangspunkt für die umfangreiche Tätigkeit geeignet, die man sich erhoffte. Aus diesem Grunde ordnete Bruder Knorr im Frühling 1946 an, daß die Brüder ein geeignetes Haus für eine kleine Bethelfamilie von etwa 6 bis 7 Personen suchen sollten. Mit der Hilfe eines Bruders aus dem Büro in Bern wurde ein Haus mit 6 Räumen in der Via Vegezio 20 in Mailand gekauft. So verlegten wir im Juli 1946 den Sitz unserer neuorganisierten Tätigkeit dorthin. In jenem Jahr waren durchschnittlich 95 Königreichsverkündiger tätig, und die Höchstzahl belief sich auf 120 Personen, die in 35 kleinen Versammlungen zusammengefaßt waren. Dies war der Grundstock für unsere zukünftige Mehrung.
Bruder George Fredianelli kam im Oktober 1946 aus den Vereinigten Staaten. Im Jahre 1943 hatte er die erste Klasse der Wachtturm-Bibelschule Gilead absolviert und war seither als Kreisaufseher tätig gewesen. Nun erhielt er die Aufgabe, die Brüder in dem einzigen Kreis Italiens, der von den Alpen bis nach Sizilien reichte, zu bedienen.
Im Januar 1947 trafen zwei weitere Missionare ein, und zwar Joseph Romano und seine Frau Angela. Bruder Romano war zum Zweigaufseher ernannt worden und begann sofort mit der Arbeit im neuen Bethel in Mailand. Einige Monate später kam noch ein Ehepaar, ebenfalls Gileadabsolventen. Es waren Carmelo und Constance Benanti. Die Ankunft von 28 weiteren Missionaren am 14. März 1949 glich fast einem Freudenfest. Sie erwiesen sich wirklich als eine Vorkehrung Jehovas und setzten Zeichen im Hinblick auf die künftige Ausdehnung. Zunächst erhielten sie die Zuteilung, mit Verkündigergruppen in fünf verschiedenen Städten, nämlich in Mailand, Genua, Rom, Neapel und Palermo, zusammenzuarbeiten.
Als nach dem Krieg im Jahre 1946 ein neuer Anfang gemacht wurde, gab es kaum mehr als 100 Verkündiger, die überall im Land verstreut wohnten. Sie hatten weder miteinander noch mit der Organisation Kontakt. Es gab keine regelmäßigen Zusammenkünfte, obwohl die Verkündiger alles taten, was sie konnten, um sich zu versammeln, ob in Privatwohnungen oder sogar in Kuhställen. Sie lasen die eine oder andere Veröffentlichung, schlugen Schrifttexte nach und besprachen sie, so gut es ging. Die Predigttätigkeit bestand zum größten Teil darin, daß man mit Freunden und Verwandten sprach. Der theokratische Aufbau der Christenversammlung war so gut wie unbekannt.
„Erst im Jahre 1944“, schrieb Domenico Cimorosi, „erfuhren wir, daß verantwortliche Stellungen nicht durch allgemeine Wahl, sondern auf theokratische Weise zugeteilt wurden. Da wir die richtige Verfahrensweise nicht kannten, beschlossen wir, es so zu machen wie bei der Wahl des Matthias (Apg. 1:23-26). Wir wählten 10 unserer älteren Brüder aus, schrieben ihre Namen auf schmale Papierstreifen, falteten diese und legten sie in eine Urne. Ein kleines Mädchen nahm ein Stück Papier nach dem anderen heraus, und der erste gezogene Name war der des zukünftigen Aufsehers. Auf diese Weise wurde ich gewählt, und wir machten so weiter, bis unser erster Kreisaufseher eintraf.“
Mit den bescheidenen Mitteln, die den Brüdern zur Verfügung standen, ermunterten sie einander geistig, und es war offenbar, daß der heilige Geist in großzügiger Weise ausgleichend eingriff. Nun war jedoch für Jehova die Zeit gekommen, das Wachstum seines Volkes zu „beschleunigen“ (Jes. 60:22).
ERSTER NACHKRIEGSKONGRESS
Nachdem das Zweigbüro in Mailand eröffnet worden war, entschloß sich Bruder Knorr zu einem Besuch, um der neuorganisierten Tätigkeit zusätzlichen Antrieb zu verleihen. In Verbindung mit seinem Besuch wurde ein eintägiger Kongreß geplant. Es sollte der erste Nachkriegskongreß sein. Alle Brüder und Interessierten sahen der Zusammenkunft mit Bruder Knorr und Bruder Henschel freudig entgegen.
Am 16. Mai 1947 strömten sie alle in das Lichtspieltheater „Zara“, wo der Kongreß stattfinden sollte. Beim Vormittags- und Nachmittagsprogramm waren 239 Personen aus verschiedenen Teilen Italiens anwesend, sogar aus dem weit entfernten Sizilien. Die Zahl derer, die getauft wurden, belief sich auf 31. Unter ihnen befanden sich 13 Schwestern. Erstaunlich ist, daß sich unter den Letztgenannten einige befanden, die von dem faschistischen Tribunal verurteilt worden waren und, weil es ihnen an Erkenntnis über die christlichen Anforderungen gemangelt hatte, erst jetzt getauft werden konnten. Der öffentliche Vortrag mit dem Thema „Freude für alles Volk“ wurde um 20.30 Uhr gehalten und bildete den Höhepunkt der Veranstaltung. Es wurden 700 Besucher gezählt.
Die Brüder mußten große Opfer bringen, um den Kongreß zu besuchen. Weil sie arm waren, schienen die Reise- und Übernachtungskosten sehr hoch zu sein, und zum anderen waren die Zugverbindungen durch die Nachkriegswehen noch unterbrochen. Teresa Russo, eine ältere Schwester aus Cerignola, erzählt:
„Wir waren damals so arm, daß wir nicht einmal Geld hatten, um zum Kongreß zu fahren. Woher sollten wir es bekommen? Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, daß wir unseren Zucker aufsparten, anstatt ihn zu verbrauchen. Später würden wir schon eine Möglichkeit finden, wie wir den Zuckervorrat verkaufen könnten, um die Fahrkarten und die Übernachtungskosten zu bezahlen. Wir füllten unsere Koffer mit Zucker und hängten uns Säcke mit Zucker um die Hüften, ähnlich wie Jäger, die ihre Verpflegung auf diese Weise bei sich tragen. Wir alle wirkten sehr beleibt. Jedenfalls war es sieben von uns möglich, nach Mailand zu fahren, wo wir die Freude hatten, viele Brüder zu sehen.“
Einige der Anwesenden erinnern sich noch daran, was sie empfanden, als sie sich in Freiheit mit den Brüdern versammeln konnten, mit denen sie zuvor im Gefängnis oder in der Verbannung gewesen waren. Aldo Fornerone, ein Kongreßbesucher, berichtet:
„Ich werde nie vergessen, wie bewegt ich war, als ich die lieben Brüder aus Mittel- und Süditalien umarmte, die mit mir im Gefängnis oder in der Verbannung gewesen waren. Nur Jehova kann ermessen, wie dankbar wir waren, in einem Land zusammenzukommen, in dem die Religionsfreiheit wiederhergestellt worden war. Unsere Dankbarkeit stieg auf zu ihm, dem großen Gott, Jehova, denn er hatte sich zugunsten seines Volkes eingesetzt.“
Während des Kongresses umriß Bruder Knorr ein Programm für die theokratische Ausdehnung im Land. Beginnend mit dem Monat Juni, sollte ein monatliches Blatt mit Versammlungsanweisungen, Informator genannt, herausgegeben werden. Gruppen und Versammlungen sollten alle 6 Monate vom Kreisaufseher besucht werden, und Kreiskongresse sollten durchgeführt werden.
Im Juni 1947 erschien die erste Nummer des Informators, und einige Monate lang wurde er vervielfältigt. Am Schluß der ersten Ausgabe, die das vom Präsidenten der Gesellschaft angekündigte Tätigkeitsprogramm enthielt, erging der folgende mitreißende Aufruf: „Daher, liebe Brüder, wollen wir in der Hoffnung vorangehen, daß der wahre Gott hier in Italien eine Schar geweihter Personen hat, die ihm zusammen mit seinem Volk in anderen Ländern Lobpreis darbringt!“
BEGINN DER KREISTÄTIGKEIT
Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Ausdehnung der Königreichsinteressen weitgehend auf die Tätigkeit der reisenden Aufseher zurückzuführen war. Sie besuchten die Versammlungen, um die Brüder zu erbauen, sie in den theokratischen Grundsätzen zu unterweisen und sie im Predigtwerk zu schulen. Erinnern wir uns an Umberto Vannozzi, der im Jahre 1945 mit Bruder Knorr und Schwester Maria Pizzato zusammentraf? In den 30er Jahren war er in Frankreich, Belgien und Holland als Pionier tätig gewesen, und zwar meistens im Untergrund. Nach dem Treffen mit Bruder Knorr setzte er die Besuche bei den überall in Italien verstreut wohnenden Brüdern fort, um vor der Ankunft der Missionare die Verbindung mit ihnen wiederherzustellen. In den Monaten Mai und Juni 1946 besuchte er die größten Verkündigergruppen.
Der erste ernannte Kreisaufseher war jedoch Bruder George Fredianelli, der mit seinen Besuchen im November 1946 begann. Auf der ersten Runde begleitete ihn Bruder Vannozzi.
Im Jahre 1947 wurde der zweite Kreis gebildet und ursprünglich Bruder Giuseppe Tubini zugeteilt. Als er wenige Monate später in den Betheldienst eintrat, übernahm Bruder Piero Gatti seinen Platz. Diese beiden Brüder hatten die Wahrheit in einem der vielen Flüchtlingslager in der Schweiz kennengelernt, wohin Tausende von italienischen Soldaten vor den Nationalsozialisten geflohen waren. Zahllose weitere Brüder, die die Wahrheit im Ausland kennengelernt hatten, kehrten nach dem Krieg mit der Königreichsbotschaft nach Italien zurück. Nach 33 Jahren stehen Bruder Tubini und Bruder Gatti noch immer im Vollzeitdienst, der erstere dient im Bethel und der letztere im Kreisdienst.
BRUDER VANNOZZIS REISEN
Ein Reisebericht von Bruder Vannozzi wird uns erkennen helfen, wie viele Unbequemlichkeiten reisende Aufseher in jenen Tagen zu ertragen hatten. Er schrieb:
„Ich verließ Como und kam nach allen möglichen Abenteuern schließlich in Foggia in der Region Puglia an. Ich sah mich nach dem Bahnhof um, aber umsonst — er war durch einen Bombenangriff dem Erdboden völlig gleichgemacht worden. Ich nahm einen Zug nach Cerignola, wo ich meinen ersten Besuch machen sollte. Aber an einer bestimmten Stelle wurde mir gesagt, der Zug fahre nicht weiter und ich müsse meinen Weg per Lastwagen fortsetzen. Am nächsten Abend um 19 Uhr erreichte ich mein Ziel. Ich war todmüde und schmutzig von der Reise. Trotz allem fühlte ich mich belohnt, als in der Zusammenkunft ein Bruder Jehova im Gebet dafür dankte, daß schließlich, nach all den Jahren des Wartens, jemand von der Organisation sie besuchte. Am Ende des Besuches weinten die Brüder, und auch ich war sehr bewegt.
Ich reiste überall in Italien auf Straßen, die noch Spuren des Krieges aufwiesen, und nicht ein einziges Mal sah ich eine unbeschädigte Brücke. Zweiundzwanzigtausend Brücken waren in die Luft gesprengt worden, und diejenigen, die man noch benutzen konnte, waren von den Alliierten notdürftig repariert worden. Ich sah Hunderte von ausgebrannten Eisenbahnwaggons und Lokomotiven, und alle Städte wiesen Bombenschäden auf.
Ich verließ Cerignola um 6 Uhr morgens, um die Gruppe in Pietrelcina (Benevento) zu besuchen. Um 19 Uhr kam ich in Benevento an, nachdem ich drei Stunden lang auf meinem Gepäck in einem Viehwagen gesessen hatte. Auf dem Bahnhof wartete ich, wie abgemacht, mit dem ,Wachtturm‘ in der Hand, so daß die Brüder mich erkennen konnten. Aber niemand erschien. Was sollte ich tun?
Bis Pietrelcina waren es noch etwa 12 km, und zu einer so späten Stunde gab es keine Möglichkeit, den Ort zu erreichen. Als ich so dastand und wartete, bot mir ein Mann an, mich in seinem zweirädrigen Pferdewagen mitzunehmen. Gegen 21.30 Uhr suchte ich dann im Dunkeln nach Bruder Michele Cavalluzzos Haus. Das war nicht leicht. Aber Jehovas Engel wachte über mich und ließ mich nicht verzagen. Schließlich fand ich das Haus, und Bruder Cavalluzzo freute sich, mir schnell eine Mahlzeit zuzubereiten. War ich hungrig! Seit dem Vorabend hatte ich nichts gegessen. Außerdem war ich sehr müde und sehnte mich danach, ins Bett zu gehen. Aber der liebe Bruder Cavalluzzo hatte viele Fragen und wollte mir in allen Einzelheiten erzählen, wie er in die Wahrheit gekommen war. So blieben wir bis Mitternacht auf. Am nächsten Morgen traf das Telegramm ein, das meine Ankunft ankündigte. Aber ich hatte das Rennen gewonnen — ich war zuerst da!
Fast jeden Abend waren etwa 35 Personen bei den Zusammenkünften anwesend, obwohl fast niemand getauft war. Um 4 Uhr morgens reiste ich von Pietrelcina nach Foggia. Ich kletterte auf ein Pferdefuhrwerk, das von einem Bruder gelenkt wurde. Bruder Donato Iadanza, der Aufseher, begleitete uns. Obwohl die 20er Jahre schon hinter uns lagen, war doch unmittelbar nach dem Krieg das Pferdefuhrwerk das gebräuchlichste Transportmittel. Wir kamen um 6 Uhr morgens in Benevento an, aber o weh — der Zug war bereits weg!
In diesem Moment schlug jemand vor, ich solle mit dem Lokomotivführer sprechen, der eine Lokomotive nach Foggia bringen mußte. Ich kam gerade dazu, als er andere Leute, die ebenfalls mitfahren wollten, abwimmelte. Ich hörte ihn sagen, daß er keinen Platz für Passagiere habe. Trotzdem kletterten wir alle auf die Lok. Bruder Iadanza rannte hinterher und schaffte es gerade noch, mir meinen Koffer zu reichen. Mit 10 anderen Leuten quetschte ich mich in den engen Führerstand der Lokomotive. Da standen wir nun während der fünfstündigen Reise wie die Ölsardinen. Wir alle schwitzten wegen der Hitze und der fehlenden Luft, und durch die umherfliegenden Funken aus dem Dampfkessel wurden wir ziemlich versengt. Als wir uns Foggia näherten, hielt der Lokomotivführer auf freier Strecke an, und wir alle stiegen aus.
Danach besuchte ich die Gruppen in Spoltore, Pianella, Montesilvano, Roseto degli Abruzzi und Villa Vomano. Mein letzter Besuch in dieser Runde galt Faenza, wo etwa 50 Personen die Zusammenkünfte besuchten. Ich ermunterte die jüngeren, den Pionierdienst zu ergreifen, und in meinem Bericht über die Gruppe schrieb ich: ,Hoffen wir, daß eines Tages einige dieser jungen Leute beschließen, in die Reihen derer einzutreten, die dieses großartige Dienstvorrecht wahrnehmen.‘ “
BRUDER FREDIANELLIS TÄTIGKEIT IM KREIS
Bruder George Fredianelli, heute ein Glied des Zweigkomitees, erinnert sich an die folgenden Begebenheiten aus seiner Tätigkeit im Kreisdienst:
„Als ich Brüder besuchte, fand ich gewöhnlich Verwandte und Freunde von ihnen vor, die alle auf mich warteten und begierig zuhörten. Sogar bei Rückbesuchen riefen die Leute ihre Verwandten herbei. Damals hielt man als Kreisaufseher in der Woche eigentlich nicht nur einen öffentlichen Vortrag, sondern man sprach bei jedem Rückbesuch einige Stunden lang. Bei diesen Besuchen konnten sogar bis zu 30 Personen anwesend sein, und manchmal waren es noch viel mehr, die aufmerksam zuhörten.
Die Nachwehen des Krieges machten das Leben im Kreisdienst oft schwierig. Wie die meisten Menschen, so waren auch die Brüder sehr arm, aber ihre liebevolle Freundlichkeit glich alles aus. Ganzherzig teilten sie ihre bescheidenen Nahrungsmittelvorräte mit anderen, und oftmals bestanden sie darauf, daß ich im Bett schlief, während sie sich auf den Fußboden legten, ohne sich zuzudecken, denn sie hatten keine zusätzlichen Decken. Manchmal schlief ich im Kuhstall auf einem Haufen Stroh oder auf getrockneten Maisblättern.
Als ich einmal auf dem Bahnhof von Caltanissetta auf Sizilien ankam, war mein Gesicht so schwarz wie das eines Schornsteinfegers, weil mir der Ruß aus der Lokomotive ins Gesicht geflogen war. Obwohl ich für die 80 bis 100 km lange Wegstrecke 14 Stunden Reisezeit gebraucht hatte, begannen sich bei dem Gedanken an ein erfrischendes Bad und an eine darauf folgende wohlverdiente Ruhe in einem Hotel oder anderswo meine Lebensgeister zu regen. Doch es kam anders. Caltanissetta wimmelte nur so von Menschen, die zur Feier des St.-Michaels-Tages gekommen waren, und jedes Hotel in der Stadt war bis auf den letzten Platz mit Priestern und Nonnen belegt. Schließlich ging ich zum Bahnhof zurück mit dem Gedanken, mich auf die Bank, die ich im Warteraum gesehen hatte, zu legen. Aber selbst diese Hoffnung schwand, denn nach Eintreffen des letzten Abendzuges war der Bahnhof geschlossen worden. Der einzige Platz, wo ich mich hinsetzen und etwas ausruhen konnte, waren die Stufen vor dem Bahnhof.“
Mit der Hilfe der Kreisaufseher begannen die Versammlungen, regelmäßige Wachtturm- und Buchstudien durchzuführen. Als sich überdies die Qualität der Dienstzusammenkünfte verbesserte, wurden die Brüder immer geschickter im Predigen und Lehren.
DER GEISTIGE ZUSTAND DER GRUPPE IN CERIGNOLA
Erinnern wir uns noch an die Gruppe in Cerignola, die aufgrund der Predigttätigkeit von Professor Banchetti entstanden war? „Der geistige Zustand dieser Gruppe war nicht so, wie er hätte sein sollen“, sagt Bruder Fredianelli. Er berichtet:
„Dort herrschte eine eigenartige Situation. Die Versammlung, wenn ich sie so nennen kann, bestand hauptsächlich aus Protestanten und Kommunisten, die behaupteten, Zeugen Jehovas zu sein. Ich brauchte Stunden, um sie davon zu überzeugen, daß sie sich von der falschen Religion trennen und eine neutrale Haltung gegenüber der Politik einnehmen mußten.
Bei einem späteren Besuch hielt ich die Gedächtnismahlansprache und erklärte ausdrücklich, daß nur die Klasse der Gesalbten berechtigt sei, von den Symbolen zu nehmen. Bis zum Schluß der Zusammenkunft ging alles glatt. Sobald sie beendet war, erhob sich einer aus der Gruppe, der sich selbst als verantwortlich betrachtete, und leistete mir offen Widerstand. Er behauptete, daß das, was ich über die Symbole gesagt hätte, nicht wahr sei. Die Bestürzung hierüber war klar erkennbar, und so dachte ich, es sei das beste, alle Anwesenden selbst sofort entscheiden zu lassen. Ich sagte: ,Wer für die Wahrheit und für Jehovas Zeugen ist, folge mir nach draußen! Wer gegen die Wahrheit ist, kann hierbleiben.‘
Zu meiner Erleichterung folgte mir fast jeder nach draußen. Nur drei oder vier blieben bei dem Gegner, der ein bekannter Führer der Kommunisten am Ort war. Mit Ausnahme einiger weniger folgten mir alle in einen anderen Raum, und später machten sie weitere Fortschritte in der Wahrheit.“
ERSTER KREISKONGRESS
Im September 1947 fand der erste Kreiskongreß in Roseto degli Abruzzi statt. Eigentlich sollte er in Pescara durchgeführt werden, aber wegen des Widerstandes von seiten der Geistlichkeit wurde die Erlaubnis für die Benutzung des Saales zurückgezogen. Unerschrocken versammelten sich die Brüder an einem Privatweg, der nur durch den Garten von Bruder Domenico Cimorosi zu erreichen war. Der Weg war eine Art Sackgasse und wurde mit Segeltuch überdacht. Man stellte einen Tisch unter ein Dach von Weinreben, der als Rednerpult diente. Etwa 100 glückliche Brüder waren anwesend.
Zu Beginn der 50er Jahre waren gewöhnlich am Anfang eines Kongresses nur etwa 40 bis 60 Zuhörer anwesend, aber beim öffentlichen Vortrag zählte man durchschnittlich 200 Personen. Die Brüder freuten sich sehr über eine so ansehnliche Besucherzahl.
Das Werk machte weiterhin Fortschritte, und im Jahre 1954 wurde Bruder George Fredianelli zum Bezirksaufseher ernannt.
ANDERE VORKEHRUNGEN
Im Januar 1945 begann die Gesellschaft in den meisten Ländern mit einem Feldzug öffentlicher Vorträge. In Italien konnte diese Vorkehrung erst einige Jahre später verwirklicht werden. Der Informator für Februar 1948 kündigte den Beginn dieses Feldzuges für den 28. März an, und in den darauffolgenden Monaten wurden 13 öffentliche Vorträge gehalten. Einige Jahre vergingen, bevor diese Vorträge regelmäßig in jeder Versammlung gehalten werden konnten.
Da die Brüder Schulung benötigten, wurde im Jahre 1948 die Theokratische Predigtdienstschule eingerichtet. Zunächst führten die Brüder die Zusammenkünfte so gut durch, wie sie konnten, denn es fehlte ihnen an geeigneten italienischen Veröffentlichungen. In Versammlungen, in denen jemand Englisch verstand, übersetzte man die Lehrstücke aus dem Buch Theokratische Hilfe für Königreichsverkündiger. Aber im Jahre 1948 waren sehr wenig Brüder mit der englischen Sprache vertraut. Später, gegen Ende des Jahres 1950, erhielten die Versammlungen vervielfältigte Auszüge aus dem Buch „Ausgerüstet für jedes gute Werk“, die die Lehrstücke enthielten. Hierdurch wurde die Schulung erheblich verbessert.
Im Jahre 1956 war ein weiterer Fortschritt zu verzeichnen. Beginnend mit der Ausgabe vom 1. Januar 1956, brachte Der Wachtturm (italienisch) in regelmäßiger Folge die Lehrstücke aus dem Buch „Ausgerüstet für jedes gute Werk“, während mit der italienischen Erwachet!Ausgabe vom 8. Januar 1956 damit begonnen wurde, eine ähnliche Serie aus dem Buch Zum Predigtdienst befähigt zu veröffentlichen. Das Buch „Ausgerüstet ...“ wurde schließlich 1960 in Italienisch gedruckt, und im Jahre 1963 folgte das Buch Zum Predigtdienst befähigt. Auf diese Weise konnten neue Brüder dem Programm folgen und sich auf die Zusammenkünfte vorbereiten.
DAS ZWEIGBÜRO WIRD NACH ROM VERLEGT
Da Mailand im äußersten Norden Italiens liegt, war man der Ansicht, die zunehmende Tätigkeit ließe sich besser bewältigen, wenn sich das Zweigbüro in einer zentraleren Gegend befände. Daß die Wahl auf Rom fiel, war naheliegend, denn als Hauptstadt ist es auch Sitz der Landesregierung. Im September 1948 erwarb man ein dreistöckiges unterkellertes Haus. Es lag in einer parkähnlichen, sehr schönen Gegend, in der Via Monte Maloia. Das Haus war modern eingerichtet und hatte 12 Zimmer. Noch in demselben Monat wurde das Büro dorthin verlegt. Das Haus in Mailand wurde später verkauft, aber das Haus in der Via Monte Maloia gehört noch immer der Watch Tower Society und wird bis auf diesen Tag voll genutzt.
Die Übersetzung des Buches „Gott bleibt wahrhaftig“ wurde im neuen Bethel abgeschlossen, und im darauffolgenden Jahr (1949) wurde das Buch gedruckt. Es behandelte Glaubenslehren, die besonders für Personen, die ein gewisses Bibelwissen hatten, interessant waren, und es half Tausenden von Menschen, die Wahrheit zu erkennen.
VERSCHWÖRUNG MIT DER ABSICHT, DIE MISSIONARE AUSZUWEISEN
In diesem Land, in dem die Menschen jahrhundertelang nichts von der Bibel gehört hatten, trug die Tätigkeit der Missionare reiche Frucht. Wie schon erwähnt, kam die größte Gruppe von Missionaren im Frühjahr 1949 nach Italien, und überall, wohin sie gesandt wurden, entstanden Versammlungen. Die Menschen „dürsteten“ regelrecht nach dem Worte Gottes.
Außer den üblichen Problemen, die mit dem Einleben in einem fremden Land und dem Erlernen einer Fremdsprache verbunden sind, hatten unsere Missionare ein weit schwierigeres Hindernis zu überwinden. Sie benötigten von den Behörden eine Genehmigung, nach Ablauf ihres Visums im Land bleiben zu dürfen. Das Zweigbüro hatte beim Innenministerium Aufenthaltsgenehmigungen für das Jahr 1949 beantragt. Statt diese zu erhalten, traf für die Missionare wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Aufforderung ein, das Land zu verlassen. Erst nach beharrlichen Bemühungen wurde ihnen erlaubt, bis zum 31. Dezember 1949 zu bleiben. Bis zu diesem Datum sollten sie alle das Land verlassen haben. Das wäre ein schwerer Schlag für die Tätigkeit gewesen, die so gut begonnen hatte.
Warum waren die Missionare angewiesen worden, Italien zu verlassen? Wer steckte hinter alldem? Die betrügerischen Handlungen, die sich hinter den Kulissen abspielten, wurden im Jahrbuch der Zeugen Jehovas für 1951 offen dargelegt. Der Bericht erschien auch im Wachtturm (italienisch) vom 1. März 1951. Es hieß:
„Das Büro hatte, schon ehe die achtundzwanzig Missionare im März 1949 in Italien eintrafen, für alle das gewöhnliche Gesuch um ein Visum für die Dauer von einem Jahr eingereicht. Zuerst sagten uns die Beamten, daß die Regierung solche Gesuche in der Regel vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachte, und so schien die Angelegenheit für unsere Missionare denn beruhigend. Aber nach sechs Monaten erhielten wir vom Innenministerium plötzlich die Mitteilung, daß die Geschwister das Land bis zum Monatsende verlassen haben müßten. Für die Abreise ließ man ihnen gerade eine Woche Zeit. Natürlich weigerten wir uns, diesem Befehl, ohne vorher rechtliche Gegenschritte unternommen zu haben, zu folgen. Es wurden alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, um der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden, wer für diesen hinterhältigen Anschlag verantwortlich sei. Wir setzten uns mit einigen, die beim Ministerium arbeiten, in Verbindung und stellten fest, daß weder von der Polizei noch von anderen Behörden Klagen gegen uns vorlagen und daß daher irgendeine ,höhere Stelle‘ dahinterstecken mußte. Wer konnte dies sein? Ein Freund aus dem Ministerium ließ uns wissen, daß die Aktion gegen unsere Missionare sehr sonderbar sei, denn die Regierung verfolge sonst amerikanischen Bürgern gegenüber eine sehr wohlwollende und entgegenkommende Politik.
Vielleicht kann uns die amerikanische Gesandtschaft behilflich sein, dachten wir. Persönliche Besuche bei derselben und zahlreiche Besprechungen mit dem Gesandtschaftssekretär erwiesen sich jedoch als erfolglos. Es war sehr offensichtlich, daß, wie auch amerikanische Beamte erklärten, irgend jemand, der in der italienischen Regierung große Macht besitzt, nicht wünschte, daß Wachtturm-Missionare in Italien predigen. In Anbetracht dieser starken Macht zuckten amerikanische Diplomaten bloß die Achseln und meinten: ,Nun, ihr wißt ja, die katholische Kirche ist hier die Staatsreligion und tut, was ihr gefällt!‘
Vom September bis Dezember vermochten wir die Aktion des Ministeriums gegen die Missionare zu verzögern. Schließlich kam die Bestimmung heraus, daß die Missionare bis zum 31. Dezember das Land verlassen haben müßten. Es blieb diesmal nichts anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten. Wir sandten diese Missionare in den italienisch sprechenden Teil der Schweiz. Nach einigen Monaten aber war die ganze Gruppe wieder in Italien und predigte von neuem.
Sie wurden nun verschiedenen Städten zugeteilt, was zu einer weiteren Ausdehnung des Werkes führte.
Was geschah nun aber mit den interessierten Menschen guten Willens, die die Missionare in den ihnen vorher zugeteilten Städten gefunden hatten? Die Schafe konnten nicht im Stich gelassen werden. Bruder Knorr bewilligte uns, neue italienische Sonderpioniere zu bestimmen, die in den Missionarheimen wohnen und das gute Werk fortsetzen konnten. Keine Zeit wurde verloren, diese Umstellung vorzunehmen, und auch das Werk hat darunter nicht gelitten. Das Ergebnis dieses Vorfalles war, daß das Wort in neue Gebiete getragen wurde.“
Wie gelang es den Missionaren, nach ihrer Ausweisung wieder in das Land zurückzukehren? Sie nutzten die Möglichkeit, ein Touristenvisum für 3 Monate zu erhalten, was für sie bedeutete, alle drei Monate ins Ausland zu gehen und einige Tage später wieder nach Italien zurückzukehren. Allerdings mußten sie jedesmal damit rechnen, daß das Visum nicht erneuert werden würde. In einigen Städten merkte die Geistlichkeit, was vor sich ging, und übte Druck auf die Ortsbehörden aus, so daß die Brüder unverrichteterdinge wieder gehen mußten. In solchen Fällen waren sie gezwungen, ihren Wohnsitz zu wechseln. Sie waren ständig auf der Hut und verhielten sich so vorsichtig wie möglich.
Die Geistlichkeit hatte folgendermaßen kalkuliert: „Sobald die Missionare nicht mehr da sind, wird die kleine Gruppe von Anhängern wie Schnee in der Sonne dahinschmelzen.“ Was die Geistlichkeit jedoch nicht begriff, war, daß sie weder gegen Gottes Vorsatz noch gegen die unwiderstehliche Kraft Gottes, diesen Vorsatz zu verwirklichen, etwas ausrichten konnte.
ERFAHRUNGEN IN DER MISSIONARTÄTIGKEIT
Carmelo und Constance Benanti sind nun über 33 Jahre als Missionare in Italien tätig. Bruder Benanti berichtet:
„In Brescia konzentrierte sich die Tätigkeit meiner Frau auf ein Gebiet, in dem eine religiöse Institution, insbesondere ein Mönch, Einfluß auf die Bewohner ausübte. Trotzdem nahmen 16 Personen die Wahrheit an. Viele Jahre später reisten meine Frau und ich nach Brescia, um die Brüder zu besuchen, denen wir geholfen hatten, zu einer Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Als wir mit einigen Brüdern eine Mahlzeit einnahmen, baten sie uns, zu erzählen, wie die Tätigkeit in dem Gebiet begonnen habe. So berichtete meine Frau von einer Begebenheit, bei der der Mönch eine Gruppe von Jungen aufgestachelt hatte, sie zu belästigen. Die Jungen hatten sich hinter den Mauern eines ausgebombten Hauses versteckt und warteten nur darauf, herauszuspringen und sie mit Steinen zu bewerfen. Als meine Frau das merkte, betete sie zu Jehova, daß ihr kein Leid geschehen möge. In diesem Moment sagte einer der Anwesenden (ein Aufseher in einer Versammlung in Brescia): ,Schwester Benanti, ich war einer dieser Jungen. Natürlich war ich damals sehr jung, und der Mönch hatte uns Süßigkeiten versprochen, wenn wir dich mit Steinen bewerfen würden. Wir wußten nicht, warum wir es schließlich nicht taten.‘ “
Ein anderer Missionar erzählt: „In Neapel hielt man mich einmal aufgrund meiner gepflegten Kleidung für einen wohlhabenden Mann. Auf der Straße bemerkte ich, daß mir ein Mann folgte, wahrscheinlich mit der Absicht, mich zu berauben. Ich beschloß, mich einfach umzudrehen und mit ihm über die Wahrheit zu sprechen. Er war völlig überrascht und sehr beeindruckt von der Botschaft — tatsächlich nahm er schließlich die Wahrheit an. Später erfuhr ich, daß er mich wirklich berauben wollte. Als die Wahrheit sein Herz erfaßte, änderte er natürlich seine Lebensweise. Dieser Exdieb wurde Sonderpionier und diente Jehova treu bis zu seinem Tod.“
DIE ERSTEN VERSAMMLUNGSSTÄTTEN
Eine kurze Beschreibung der Räumlichkeiten, in denen sich die Brüder gewöhnlich in den ersten Nachkriegsjahren versammelten, hilft uns erkennen, welche Fortschritte das Werk in diesem Land seither gemacht hat. Es gab eine Zeit, in der sich fast alle Königreichssäle in Privatwohnungen befanden. Ein Grund bestand darin, daß die Geistlichkeit die Besitzer geeigneter Räumlichkeiten einschüchterte, so daß sie nur sehr selten bereit waren, an Jehovas Zeugen zu vermieten. Bruder William Wengert, ein Gileadabsolvent, der zur Zeit im Bezirksdienst steht, berichtet:
„Damals befanden sich unsere Königreichssäle in den Städten meistens in Kellerräumen. Es gab keine Zentralheizung, und in einigen Sälen war nicht einmal eine Toilette. Anstelle von elektrischem Strom gab es oft nur zwei Öllampen, eine für das Rednerpult und die andere für die Zuhörer. Wenn ich jedoch zurückdenke, wird mir klar, daß wir in jener Zeit alles dieses als normal betrachteten. Zum Ausgleich dafür waren die Brüder stets glücklich und einander herzlich zugetan. Mir fiel besonders auf, daß sie laut sangen, und ich muß sagen, daß ihnen das Singen Freude macht. Jehova hat das Werk in diesem Land gesegnet und dafür gesorgt, daß die Brüder nun in sehr schönen Königreichssälen zusammenkommen und seinen heiligen Namen preisen können.“
Obwohl sich diese lieben Brüder in den 50er Jahren mit behelfsmäßigen Sälen zufriedengeben mußten, bildeten sie ein glückliches Volk und hatten große Wertschätzung für die Zusammenkünfte. Dies ist aus Bruder Nicola Magnis Bericht klar ersichtlich: „Oft bestand das Rednerpult aus einem umgedrehten Karton auf einem Küchentisch, aber es funktionierte. Die Freude strahlte den Brüdern aus den Augen, und ihre lebhaften Blicke leuchteten in dem halbdunklen Raum.“
Aufgrund der Verhältnisse kam es in den Zusammenkünften manchmal zu ungewöhnlichen Situationen. Bruder Francesco Bontempi, ein reisender Aufseher, erinnert sich an eine Begebenheit, die sich in einem der ersten Königreichssäle in Mailand zutrug:
„Obwohl sich der Königreichssaal im Keller befand, war er doch sehr sauber. Eines Abends, die Zusammenkunft hatte bereits begonnen, erhielten wir einen ungewöhnlichen Besucher — eine winzige Maus! Sie kam in den Saal und kletterte am Stuhl einer etwas korpulenten Schwester empor, die aufmerksam das Programm verfolgte. Die Maus kam bis zu einer Quersprosse des Stuhles, wo sie ein paar endlose Minuten sitzenblieb. Ich wagte nicht, etwas zu unternehmen, denn ich wollte die Zusammenkunft nicht unterbrechen, weil ich mir sehr wohl die Reaktion der Schwester vorstellen konnte. Schließlich lief die Maus im Bogen um den Stuhl herum, haarscharf an den Füßen der Schwester vorbei, und verschwand. Ich war sehr erleichtert. Trotz dieser kleinen Unannehmlichkeiten offenbarte die Versammlung viel brüderliche Liebe und Eifer für den Dienst.“
Gemäß dem Bericht aus dem Jahrbuch für 1975 war der erste von Brüdern erbaute Königreichssaal in den Vereinigten Staaten derjenige von Roseto (Pennsylvanien). Er wurde 1927 der Bestimmung übergeben. Die Ansprache hielt damals Bruder Giovanni DeCecca. Kurioserweise wurde der erste von Brüdern erbaute Saal in Italien ebenfalls an einem Ort errichtet, der Roseto heißt, nämlich Roseto degli Abruzzi. Er wurde 1953 fertiggestellt, also 26 Jahre nach seinem amerikanischen Vorläufer.
DIE GEISTLICHKEIT VERURSACHT WEITERE SCHWIERIGKEITEN
Die Freiheit, deren man sich heute in Italien erfreut, steht in enger Verbindung mit dem 27. Dezember 1947, dem bedeutenden Tag, an dem die Verfassung der Republik in Kraft trat. In der Verfassung werden die Grundrechte anerkannt, die für unser Werk der Verkündigung des Königreiches Jehovas unmittelbar von Bedeutung sind und die während der Diktatur so rücksichtslos niedergetreten wurden.
Trotz der neuen Verfassung waren die Schwierigkeiten für Jehovas Zeugen jedoch noch nicht vorbei. Obwohl sich die katholische Hierarchie nicht mehr auf die Diktatur stützen konnte, verblieben ihr noch einflußreiche Beziehungen zu der wichtigsten politischen Partei des Landes. Die Geistlichkeit tat ihr Bestes, um die Königreichsinteressen zu unterdrücken, indem sie sich auf faschistische Gesetze berief, die im Gegensatz zur Verfassung standen und noch nicht aufgehoben worden waren.
Manchmal hetzten Priester fanatische Pöbelrotten gegen die Brüder auf, während sie Zusammenkünfte abhielten oder im Predigtdienst tätig waren. In einem Artikel, betitelt „In Molfetta hetzt Priester Pöbelrotte von Frauen und Kindern gegen Zeugen Jehovas auf“,der in der Tageszeitung L’Unità vom 22. September 1954 erschien, hieß es zum Beispiel:
„Der von einem Priester ... [Name und Adresse] entfachte religiöse Fanatismus gegen ehrliche Bürger, deren einziger Fehler es ist, sich zu einer anderen Religionsorganisation als der des obenerwähnten Geistlichen zu bekennen, ist von besonders schwerwiegender Natur ...
Vor einigen Tagen waren die hart arbeitenden, ordentlichen Bürger der Stadt Molfetta Zeugen einer höchst abstoßenden Szene religiöser Unduldsamkeit, die sich in der dunkelsten Zeitperiode der Inquisition hätte abspielen können. Etwa zehn Bewohner der Stadt waren wie üblich in der Via Zuppetta 7 zusammengekommen, als der Priester ... [Name], Kirchenlieder singend, erschien, gefolgt von einer Pöbelrotte, die aus Frauen, Kindern und Jugendlichen bestand. Dann gab er das Signal zu einem gesetzwidrigen Aufruhr, der mehr als zwei Stunden anhielt. Die Ausschreitungen schlossen einen Steinhagel gegen Türen und Fenster des Versammlungsgebäudes ein, der von rüpelhaftem Benehmen der Menge sowie von Mißhandlungen und Drohungen begleitet war. ...
Als diese Menschen, um das Schlimmste zu vermeiden, herauskamen, wurden sie zum Gegenstand des Gespötts. Man beschimpfte und bedrohte sie, und dann wurden sie von den aufsässigen Frauen und Kindern umringt. Sie wurden gestoßen und mit Steinen beworfen, bevor sie das Polizeirevier erreichten, wo sie nicht nur Schutz zu erlangen suchten, sondern auch darum baten, daß man die Anstifter dieses gesetzlosen Überfalles bestrafe. Der leitende Beamte sympathisierte offensichtlich mit der anderen Seite und hatte nicht die Absicht einzugreifen, um dafür zu sorgen, daß das Gesetz und die verfassungsmäßigen Rechte respektiert wurden. So kamen Anstifter und Täter ungestraft davon, und diejenigen, deren Pflicht es gewesen wäre, die Grundrechte zu wahren und die persönliche Sicherheit des einzelnen zu schützen, sahen stillschweigend zu. In diesem besonderen Fall wurden die Rechte in der gemeinsten und erniedrigendsten Weise zu Boden getreten.“
Die gleiche Tageszeitung brachte in ihrer Ausgabe vom 3. Januar 1959 einen Artikel, betitelt „Ausbruch religiöser Unduldsamkeit gegen Zeugen Jehovas in Lapio“. Was war dieses Mal geschehen? Am 29. Dezember 1958 beteiligten sich zwei Verkündiger, Antonio Puglielli und Francesco Vitelli, in Lapio, einem Städtchen in der Provinz Avellino, am Predigen der „guten Botschaft“. Etwa gegen 11 Uhr morgens sahen sie sich einer Pöbelrotte von Jugendlichen und Kindern gegenüber, die von dem ortsansässigen katholischen Geistlichen angeführt wurde. Er schrie: „Macht, daß ihr wegkommt!“ und: „Ihr seid dumme, nichtsnutzige Lügenhausierer! Ihr versteht die Bibel nicht. Ihr bringt nur die Herde durcheinander.“
Da die Pöbelrotte offensichtlich nicht zum Spaßen aufgelegt war, suchten die beiden Brüder im Rathaus Zuflucht. Der Priester folgte ihnen bis zum letzten Stockwerk, so daß der Bürgermeister eingreifen mußte, um sie zu beschützen. Was war mit den anderen Brüdern geschehen, die in der Stadt predigten? Die beiden Brüder berichteten: „Begleitet von Stadtpolizisten, gingen wir in den Teil der Stadt, den die anderen bearbeiteten. Wir fanden sie von einer Menschenmenge umringt vor, die von einem drohenden Priester angeführt wurde, und es kostete einige Mühe, sie zu befreien und zum Bus zurückzubringen. Als wir alle den Bus bestiegen hatten, stellte sich uns der Priester in den Weg, so daß wir nicht abfahren konnten. Er versuchte, die Menge zu weiteren Gewalttaten aufzustacheln. Aber glücklicherweise gehorchten ihm die Leute nicht mehr.“
Dies waren nur einige der von der Geistlichkeit verursachten Vorfälle. Es war offensichtlich, daß die Tageszeitungen, die diese Handlungen anprangerten, von der Oppositionspartei beeinflußt wurden, während diejenigen, die unter dem Einfluß der katholischen Mehrheit standen, diese Dinge mit keiner Silbe erwähnten.
Diese hartnäckige Gegnerschaft der katholischen Kirche überrascht wohl kaum. Sie entspricht vielmehr der Haltung, die die Kirche gewöhnlich im Umgang mit anderen Religionsgemeinschaften eingenommen hat. Eine klare Beschreibung dieser Politik gibt „Padre“ Cavalli in der von Jesuiten herausgegebenen Halbmonatsschrift Civiltà Cattolica vom 27. März 1948:
„Die katholische Kirche ist als die eine wahre Kirche von ihrem göttlichen Recht überzeugt, Handlungsfreiheit für sich allein zu beanspruchen, so daß dieses Privileg ausschließlich der Wahrheit vorbehalten ist und dem Irrtum verwehrt wird. Was andere Religionsgemeinschaften betrifft, so wird die Kirche niemals das buchstäbliche Schwert gegen sie erheben, aber sie wird sich aller gesetzlichen Wege und achtbaren Mittel bedienen, damit den anderen Religionsgemeinschaften die Verbreitung ihrer falschen Lehren nicht gestattet wird. Folglich wird die Kirche in einem vorwiegend katholischen Staat darauf bestehen, daß irrigen Glaubenslehren die gesetzliche Anerkennung versagt wird und daß, sollten gewisse religiöse Minderheiten weiterbestehen, diesen lediglich eine Defacto-Existenz zugebilligt werden und ihnen die Möglichkeit genommen werden sollte, ihre Glaubenslehren zu verbreiten. Falls sich eine strikte Anwendung dieses Grundsatzes unter den gegebenen Umständen als unmöglich erweist, entweder aufgrund einer feindseligen Haltung des Staates oder wegen der zahlenmäßigen Größe andersdenkender Gruppen, wird die Kirche darum bemüht sein, daß man ihr die größtmöglichen zugeständnisse macht, und sie wird die gesetzliche Existenz anderer Religionsgemeinschaften als geringeres Übel in Kauf nehmen. In einigen Ländern werden Katholiken genötigt sein, für die absolute Religionsfreiheit einzutreten und sich mit der Koexistenz anderer Religionsgemeinschaften abzufinden, wo sie allein nur Lebensberechtigung haben sollten“ (Kursivschrift von uns).
In anderen Worten: Die katholische Geistlichkeit sagt unverblümt zu Personen wie Jehovas Zeugen: „Wenn wir freie Hand hätten, würden wir euch aus dem Weg räumen.“ Aber Jehova hat nicht zugelassen, daß der Widerstand gegen sein Volk, das ‘seinen Namen kennengelernt hat’, die Oberhand gewann (Ps. 91:14).
STÖRVERSUCHE BEI KONGRESSEN
Die Geistlichkeit tat alles in ihrer Macht Stehende, um unsere friedliche Tätigkeit zu stören. Und in der Absicht, unsere Kongresse zu unterbrechen, griff sie zu den verschiedensten Mitteln. Zum Beispiel schleusten Priester Zwischenrufer in die Zuhörerschaft ein, meistens junge Leute. Sie gingen hinein und saßen eine Weile ruhig unter den Delegierten, aber dann begannen sie, die Versammlung durcheinanderzubringen, fingen an zu schreien und stifteten Unruhe. In solchen Momenten griff gewöhnlich die Polizei ein, aber anstatt die Unruhestifter zu entfernen, unterbrach sie den Kongreß unter dem Vorwand, die Zusammenkunft „störe den Frieden“.
William Wengert erinnert sich: „Wenn ein Kongreß begann, wußten wir nie, ob wir ihn auch zu Ende bringen würden. Damals kam es oft zu Unterbrechungen, und es traten viele Schwierigkeiten auf.“
Die Kreis- und Bezirksaufseher, die die Kongresse organisierten, kamen auf eine einfache und praktische Lösung. Sie sorgten dafür, daß sich einige tüchtige stämmige Ordner unweit des Eingangs aufstellten. Ein reisender Aufseher berichtet: „Der Kreiskongreß hatte gerade begonnen, und man rechnete mit Störaktionen von seiten der Geistlichkeit. Der Bezirksaufseher hatte die diensttuenden Ordner angewiesen, am Eingang jeden anzuhalten, der ihnen unbekannt war, und ihm beiläufig einige Fragen zu stellen, wie ,Woher kommen Sie?‘ oder ,Wer ist der Aufseher Ihrer Versammlung?‘ Diejenigen, die überzeugend antworteten, wurden hineingelassen.
Aber wenn es nun einem Unruhestifter gelang, sich unter die Zuhörer zu mischen? In diesem Fall trat die ,fliegende Truppe‘ auf den Plan, die aus sehr energisch aussehenden Ordnern bestand, und sie forderte den Störenfried freundlich auf, sich ruhig zu verhalten. Falls keine Ruhe eintrat, entfernten die Ordner den Zwischenrufer auf unauffällige Weise und ,halfen‘ ihm, den Saal zu verlassen. Da die Polizei unser Recht auf ungestörte Versammlungsfreiheit nicht schützte, mußten wir das Problem auf unsere Weise lösen.“
Laßt uns nun einen der vielen Zwischenfälle erwähnen, die von der Geistlichkeit angezettelt wurden. Der Vorfall ereignete sich anläßlich eines Kreiskongresses in Sulmona, einer Kleinstadt in Mittelitalien, die in einem fruchtbaren Tal der Abruzzenregion liegt. Am Sonntag, den 26. September 1948 hatten sich etwa 2 000 Personen zum öffentlichen Vortrag eingefunden — eine gewaltige Menge, wenn man berücksichtigt, daß wir damals nur 472 Verkündiger im ganzen Land zählten. Was geschah? Ein Auszug aus dem Jahrbuch für 1950 lautet wie folgt:
„Am Sonntagvormittag, 10.30 Uhr war das größte Theater der Stadt von mehr als 2 000 Menschen gefüllt, und mehrere Minuten vor Beginn des Vortrages mußten die Türen geschlossen werden. Viele mußten wieder weggeschickt werden, doch nicht, ohne daß sie eine Broschüre erhalten hatten. Es war einfach kein Platz mehr frei im Theater, auch die Gänge waren voll besetzt. Die Zuhörer zeigten durch eine außerordentliche Aufmerksamkeit ihre Wertschätzung und ihre Zustimmung zur Wahrheit, und mehrmals während des Vortrages sowie am Schluß spendeten sie lebhaften Beifall.
Ehe jedoch der Vortrag zu Ende war, begab sich ein junger Religionist, der im Hintergrunde gestanden und von zwei Priestern Notizen erhalten hatte, auf die Rednerbühne, hob die Hände empor und fing an zu schreien, er wolle gehört werden. Der Vorsitzende erklärte ruhig, daß am Ende des Vortrages Fragen der Zuhörer persönlich und privat beantwortet werden können. Doch es war offensichtlich, daß dieser Fanatiker Schwierigkeiten machen und unseren öffentlichen Vortrag zur Verbreitung seiner religiösen Propaganda benutzen wollte. Zweifellos war er, gleich der Geistlichkeit, eingedenk der leeren Kirchenbänke in diesen Tagen, und sie sahen sich nach anderen Plätzen für ihre bombastischen Reden an das Volk um. Aufgestachelt durch seine kriecherischen priesterlichen Ratgeber, kletterte er, sobald der Vortrag zu Ende war, bis zum Rednerpult hinauf, schwang seine Arme wie ein Wahnsinniger, und mit aller Kraft seiner Lungen schreiend, verlangte er Aufmerksamkeit. Die beiden Priester im Hintergrunde, die ihre Köpfe einzogen, um ihre verkehrt umgebundenen Kragen zu verbergen, drückten, in der Hoffnung, eine Welle von Begeisterung für ihren Mietling zu erregen, ihre Zustimmung durch Zurufe und Pfiffe aus. Dies blieb jedoch ohne Erfolg. Die Zuhörer lehnten diesen unaufgeforderten Versuch zu religiöser Bekehrung ab. Anstatt Beifall zu zollen und den Mann sprechen zu lassen, übertönten sie seine protestierende Stimme mit Rufen wie: ,Fascistone!‘ [Faschist!] ,Vergogna!‘ [Schäm dich!] ,Wieviel bekommst du dafür bezahlt?‘ Als dieser unbefugte Eindringling sah, daß seine Sache nicht so glatt ging, sprang er von dem Podium und verschwand schnell samt seinen priesterlichen Begleitern. Dann verließen die Zuhörer ordentlich und ruhig das Theater und nahmen gern die ihnen angebotenen Broschüren kostenlos in Empfang.“
Der Bericht endet mit den Worten: „Der Spieß war umgedreht worden, und Jehova hatte uns wiederum den Sieg verliehen.“
ERSTER BEZIRKSKONGRESS
Nun möchten wir eine andere Episode beschreiben, die sich durch religiöse Unduldsamkeit auszeichnete. Vom 27. bis 29. Oktober 1950 wollten wir im Mailänder Teatro dell’Arte den ersten Bezirkskongreß abhalten, der jemals in Italien stattfand. In letzter Minute machte der Polizeipräsident die Genehmigung für den Kongreß rückgängig. Den beiden Brüdern, die für die Kongreßorganisation verantwortlich waren, teilte man mit, diese Maßnahme sei getroffen worden, um Reaktionen von Katholiken vorzubeugen, die an einer protestantischen Veranstaltung Anstoß nehmen könnten. Das war absurd. Es war lediglich eine Ausrede dafür, daß man ehrlichen Bürgern das Recht vorenthielt, sich friedlich zu versammeln.
Obwohl dieses und andere Argumente, die die Brüder vorbrachten, völlig logisch waren, war der Polizeipräsident nicht bereit, seine Entscheidung zurückzunehmen. Als die Brüder zu guter Letzt damit drohten, die Presse über diesen Amtsmißbrauch zu informieren, wußte er nicht, was er sagen sollte, und warf sie aus seinem Büro hinaus. Aufgrund dessen, was man uns gesagt hatte, und aufgrund anderer Tatsachen, die wir in Erfahrung gebracht hatten, waren wir davon überzeugt, daß die Geistlichkeit ihre Hand im Spiel hatte. Diesmal hatte sie sich eine neue Methode ausgedacht und ihren Einfluß auf die Polizei ausgenutzt.
Bruder George Fredianelli, der stellvertretende Aufseher dieses Kongresses, erinnert sich:
„Unsere Situation sah so aus: Wir hatten kaum noch 24 Stunden Zeit, bis der Kongreß beginnen sollte; aus ganz Italien trafen bereits Brüder in Mailand ein, und wir konnten nirgendwo einen anderen Saal finden! Was sollten wir tun? Wir waren sehr besorgt. Aber wieder trat Jehova für uns ein.
Am Morgen vor dem Kongreß waren Bruder Antonio Sideris, der Kongreßaufseher, und ich auf der Suche nach einem anderen Saal. Als wir an einem eingezäunten Grundstück vorbeigingen, kam uns plötzlich eine Idee: ,Warum nicht den Eigentümer fragen, ob er uns das Grundstück für drei Tage überläßt?‘ Er vermietete uns das Land zu einem sehr vernünftigen Preis, und wir machten uns auf die Suche nach einigen großen Zelten, in denen der Kongreß abgehalten werden konnte. Schließlich fanden wir eine bekannte Zeltfabrik, die bereit war, uns große Zelte zu vermieten und uns sogar beim Aufstellen zu helfen. Sie freute sich über die Aussicht, zusätzliche Publizität zu erhalten.
Das nächste Problem war, von den Behörden wieder eine Erlaubnis zu erhalten. Da wir praktisch keine Chance hatten, diese rechtzeitig zu bekommen, beschlossen wir, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Uns blieb nichts anderes übrig. Wir konnten die Brüder nicht einfach wieder nach Hause schicken. Über Nacht, bevor jemand es merkte, stellten wir die Zelte auf und organisierten die verschiedenen Abteilungen, und pünktlich 9 Uhr morgens begann der Kongreß.
Bald danach traf die Polizei ein. Bis an die Zähne bewaffnet, sprangen die Polizisten aus ihrem Jeep. Welch ein schreiender Kontrast! Welch eine lächerliche Situation! Da hatte man bewaffnete Polizisten ausgesandt, um Leute in Schach zu halten, die friedlich dasaßen und geistliche Lieder sangen. Bruder Sideris sagte ihnen, wenn sie den Kongreß unterbrächen, würden sie es bereuen. Wir würden dies der lokalen und der internationalen Presse berichten, um zu zeigen, daß Italiens neue Verfassung nicht beachtet werde und daß es eine Rückkehr zur faschistischen Diktatur gebe. Die eingeschüchterten Polizisten verließen darauf das Gelände, um bei höherer Stelle Anweisungen zu holen. Später kehrten sie zurück, um uns mitzuteilen, daß wir unseren Kongreß fortsetzen könnten.“
Zum öffentlichen Vortrag kamen 800 Personen, und 45 wurden getauft. Da die Zelte in einer Gegend aufgestellt worden waren, wo es mehrere Fabriken gab, hatten die Brüder Gelegenheit, vielen der Arbeiter Zeugnis zu geben, die die Mittagspause nutzten, um zu sehen, was dort vor sich ging. Wie war es, an jenen kalten, feuchten Oktobertagen in den Zelten zu sitzen? Fern Fraese erzählt: „Während wir dem Programm lauschten, behielten wir unsere Mäntel an, und viele von uns hatten Wärmflaschen mit, um sich warm zu halten. Trotzdem waren wir sehr glücklich und freuten uns, so gute geistige Speise zu erhalten.“
UNDULDSAMKEIT DER GEISTLICHKEIT NÜTZT NICHTS
Ein anderer Vorfall, bei dem die Geistlichkeit die Behörden zur Unduldsamkeit aufhetzte, ereignete sich in der letzten Juniwoche des Jahres 1951 in Verbindung mit einem Kreiskongreß in Cerignola. Was geschah bei dieser Gelegenheit? Das Jahrbuch 1952 (englisch) berichtete darüber:
„Am Mittag kamen zwei Polizisten in den Saal und teilten uns mit, daß unsere nichtöffentlichen Zusammenkünfte verboten worden seien. Wir suchten sofort den örtlichen ,commissario‘ [Polizeichef] auf, um festzustellen, was denn los sei. Als wir die Polizeiwache betraten, kam gerade ein junger Priester grinsend heraus. Er war offensichtlich guter Dinge, und wir erfuhren bald, daß die Polizei ihm Grund gegeben hatte, zufrieden zu sein. Der ,commissario‘ erklärte uns persönlich mit großer Deutlichkeit, daß die polizeiliche Genehmigung für unseren Kongreß rückgängig gemacht worden sei, und zwar aus Gründen, über die er keine Kontrolle habe. Als offiziellen Grund nannte man uns den gefährlichen Zustand des Saales, aber man erwartete nicht, daß das jemand glaubte. Nach einer etwas hitzigen Diskussion empfahl man uns, in die Provinzhauptstadt zu fahren und mit dem ,Provinzchef‘, dem ,questore‘, zu reden.
Ein paar Stunden später betraten wir das Amtsgebäude der Provinzpolizei, und zu unserer Überraschung sahen wir dort den gleichen katholischen Priester, den wir schon im Amt des ,commissario‘ getroffen hatten. Diesmal war er von einem älteren und würdiger aussehenden Priester begleitet. Später erfuhren wir, daß es sich bei dem letzteren um den ,vicario‘ der Stadt gehandelt hatte, in der wir unseren Kreiskongreß abhielten. Die Priester warteten darauf, mit dem ,questore‘ zu sprechen, aber als sein Stellvertreter, der Polizeichef, hereinkam, baten sie ihn darum, statt dessen mit ihm in seinem Büro zu sprechen. Ein paar Minuten später traf der ,questore‘ ein. ... Er ließ deutlich erkennen, daß seine Meinung bereits beeinflußt worden war, bevor er uns angehört hatte, und ... er drohte als erstes, uns zu verhaften, weil wir einen Saal gemietet hätten, der sich nach seiner Meinung nicht für Zusammenkünfte eigne. Er verfolgte eine Einschüchterungstaktik und stellte die Sache so hin, als hätten wir unrecht gehandelt und verdienten deswegen eine Zurechtweisung. ...
Wir waren entschlossen, uns dieser willkürlichen, faschistenähnlichen Handlungsweise der Polizei nicht kampflos zu fügen, und so blieben wir über eine Stunde im Büro des ,questore‘ und debattierten über die rechtliche Seite unseres Falles.“
Trotzdem änderte der questore seine Entscheidung nicht. Wie ging es mit dem Kongreß weiter? In dem Bericht heißt es:
„Wir fuhren zurück und trafen Vorkehrungen, den Kongreß in zwei Privatwohnungen abzuhalten, und mit Hilfe einer Lautsprecherausrüstung hatten wir an beiden Orten gleichzeitig das gleiche Programm. Die Unduldsamkeit der Geistlichkeit erregte den Unwillen vieler ehrlicher Personen, obwohl die Priester versuchten, die Sache zu vertuschen, indem sie am nächsten Morgen in der Kirche bekanntgaben, keiner solle an jenem Tag zum öffentlichen Vortrag der Zeugen Jehovas gehen. Dabei wußten sie die ganze Zeit, daß er verboten war und daher nicht stattfinden würde! ... Doch auch hier erlitten die Priester eine Niederlage, denn Jehovas Zeugen bleiben nicht stumm, sondern stellen weiterhin die Heuchelei und die Irrlehren der Vertreter der falschen Religion bloß, und das hat zur Folge, daß weiteren Menschen guten Willens die Augen geöffnet werden.“
EIN LANGER RECHTSKAMPF
Im Jahre 1956 lebten in Italien etwa 190 000 Nichtkatholiken. Zu dieser Zeit gab es nur einige tausend Königreichsverkündiger, aber sie waren aktiv und voller Eifer. Im Gegensatz zu dem außerordentlichen Wachstum des Volkes Jehovas erlebten die anderen Religionen im allgemeinen einen ständigen Rückgang. Die Wahrheit breitete sich wie ein Lauffeuer aus, besonders an der Adriaküste in den beiden Regionen Abruzzi und Romagna, wo eifrige Verkündiger ganze Busse mieteten, um in nahe gelegenen Ortschaften zu predigen, bis dort ebenfalls Versammlungen gegründet wurden.
Da die katholische Hierarchie die drohende Gefahr spürte, versuchte sie, eine Kampagne gegen unser Predigtwerk zu organisieren. Der Osservatore Romano, das Sprachrohr des Vatikans, forderte in seiner Ausgabe vom 1. und 2. Februar 1954 Geistliche und Kirchenmitglieder auf, der Tätigkeit der Zeugen Jehovas Widerstand zu leisten. In dem Artikel wurden zwar keine Namen genannt, doch er war offensichtlich gegen die Zeugen gerichtet. Es hieß darin:
„Wir möchten auch auf die Zunahme protestantischer Propaganda aufmerksam machen, gewöhnlich ausländischer Herkunft, die die Absicht verfolgt, in diesem Land verderbliche Irrtümer zu säen ... Wir möchten alle Gemeindepriester, Kirchenorganisationen und Mitglieder der Herde bitten, aufmerksam nach Kundgebungen derselben Ausschau zu halten und die zuständigen Behörden mit aller gebotenen Bereitwilligkeit zu informieren“ (Kursivschrift von uns).
Mit den hier erwähnten „zuständigen Behörden“ konnte nur die Polizei gemeint sein. Somit hetzte der Vatikan in Wirklichkeit die Priester auf, die Verkündiger verhaften zu lassen. Tatsächlich wurden Hunderte von ihnen in Gewahrsam genommen, nachdem sie von der Polizei festgenommen worden waren. Viele wurden gleich wieder freigelassen; andere mußten Geldstrafen bezahlen oder wurden eingesperrt. Jehovas Volk mußte einen langen Rechtskampf führen, der bis Anfang der 1970er Jahre andauerte. Von 1947 bis 1970 wurden über 100 Fälle von Zeugen Jehovas vor die Gerichte gebracht.
Die Verkündiger wurden angeklagt, Artikel 113, 121 und 156 des faschistischen Polizeigesetzes übertreten zu haben. Diese Artikel verlangten, daß Personen, die Druckschriften verbreiteten (Art. 113), Hausierer (Art. 121) oder Personen, die zu einem bestimmten Zweck Geld sammelten (Art. 156), eine Lizenz besaßen oder in einem offiziellen Register eingetragen waren.
Es ist offenkundig, daß die Königreichsverkündiger keine gewerbliche Tätigkeit durchführen, und sie sammeln auch kein Geld. Während sie die „gute Botschaft“ predigen, verbreiten sie Zeitschriften oder andere Publikationen für einen die Druckkosten deckenden Beitrag, wenn jemand in der Lage ist, einen Beitrag zu bezahlen. Unser Werk ist daher als Verbreitung religiöser Überzeugungen einzustufen oder, wie Artikel 19 der italienischen Verfassung erlaubt, als eine Form der „Propaganda“ für den Glauben. Offensichtlich versuchte man damals, Gesetze anzuwenden, um die Religionsfreiheit zu unterdrücken. Schließlich wurde im Jahre 1956 der Teil von Artikel 113, der die ohne Lizenz durchgeführte Verbreitung von Druckschriften verbot, als verfassungswidrig anerkannt und abgeschafft.
Fast alle Fälle gingen gut aus, und die wenigen Brüder, die verurteilt wurden, wurden später in einem Berufungsverfahren freigesprochen. Ein paar Fälle mußten vom Kassationshof, Italiens höchstem Gericht in Fragen der Rechtsprechung, untersucht werden, aber diese wurden alle zugunsten der Brüder entschieden.
Wir wollen hier nur einen dieser Fälle betrachten, um zu veranschaulichen, daß die Anschuldigungen, die gegen unsere Brüder erhoben wurden, lediglich ein Vorwand waren, das Werk aufzuhalten. Bruder Romolo Dell’Elice, der jetzt bereits seit über 32 Jahren im Bethel dient, wurde vom Bezirksgericht von Rom „zu einer Geldstrafe von 4 000 Lire verurteilt ..., weil er in Verbindung mit der Verbreitung von Broschüren und Flugschriften eine Betteltätigkeit durchführte“. Bruder Dell’Elice legte Berufung ein und wurde am 2. Dezember 1959 vom römischen Gerichtshof freigesprochen. Zur Begründung hieß es: „Die Verbreitung der sogenannten Broschüren und Flugschriften stellt in keiner Weise Bettelei dar; sie war vielmehr ein Bestandteil religiöser Propaganda für ... Jehovas Zeugen.“
KONGRESS IN ROM!
Viele Jahre lang hatten sich die Brüder sehnlichst gewünscht, einen Kongreß in Rom zu veranstalten. Sogar die Brüder, deren Fall vor dem Sondertribunal verhandelt wurde, hatten sich insgeheim gesagt: „Wer weiß, ob wir nicht eines Tages einen Kongreß in Rom haben werden und uns in dieser Stadt, in der wir jetzt eingesperrt sind, frei versammeln können?“
Diese Erwartungen erfüllten sich im Dezember 1951, als auf dem Gelände der Handelsmesse in Rom ein Landeskongreß stattfand. Sein Motto, „Reine Anbetung“, stand in bedeutsamem Gegensatz zu der Religion, die in dieser historischen Stadt von jeher blühte. Da Brüder aus 14 weiteren europäischen Ländern anwesend waren, nahm der Kongreß internationalen Charakter an. Das Jahrbuch 1953 (englisch) veröffentlichte folgenden Bericht:
„Der Kongreß in Rom war das unvergeßliche Ereignis des Jahres. Als angekündigt wurde, daß der Präsident der Gesellschaft dem Kongreß vorstehen werde, beschlossen die italienischen Brüder, große Opfer zu bringen, um dabeizusein. Aufgrund der Armut in Italien fällt es vielen schwer, außer Landes zu einem internationalen Kongreß zu reisen. Als daher Bruder Knorr vorschlug, daß einige Nachbarländer eingeladen werden sollten, den Kongreß in Rom zu besuchen, fand dies ein ausgezeichnetes Echo. 700 bis 800 Delegierte kamen aus England, Dänemark, Frankreich, Belgien, der Schweiz und vielen anderen europäischen Ländern. Auf diese Weise wurde der Kongreß in Rom zu einem internationalen Kongreß, den die italienischen Brüder nie vergessen werden. Sie erhielten dort den ersten Eindruck von der Liebe und Einheit, die unter Brüdern besteht, die verschiedenen Nationen und Rassen angehören. Jetzt können wir weiteren, ähnlich gesegneten Kongressen des Volkes Jehovas in Italien sowie in anderen Ländern entgegenblicken, und wir wissen, daß unsere Brüder noch größere Anstrengungen unternehmen werden, künftige Kongresse zu besuchen.“
BESONDERER BROSCHÜRENFELDZUG
Das Jahr 1955 zeichnete sich durch zwei wichtige Ereignisse aus. Das erste war ein besonderer weltweiter Feldzug mit der Broschüre Christenheit oder Christentum — was ist „das Licht der Welt“? Jeder Verkündiger wurde gebeten, 30 Exemplare der Broschüre zu verbreiten, und alle Geistlichen des Landes sollten ein Exemplar durch die Post erhalten. Es erforderte eine gewaltige Arbeit, alle Adressen zu ermitteln und 100 000 Exemplare zusammen mit einem Begleitbrief zu versenden.
Kaum ein Geistlicher antwortete auf die Briefe der Verkündiger, aber einige reagierten heftig, indem sie Briefe an die Zeitungen schrieben. Zum Beispiel veröffentlichte am 4. September 1955 die katholische Zeitung Il Piccolo in Faenza einen Artikel mit der Schlagzeile „Hütet euch vor falschen Propheten! — Unsere Antwort an Jehovas Zeugen“. In diesem Artikel lesen wir:
„Kürzlich sandten Jehovas Zeugen (von den meisten Bibelfanatiker genannt) eine Broschüre mit ihrer Propaganda an Priester und religiöse Institutionen und baten diese um eine Antwort.“ Nachdem Jehovas Zeugen als „arme Irre“ bezeichnet worden waren und ihnen eine „unglaubliche Unwissenheit und empörende Anmaßung und Sturheit“ nachgesagt worden war, wurde ihnen in dem Artikel abschließend der Rat gegeben, über einen gewissen Auszug aus Dantes Göttlicher Komödie „nachzudenken“.
Solche und ähnliche Artikel wurden gegen Jehovas Zeugen geschrieben. Manchmal erweckten die Artikel die Neugier der Leute, so daß sie viele Fragen stellten, wenn die Verkündiger sie in ihrer Wohnung besuchten.
KONGRESS „TRIUMPHIERENDES KÖNIGREICH“
Das andere herausragende Ereignis des Jahres 1955 war der Kongreß „Triumphierendes Königreich“. Unter den 4 351 Anwesenden waren Delegierte aus 32 Ländern, und 378 wurden getauft. Das bedeutete, daß fast 10 Prozent der Anwesenden ihre Hingabe durch die Wassertaufe symbolisierten, wirklich eine bemerkenswerte Zahl. Aus Paris trafen fünf Sonderzüge voller Brüder ein, die meisten von ihnen aus den Vereinigten Staaten. Ihre Ankunft erregte große Aufmerksamkeit, da in Rom noch nie eine so große Gruppe amerikanischer Touristen auf einmal eingetroffen war.
Es war nicht leicht gewesen, den Palazzo dei Congressi für unseren Kongreß zu bekommen. Damals war er einer der besten Kongreßsäle in Europa. Er war vollständig mit weißem Marmor verkleidet und von grünen Parks umgeben, die den Kongreßdelegierten zur Verfügung standen. Unsere erste Bewerbung war angenommen worden, und alles schien gutzugehen, bis man uns 10 Tage vor dem Kongreß mitteilte, daß die Erlaubnis zur Benutzung des Saales rückgängig gemacht worden war. Offiziell sagte man uns, daß der Saal für eine andere Veranstaltung benötigt würde. Schließlich, zwei Tage vor dem Stichtag, als es schon schien, daß der Kongreß nicht mehr in Rom stattfinden könnte, teilte uns die Verwaltung mit, daß wir unseren Kongreß schließlich doch abhalten könnten.
Was steckte hinter diesen obskuren Manövern? Die Antwort ist in einem Artikel zu finden, der am 30. Oktober 1955 in der Zeitung Meridiano d’Italia erschien und betitelt war „Der Turm zu Babel — Eine Krähe in Campidoglio“. Darin hieß es:
„Anscheinend ist Herr Cornacchiola [sein Name bedeutet buchstäblich „kleine Krähe“], christdemokratischer Ratsherr der Stadt Rom, noch vatikanfreundlicher als Herr Rebecchini [damaliger Bürgermeister von Rom], der eine Stellung, wenn auch nur ehrenhalber, in der Vatikanstadt bekleidet.
Tatsächlich stellte Herr Cornacchiola — ja, das ist sein Name, Cornacchiola — den Bürgermeister von Rom zur Rede, ,weshalb die Räumlichkeiten der EUR [Esposizione Universale Roma] von „Jehovas Zeugen“, einer protestantischen Sekte, für ihren Kongreß benutzt werden dürften‘. Im Namen des Volkes von Rom, sagte Ratsherr Cornacchiola, wolle er ,dagegen protestieren und die Verantwortlichen tadeln. Rom als Amtssitz des Stellvertreters unseres Herrn Jesus Christus kann solche Veranstaltungen, die eine Beleidigung für den Amtssitz des Papstes sind, nicht dulden.‘ “
„Nun“, schreibt die Zeitung weiter, „abgesehen von der Tatsache, daß die fraglichen Räumlichkeiten von der ,Prefettura‘ (in der Person des Ministers Tambroni, eines wichtigen Mitglieds der ,Azione Cattolica‘ [Katholische Aktion]) zur Verfügung gestellt worden sind, sollte beachtet werden, daß Rom der Amtssitz des Staatsoberhauptes der Republik Italien ist, während der Stellvertreter Christi seinen Amtssitz in der Vatikanstadt hat.
Unter anderem hat Präsident Gronchi die Aufgabe, die Verfassung der Republik Italien zu schützen, in der es in Artikel 8 heißt, daß ,alle Glaubensgemeinschaften das gleiche Recht haben, sich frei zu betätigen und sich nach ihren eigenen Satzungen zu organisieren‘.
Wenn Herr Cornacchiola etwas gegen die italienische Verfassung hat, sollte er als erstes von seiner Stellung als Ratsherr der Stadt Rom zurücktreten.“
Die Presse äußerte sich auch günstig über das Verhalten der Zeugen. Die Zeitung Il Giornale d’Italia hatte in ihrer Ausgabe vom Sonntag, dem 7. August 1955 folgendes zu sagen:
„Ein unparteiischer Beobachter wird insbesondere von drei Dingen beeindruckt sein: erstens von dem vorbildlichen Verhalten der Anwesenden, die das, was gesagt wird, mit respektvoller Ruhe verfolgen und sich offensichtlich geistig verwandt fühlen; zweitens von der Tatsache, daß sich so viele Rassen im Namen einer Religion versammeln können, die anscheinend ihr Denken und Handeln mit einer heiteren Gemütsruhe und mit moralischer Rechtschaffenheit beseelt; drittens von der außergewöhnlichen Anzahl Kinder von eins bis 13 Jahren — schwarz, weiß oder gelb, aber alle von eigenartig gutem Benehmen, ja sogar eifrig damit beschäftigt, in der Heiligen Schrift Verse nachzulesen, während sie den Worten ihres Predigers folgen.“
Die Freigabe neuer Publikationen wurde mit großer Begeisterung aufgenommen. Besonders große Freude löste die Mitteilung aus, daß die Zeitschrift Erwachet!, beginnend mit der Ausgabe vom 8. August 1955, in Italienisch veröffentlicht werde. Zu den Publikationen, die in Italienisch freigegeben wurden, gehörten das Buch „Neue Himmel und eine neue Erde“ sowie die Broschüren Grundlage für den Glauben an eine Neue Welt, Weltbesiegung nahe — durch Gottes Königreich und „Diese Gute Botschaft vom Königreich“.
ZWEI BEDEUTSAME SIEGE IM JAHRE 1957
Im Jahre 1957 errangen Jehovas Zeugen in Italien zwei bedeutsame Siege. Der erste hing mit den 26 Brüdern zusammen, die vom Sondertribunal verurteilt worden waren. Nach dem Sturz des Faschismus wurden die Fälle vieler Menschen, die von diesem Gericht verurteilt worden waren, überprüft, und sie wurden danach freigesprochen. Die treuen Brüder wußten, daß sie wegen ihrer Haltung ein Unrecht erlitten hatten; und obwohl sie nicht übermäßig um ihr persönliches Ansehen in den Augen der Welt besorgt waren, beschlossen sie, eine Überprüfung ihrer Fälle zu beantragen, um die Rechte der Zeugen Jehovas als Gruppe zu rechtfertigen. Das war nötig, weil das Sondertribunal die theokratische Organisation beschuldigt hatte, eine „Geheimorganisation zu sein, die eine Tätigkeit durchführt, deren Zweck die Veränderung der Regierungsform und die Verbreitung von Propaganda ist, die die nationale Identität schädigt“, und daß sie „kriminelle Absichten“ verfolge.
Es war daher in unserem Interesse, daß dieses Urteil annulliert wurde, damit ein gutes Verhältnis zu den staatlichen Einrichtungen hergestellt werden konnte.
Der Fall wurde vom Berufungsgericht von Aquila am 20. März 1957 in Gegenwart von 11 der 26 betroffenen Brüder überprüft. Nicola Romualdi war einer der Verteidiger. Obwohl dieser Rechtsanwalt kein Zeuge Jehovas ist, hat er nicht gezögert, die Rechte unserer Brüder von Anfang der 50er Jahre an zu verteidigen, als es noch sehr schwer war, Rechtsanwälte zu finden, die bereit waren, uns in unseren Rechtsfällen zu verteidigen. Im Laufe von mehr als 30 Jahren hat er bereitwillig einige hundert Brüder verteidigt, die darum kämpften, ihr Recht auf christliche Neutralität und auf ihre Freiheit, die „gute Botschaft“ zu predigen, aufrechtzuerhalten.
Als Herr Romualdi dem Gericht erklärte, daß Jehovas Zeugen die katholische Hierarchie wegen ihrer Einmischung in politische Angelegenheiten für eine Hure halten, warfen sich — wie aus dem Bericht über die Verhandlung hervorgeht — die Richter lächelnd vielsagende Blicke zu. Das Gericht beschloß, die Urteile umzustoßen, und erkannte damit an, daß das Werk der Zeugen Jehovas weder illegal noch umstürzlerisch war.
Den anderen Sieg errangen wir bei einem Bezirkskongreß, der Ende Juni in Mailand stattfand. Er begann am Donnerstag nachmittag im Saal der Odeon-Wintergärten, und es ging alles gut, bis kurz vor Abschluß des Abendprogramms etwas Ungewöhnliches geschah. Bruder Roberto Franceschetti erzählt:
„Das Programm sollte noch 10 Minuten laufen, als der letzte Redner, Giuseppe Tubini, eilig seinen Vortrag beendete und die Anwesenden bat, sich auf das Schlußgebet vorzubereiten. Jedem fiel der schnelle Abschluß auf und daß kein Schlußlied gesungen wurde. Warum fiel das Lied aus? Während wir Zeugen, die am Haupteingang standen, respektvoll den Kopf zum Gebet neigten, fanden wir uns plötzlich von Männern umgeben, die erhobenen Hauptes dastanden und ihren Hut aufbehielten, während das Gebet gesprochen wurde. Das konnten nur Polizeibeamte sein!
Später erfuhren wir die Einzelheiten. Mindestens 30 oder 40 Polizeibeamte waren in den Saal gekommen und hatten den Abbruch des Kongresses angeordnet. Der Vorwand war, daß die Eigentümer des Saales es versäumt hatten, die notwendige Genehmigung zu beantragen. Die Verantwortlichen des Kongresses versuchten zu erklären, daß mit der Anordnung, den Kongreß zu beenden, die Zeugen bestraft würden und nicht die Eigentümer, doch alles war vergebens. Der Freitagvormittag war für den Predigtdienst vorgesehen; die Abteilungen, die für Gebiete, Zeitschriften und Literatur verantwortlich waren, befanden sich in einer nahe gelegenen Straße. Jeder wurde mit dem versorgt, was er brauchte, denn die Tätigkeit wurde durchgeführt, wie geplant. Doch die Zeit verging sehr schnell, während wir fieberhaft nach einem anderen Saal suchten. Zwei Stunden bevor das Programm beginnen sollte, hatten wir noch keine Lösung gefunden.
Dann unterrichteten uns die Eigentümer der Wintergärten, daß sie im Arenella-Kino einen Platz für uns gefunden hatten. Alle Brüder legten mit Hand an, und die Abteilungen wurden freudig von einem Ort zum anderen verlegt. Gerade rechtzeitig! Trotz allem begann das Programm pünktlich auf die Minute.
Aber die Polizei gab nicht auf. Sie kam zu dem neuen Saal, um weitere Schwierigkeiten zu verursachen. Ich war als Ordner eingeteilt worden, und man hatte mir gesagt, ich solle keine Außenstehenden in den Saal lassen, nicht einmal die Polizei. Bald standen mir ein ,commissario‘ der Polizei und zwei seiner Männer gegenüber ich hielt sie an und bat sie, einen Augenblick zu warten. Sie waren davon nicht sehr beeindruckt und machten Anstalten weiterzugehen. So war ich gezwungen, meine Hand auszustrecken und den ,commissario‘ in der Höhe seiner Taschenuhr festzuhalten. Meine Knie zitterten, aber glücklicherweise griff der Kongreßaufseher an dieser Stelle ein.“
Der Kongreß fand statt, und die Brüder waren aufgrund dieses bedeutsamen Sieges ausnahmslos erbaut und fröhlich. Außerdem wurde zu unseren Gunsten eine noch nie dagewesene Pressekampagne durchgeführt. Viele Zeitungen beschrieben das Vorgehen der Polizei als einen „unerhörten Amtsmißbrauch“, und die gesetzwidrige Intervention war Gegenstand einer Fragestunde bei einer Senatssitzung. Darüber berichtete Il Paese in der Ausgabe vom 8. Februar 1958:
„Der lebhafteste Teil der Sitzung kam in der Fragestunde. Tatsächlich wurden mehrere Fragen über ein ziemlich heikles Thema gestellt — über den Eingriff in religiöse Aktivitäten. Der republikanische Senator Spallicci wollte wissen, weshalb die Mailänder Questura den sofortigen Abbruch eines Kongresses angeordnet hatte, den die kulturelle und religiöse Vereinigung ,Jehovas Zeugen‘ (Bibelforscher) in einem Privatsaal abgehalten hatte. Der Unterstaatssekretär für innere Angelegenheiten, der ehrenwerte Herr Bisori, gab eine sehr ausweichende Antwort. Er erklärte, die Schritte seien aus organisatorischen Gründen unternommen worden. In einer Atmosphäre allgemeiner Ironie sagte der Regierungsbeauftragte, die Maßnahme sei nicht ergriffen worden, um die Religionsfreiheit einzuengen. Sie sei statt dessen wegen Nichtbeachtung von Sicherheitsvorschriften nötig geworden.“
Als Ergebnis dieser Streitfrage wurden sogar hohe Regierungskreise auf den Namen Jehovas und auf sein Volk aufmerksam! Aber wer war in Wirklichkeit daran interessiert, den Kongreß zu verhindern? Die liberale römische Wochenzeitung Il Mondo veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 30. Juli 1957 folgenden Kommentar:
„Artikel 17 der Verfassung garantiert allen Bürgern das Recht, sich auf ordentliche Weise zu versammeln, und besagt in seinem ersten Paragraphen ausdrücklich, daß die Behörden keine vorherige Benachrichtigung über öffentliche Veranstaltungen verlangen dürfen. Außerdem war der Kongreß im Odeon für Anhänger einer religiösen Vereinigung gedacht, und da der fragliche Saal für vier Tage gemietet worden war, hätte er für die Zeit des Vertrages als eine private Zusammenkunftsstätte angesehen werden müssen. Es war daher nicht nur alles gesetzmäßig organisiert worden, sondern man hätte den Veranstaltern, die die Questura rechtzeitig von dem Treffen unterrichtet hatten, auch ihre gewissenhafte Korrektheit anrechnen sollen. Schließlich sind Jehovas Zeugen keine zwielichtigen Verschwörer gegen die Staatssicherheit und auch keine gefährlichen Agitatoren.
Offensichtlich zählen gewissenhafter Respekt vor dem Gesetz und bürgerliches Verantwortungsbewußtsein sehr wenig, wenn Staatsbeamte auf Sicherheitsvorschriften aus der Faschistenzeit zurückgreifen, um den Erzbischof [Giovanni Battista Montini, der später Papst Paul VI. wurde] zufriedenzustellen.“
EINE FREIMÜTIGE RESOLUTION
Der Sommer 1958 war für Jehovas Zeugen in der ganzen Welt denkwürdig. Er zeichnete sich durch den internationalen Kongreß „Göttlicher Wille“ aus, der gleichzeitig im Yankee-Stadion und in den Polo Grounds in New York abgehalten wurde. Unter den 253 922 Delegierten befand sich auch eine kleine Gruppe Italiener. Als sie nach Hause zurückkehrten, sprudelten sie über vor Freude und Staunen über das, was sie gesehen und gehört hatten.
Das New Yorker Kongreßprogramm wurde auf den drei Bezirkskongressen wiederholt, die in Florenz, Neapel und Messina abgehalten wurden, und die Anwesenden werden gewiß die freimütige Resolution, die während des Programms angenommen wurde, nie vergessen. Sie war betitelt: „Inwiefern hat die Christenheit der Menschheit gegenüber versagt?“
Wie zu erwarten, war die Begeisterung unter den Brüdern groß, vor allem als sie erfuhren, daß die Resolution in einem besonderen Feldzug verbreitet werden sollte. Im Dezember 1958 wurde jeder Verkündiger gebeten, 100 Exemplare zu verteilen. Im ganzen Land wurden eine halbe Million Traktate verbreitet.
WAHRE FREIHEIT IN SAN MARINO
Wenn Touristen nach San Marino, der ältesten Republik der Welt, kommen, grüßt sie ein Schild mit der Aufschrift „Willkommen im jahrhundertealten Land der Freiheit!“ Die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in dieser unabhängigen Republik, die völlig von italienischem Territorium umgeben ist, untersteht der Aufsicht des italienischen Zweigbüros.
Wann wurde die wahre Freiheit in diesen kleinen, kaum 60 Quadratkilometer großen Staat gebracht? Im Jahre 1958 begannen Sonderpioniere, das Gebiet zu bearbeiten. Über 10 Jahre später wurde eine kleine Verkündigergruppe, bestehend aus neun Personen, gegründet. Diese Gruppe erhielt im Jahre 1971 den Status einer Versammlung. Im Jahre 1972 fand in der Republik der erste Kreiskongreß statt, und 1 700 Personen waren anwesend. Dieses ungewöhnliche Ereignis veranlaßte die Einheimischen zum Nachdenken. Heute sind in der Versammlung 81 Verkündiger tätig — eine ausgezeichnete Zahl, wenn wir bedenken, daß in San Marino auf 252 Einwohner ein Zeuge Jehovas kommt!
DIE NEUTRALITÄTSFRAGE
Junge Männer in der Christenversammlung haben sich die inspirierte Ermahnung zu Herzen genommen, ‘ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern zu schmieden’ (Jes. 2:4), und vertreten ihren persönlichen Standpunkt, um gegenüber den Kontroversen der Welt eine neutrale Stellung zu bewahren (Joh. 17:14, 16).
Wir haben bereits Remigio Cuminettis „Odyssee“ beschrieben sowie die Prüfungen, die junge Zeugen in den 30er Jahren durchmachen mußten. Nichtsdestoweniger wurde das Problem der christlichen Neutralität nach dem Zweiten Weltkrieg sogar noch akuter, als immer mehr junge christliche Männer aus Gewissensgründen den Wunsch hatten, sich von der Welt getrennt zu halten.
Die ersten Brüder, die in dieser Zeit vor Gericht gestellt wurden, erhielten hohe Gefängnisstrafen und mußten im Gefängnis eine schwere Zeit durchmachen. Einige wurden fünf- bis sechsmal vor Gericht gestellt und erhielten Gefängnisstrafen, die sich insgesamt auf vier oder mehr Jahre beliefen. Wenn nämlich ein junger Zeuge aus dem Gefängnis kam, wurde er erneut zum Militärdienst eingezogen und jedesmal, wenn er sich weigerte, wieder ins Gefängnis geschickt. Das hätte theoretisch so lange weitergehen können, bis er das Alter von 45 Jahren erreichte und der Wehrpflicht nicht mehr unterlag. Doch nachdem die Brüder einige Male im Gefängnis gewesen waren, wurden sie von den Militärbehörden gewöhnlich aus Gesundheitsgründen freigestellt, weil man keine Märtyrer aus ihnen machen wollte. Man schrieb ihnen „religiösen Wahn“ oder „religiöses Delirium“ zu. Mit anderen Worten: Sie wurden als geisteskrank angesehen.
Ein paar kurze Erfahrungen einiger Brüder, die diese Prüfung überstanden, werden uns alle erbauen. Ennio Alfarano, der in den 50er Jahren fünfmal verurteilt wurde, erinnert sich, wie es ihm gelang, diese kritische Erfahrung zu überstehen:
„Ich war in Gaeta eingesperrt. Der Hauptmann versuchte, drei von uns zum militärischen Gruß zu zwingen, und als wir uns weigerten, bestrafte er uns, indem er uns für acht Stunden die Arme und Beine hinter dem Rücken festbinden ließ. Das war sehr schmerzhaft. Trotzdem blieben wir guten Mutes, indem wir beteten und Lieder sangen, um uns gegenseitig zu erbauen, und das half uns. Danach sollten wir drei Tage nur von Wasser und Brot leben, aber die anderen Brüder im Gefängnis erfuhren davon, und es gelang ihnen immer, uns genügend Nahrung zu bringen, so daß wir auf den Beinen blieben.“
Giuseppe Timoncini, der zwischen 1956 und 1961 ebenfalls fünfmal zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde, erinnert sich:
„Die Militärbehörden versuchten, mich zu entmutigen. Man sagte mir: ,Kein Zeuge Jehovas leistet lange Widerstand. Sie halten höchstens ein Verfahren aus, und dann geben sie auf und sind zum Militärdienst bereit.‘ Ich erwiderte darauf stets, daß dies nicht wahr sei. Darauf lasen sie mir eine Liste mit den Namen derer vor, die sich bereit erklärt hatten, Militärdienst zu leisten. Die Namen waren natürlich erfunden.
Um die Monate strenger Haft ertragen zu können, versuchte ich, sowenig wie möglich an das Ende meiner Haftzeit zu denken, und manchmal vergaß ich vollständig, wie viele Monate und Tage mir noch bevorstanden. Ich denke, diese Zeit war für mich eine nützliche Schulung. Sie half mir, zu lernen, mich irgendeiner Situation anzupassen und demütig zu sein und mehr auf Jehova Gott zu vertrauen.
Gino Tosetti, der über vier Jahre im Gefängnis verbrachte, erzählt:
„Meine ersten Tage im Gefängnis in Einzelhaft waren sehr schwer zu ertragen. Ich erinnere mich noch genau, was in Palermo geschah. Eines Morgens weckte mich der Wächter mit den Worten: ,Aus dem Bett, Tosetti! Draußen wartet ein Stapel Holz darauf, kleingehackt zu werden.‘ Er hatte mich bis dahin jeden Morgen Holz hacken lassen, aber an jenem Tag konnte ich einfach nicht mehr. Meine Hände hatten so viele Blasen und waren so wund, daß ich nicht einmal die Axt in die Hand hätte nehmen können.
Ich bat darum, vom Arzt untersucht zu werden. ,Sie können nur dann im Bett bleiben, wenn Sie Fieber haben. Wenn Sie keines haben, gibt es Ärger!‘ schrie er, während er hinausging. Ich dachte an das Schlimmste und betete zu Jehova, er möge mir helfen. Als sie dann kamen, um meine Temperatur zu messen, war ich genauso überrascht wie sie, als das Thermometer 39 °C anzeigte.
Ich hatte viele Gelegenheiten, Zeugnis zu geben. Einmal konnte ich zu einer Gruppe von etwa 40 Soldaten sprechen, die um mich herumstanden und mir fast zwei Stunden lang aufmerksam zuhörten. Unser gutes Benehmen veranlaßte viele, auch einige unserer Wächter, die Wahrheit anzunehmen. Eines Morgens sagte ein Soldat, der Wache hatte, zu mir: ,Tosetti, verzeihen Sie mir bitte all das Schlechte, was ich Ihnen angetan habe. Trotz meines schlechten Benehmens haben Sie nie versucht, sich an mir zu rächen. Als ich letzte Nacht Wache hatte, las ich Ihre Zeitschrift „Der Wachtturm“, und sie half mir, viele Dinge zu verstehen, die ich bis dahin nicht für wichtig gehalten hatte. Ich möchte, daß Sie mir helfen, sie besser zu verstehen.‘
Dieser junge Soldat hatte mir nur allzugern Schwierigkeiten gemacht, aber ich war mehr als bereit, ihm zu verzeihen. Später verloren wir uns aus den Augen, und einige Jahre vergingen. Ich war inzwischen wieder frei und besuchte gerade einen Bezirkskongreß, als jemand auf mich zukam und sagte: ,Kannst du dich nicht mehr an mich erinnern? [Er sagte mir seinen Namen.] Ich habe immer für dich die Gefängnistüren geöffnet und geschlossen, und du hast mit mir über die Wahrheit gesprochen.‘ Er war ein Bruder geworden. Wir fielen uns in die Arme, und jeder hatte Tränen in den Augen.“
Während die Zahl der Zeugen zunahm, wurden sowohl die Öffentlichkeit als auch die Behörden ständig auf die Streitfrage aufmerksam gemacht. Schließlich wurde ein Gesetz angenommen, das vorsah, daß Personen, die nicht bereit sind, Ersatzdienst zu leisten, zu einer einmaligen Gefängnisstrafe verurteilt werden, so daß unsere jungen Brüder jetzt 12 bis 15 Monate Haft erhalten.
Inzwischen haben sich auch die Lebensbedingungen in den Militärgefängnissen verbessert. Die Zeugen können reguläre Zusammenkünfte abhalten und haben eine theokratische Bibliothek, die ihnen bei ihrem persönlichen Studium von Nutzen ist. Sie können das Programm von Kreis- und Bezirkskongressen durchführen und sogar biblische Dramen in Kostümen aufführen. Es ist ihnen auch erlaubt worden, einige Personen zu taufen, die noch im Gefängnis beschlossen, sich Jehova hinzugeben. Jedes Militärgefängnis wird regelmäßig von christlichen Ältesten besucht, die dazu besonders beauftragt worden sind.
Von 1978 bis 1980 sind im Durchschnitt 500 junge Brüder im Jahr wegen der Neutralitätsfrage im Gefängnis gewesen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben mehrere tausend Zeugen in dieser Hinsicht ein gutes Gewissen vor Jehova Gott bewahrt. Im Dezember 1980 kündigte der Verteidigungsminister über das staatliche Fernsehen an, daß eine Parlamentsvorlage erwogen werde, die die Stellung unserer Brüder weiter verbessern würde. Während des Interviews beschrieb er die Zeugen als „anständige Leute“ und erklärte, daß der Staat mit dem neuen Gesetz „Respekt vor allen Religionen bekunden wird“.
Das Verhalten junger Zeugen Jehovas in Verbindung mit der christlichen Neutralität hat die Achtung erhöht, die Jehovas Zeugen genießen. Zum Beispiel war im Corriere di Trieste zu lesen:
„Jehovas Zeugen sind wegen ihrer Standhaftigkeit und ihres Zusammenhalts zu bewundern. Im Gegensatz zu anderen Religionen bewahrt sie ihre Einheit als ein Volk davor, im Namen Christi denselben Gott zu bitten, die beiden gegnerischen Seiten eines Konfliktes zu segnen, oder Politik mit Religion zu vermischen, um den Interessen von Staatsoberhäuptern oder politischen Parteien zu dienen. Und nicht zuletzt sind sie bereit, eher den Tod auf sich zu nehmen, als gegen die Grundvoraussetzung für das Heil des Menschen zu verstoßen: das Gebot DU SOLLST NICHT TÖTEN!“
DER KONGRESS „EWIGE GUTE BOTSCHAFT“
Der Kongreß „Ewige gute Botschaft“ war in unserer Geschichte ein wichtiger Meilenstein. Es war jedoch nicht möglich, ihn in Rom abzuhalten. Die katholische Kirche hatte beschlossen, im Jahre 1963 das Zweite Vatikanische Konzil durchzuführen, und ein Regierungsbeamter sagte unserem Beauftragten ganz offen, daß man es nicht für passend erachte, einer nichtkatholischen Religionsgemeinschaft zu erlauben, zu dieser Zeit einen Kongreß in Rom abzuhalten. Auch sagte er, Rom sei 1963 für Nichtkatholiken Sperrgebiet. Sie dürften die Stadt als Touristen besuchen, aber nicht in organisierten Gruppen auftreten.
Aus diesem Grund veranstalteten wir unseren 8tägigen internationalen Kongreß im Mailänder Velodromo Vigorelli, einer Radrennbahn. Die Organisation eines solch großen Kongresses, zu dem 20 000 Delegierte erwartet wurden, war für die italienischen Brüder eine neue Erfahrung. Was war ihr schwierigstes Problem? Bruder Giuseppe Cialini, ein reisender Aufseher, der an der Vorkongreßarbeit teilnahm, sagt: „Außer den Unterkünften, die uns die verschiedenen Hotels zur Verfügung stellten, brauchten wir Tausende zusätzlicher Zimmer. So beschlossen wir, Unterkünfte in Privatwohnungen zu suchen, und Sonderpioniere wurden für die Unterkunftssuche herbeigerufen. Es war das erstemal, daß in Italien Privatunterkünfte gesucht wurden, und 6 000 Brüder erhielten auf diese Weise eine Unterkunft.“
Es überraschte kaum, daß die Geistlichkeit bald begann, sich unseren Bemühungen zu widersetzen. Ein paar Tage bevor der Kongreß beginnen sollte, warnten die Priester ihre Gemeindemitglieder davor, Jehovas Zeugen zu beherbergen. Der Gemeindepriester der St.-Andreas-Kirche in Mailand hängte an die Kirchenmauer ein auffälliges Schild, auf dem stand: „Jehovas Zeugen sind keine Christen.“ Als Folge dieser Propaganda zogen einige Personen ihr Unterkunftsangebot zurück.
Jedoch standen nicht alle Priester der Kongreßorganisation feindlich gegenüber, wie aus der Erfahrung eines Sonderpioniers hervorgeht. Er erzählt:
„Ich besprach mit der Wohnungsinhaberin den Preis für die Unterkünfte und stellte fest, daß sie bereit war, den Betrag, den wir beim ersten Besuch empfohlen hatten, zu reduzieren. Sie erklärte auch, warum. Sie hatte ihren Priester gefragt, ob sie uns die Zimmer vermieten sollte, und er hatte gesagt: ,Geben Sie den Zeugen Jehovas, die zu ihrem Kongreß kommen, auf jeden Fall Unterkünfte. Sie sind die einzigen aufrichtigen Menschen, die sich versammeln, um über ihren Gott zu sprechen. In unserer Zeit könnten wir mehr Leute gebrauchen wie sie — Menschen, die bereit sind, sich zu versammeln in der Absicht, Gott besser kennenzulernen. Alle, die Jehovas Zeugen Gastfreundschaft erweisen, leisten der Menschheit einen guten Dienst.‘ “
Die Unterkunftssuche war auch von einem anderen Standpunkt aus sehr erfolgreich. Sie führte dazu, daß in ganz Mailand ein konzentriertes Zeugnis gegeben wurde, und viele Wohnungsinhaber lernten das Benehmen der Zeugen wertzuschätzen, wie eine Sonderpionierin erzählt:
„Eine Dame öffnete auf mein Klopfen die Tür. Nachdem ich ihr den Zweck meines Besuches erklärt hatte, sagte sie, sie habe Platz für etwa 10 Personen, aber sie wolle sich erst mit einem Bekannten, einem Polizeibeamten, beraten, bevor sie irgendwelche Versprechungen mache. Als ich am nächsten Tag wieder vorsprach, begrüßte mich die Dame mit einem strahlenden Lächeln und sagte: ,Meine liebe junge Dame, ich bin sehr gern bereit, 10 Personen bei mir unterzubringen. Wissen Sie, was mein Bekannter gesagt hat? Ich wiederhole seine Worte. Er sagte: „Signora, Sie können diese Leute nicht nur unbesorgt beherbergen, sondern Sie können ihnen auch die Schlüssel geben und nach Amerika verreisen, wenn Sie wollen.“ Es tut mir wirklich leid, daß ich während Ihres Kongresses nicht weggehen kann, sonst würde ich Ihnen gern die ganze Wohnung überlassen.‘ “
Eine der anstrengendsten Vorkongreßarbeiten war die Reinigung der Rennbahn. Warum? Bruder Antonio Capparelli erinnert sich: „Einige Zeit vor unserem Kongreß im Velodromo — es war kurz vor dem Tod von Papst Johannes XXIII. — hatte Kardinal Montini ein katholisches Treffen veranstaltet. Jeder Katholik, der bei diesem Treffen zugegen war, hatte eine brennende Kerze in der Hand, und daher waren die Stufen der Arena mit Kerzenwachs und Kaugummi überzogen. Hunderte von Brüdern, von denen einige sogar aus Turin kamen, waren nötig, um alles abzukratzen und zu reinigen. Die Arbeit nahm eine ganze Woche in Anspruch.“
Auf diesem Kongreß waren Delegierte aus 52 Nationen anwesend. Die Zuhörerschaft wurde in vier Sektoren unterteilt, Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch, so daß das Programm gleichzeitig in diesen Sprachen dargeboten werden konnte. Eine Anzahl Programmpunkte fanden auch in Englisch statt. Am Ende des Mittwochnachmittagsprogramms waren die Zuhörer überglücklich, als Bruder Knorr bekanntgab, daß die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften jetzt in den Sprachen der vier erwähnten Gruppen sowie in Deutsch und Niederländisch erhältlich sei.
Einige der 70 Teilnehmer des allerersten Kongresses, der 1925 in Pinerolo stattgefunden hatte, waren auch bei diesem denkwürdigen Anlaß anwesend. Wie man sich vorstellen kann, war es für sie ein unvergeßliches Erlebnis, unter den 20 516 Personen zu sein, die beim öffentlichen Vortrag zugegen waren. Eine dieser Schwestern schrieb: „Nachdem ich den Kongreß in Pinerolo besucht hatte, könnt Ihr Euch vorstellen, was es für mich bedeutete, nahezu 40 Jahre später in Mailand zu sein. Schon dieses Erlebnis allein würde genügen, um meine übergroße Freude zu erklären.“
Am Ende des Kongresses wollte keiner wieder abreisen, und die Brüder aus den verschiedenen Ländern verweilten noch lange beim Abschiednehmen, traurig, daß die Zeit zur Abreise gekommen war. Viele von uns erinnern sich noch daran, wie Hunderte unserer spanischen und portugiesischen Brüder auf den Treppen saßen und ihren Brüdern mit Taschentüchern zum Abschied winkten.
AUFSICHT IM ZWEIGBÜRO
Als Bruder Joseph Romano 1947 in Italien eintraf, wurde er zum Zweigaufseher ernannt, und er diente in dieser Eigenschaft bis zum Mai 1954. Von 1954 bis 1960 bekleidete Bruder Antonio Sideris diese Stellung, und dann wurde er eine Zeitlang von Bruder Romano ersetzt, bis 1964 Bruder Valter Farneti Zweigaufseher wurde. Vielleicht erinnerst du dich noch an den Besuch, den Bruder Vannozzi Jahre zuvor in der Versammlung Faenza gemacht hatte, nach dem er schrieb: „Hoffen wir, daß eines Tages einige dieser jungen Leute beschließen, in die Reihen derer einzutreten, die dieses großartige Dienstvorrecht wahrnehmen [den Pionierdienst].“ Nun, einer dieser jungen Leute war Bruder Farneti. Nachdem er als Bezirksaufseher gedient hatte, besuchte er einen 10monatigen Kurs der Wachtturm-Bibelschule Gilead und wurde dann zum Zweigaufseher ernannt. Er ist immer noch der Zweigkoordinator.
ZWEI PUBLIKATIONEN BESCHLEUNIGEN DEN FORTSCHRITT
Welches bessere Mittel könnte es geben, den Fortschritt zu beschleunigen, als unsere eigene Übersetzung der Heiligen Schrift zusammen mit einem kleinen Handbuch, das sie in einfachen Worten erklärt? Man kann wirklich sagen, daß die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift und das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt genau zur richtigen Zeit kamen, um wahre Anbeter zu stärken.
Die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften steht seit 1963 in Italienisch zur Verfügung, doch obwohl ihre Veröffentlichung einen beträchtlichen Fortschritt darstellte, war es offenkundig, daß Gottes Volk eine Übersetzung der gesamten Bibel brauchte. Die italienischen Zeugen hatten sehr große Mengen katholischer und protestantischer Bibeln zu hohen Kosten erworben. Wenn bei den Zusammenkünften ein Redner aus einer Bibelübersetzung einen Schrifttext vorlas, mußten die Anwesenden immer in Gedanken das, was sie hörten, mit den Worten ihrer eigenen Bibelübersetzung in Einklang bringen. Selbst als die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften benutzt wurde, mußten sie immer eine andere Übersetzung für Zitate aus den Hebräischen Schriften bereithalten.
Wie begeistert waren daher die Brüder, als sie die Nachricht erhielten, daß endlich die vollständige Neue-Welt-Übersetzung in Italienisch gedruckt worden war! Die erste Lieferung, die im Frühjahr 1968 eintraf, war bald vergriffen, weil im Juni ein besonderer Bibelfeldzug durchgeführt wurde. Seitdem sind über 1 600 000 Exemplare verbreitet worden. Jehovas Diener können sich jetzt einheitlich ausdrücken, während sie den Urheber dieses Buches lobpreisen und aufrichtige Menschen über seine Grundsätze belehren.
Das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt kann treffend als das „richtige Buch zur richtigen Zeit“ bezeichnet werden. Seine Freigabe wurde auf den Sommerkongressen im Jahre 1968 angekündigt, und die Versammlungen konnten es im Herbst erhalten. Dieses Buch, von dem in Italienisch bis 1980 bereits 4 000 000 Exemplare verbreitet wurden, hat gewiß dazu beigetragen, den Fortschritt des Königreichswerkes zu beschleunigen.
INTERNATIONALER KONGRESS „FRIEDE AUF ERDEN“
Im Sommer 1969 fand in Rom ein weiteres großes geistiges Festmahl statt: der internationale Kongreß „Friede auf Erden“. Die spanischen Brüder, die damals nicht die Freiheit hatten, sich in ihrem eigenen Land zu versammeln, waren ebenfalls anwesend. Die Italiener hatten ihr Programm in dem schönen Palazzo dello Sport, während die Spanier im Palazzo dei Congressi versammelt waren, wo im Jahre 1955 der Kongreß „Triumphierendes Königreich“ abgehalten worden war.
Es kamen Delegierte aus 35 Nationen, und beim öffentlichen Vortrag waren insgesamt 25 648 Personen anwesend. Die Zahl der Täuflinge belief sich auf 2 212, Niemand hatte erwartet, daß sich so viele taufen lassen würden. Es war ein Anzeichen dafür, daß ein großes Wachstum zu erwarten war.
Die Presse berichtete in außergewöhnlichem Umfang über den Kongreß. Die Tageszeitung Roma kommentierte in ihrer Ausgabe vom 15. August 1969 die Taufe folgendermaßen: „Alles ging in einer Atmosphäre großen Friedens und großer Ruhe vor sich, so daß die Karabinieri, die dorthin geschickt worden waren, um mit weiß der Himmel was für einem Notfall fertig zu werden, ziemlich fehl am Platz wirkten. Angesichts von soviel Ordnung und Geduld kam einem gestern morgen unwillkürlich der Gedanke in den Sinn, daß in Italien vieles leichter ginge, wenn es mehr Zeugen Jehovas gäbe, zum Beispiel, wenn es darum geht, in den Bus zu kommen, in öffentlichen Einrichtungen zu warten, bis man an die Reihe kommt, sich vor dem Stadion anzustellen und (warum nicht?) an Feiertagen zu verreisen.“
DAS WERK IN LIBYEN
Libyen umfaßt ein riesiges Gebiet am Mittelmeer, das fast ausschließlich aus Wüste besteht. Es hat eine Bevölkerung von fast 2 500 000 Einwohnern, größtenteils moslemische Araber. Vor dem Zweiten Weltkrieg befand sich das Land unter italienischer Herrschaft und hatte eine blühende italienische Gemeinde. Doch bis zum Ende der 60er Jahre sahen sich die meisten Italiener gezwungen, Libyen zu verlassen.
Das Werk der Zeugen Jehovas in Libyen begann im April 1950, als Michel Antonovic aus Ägypten in Tripolis eintraf, um dort seiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Das Predigen dieses Bruders zeitigte bald Früchte, besonders unter der italienischen Bevölkerung. So beschloß man im Jahre 1953, das Werk in diesem Land nicht mehr von Ägypten, sondern von Italien aus zu beaufsichtigen. Während es Fortschritte machte, traten verschiedene Schwierigkeiten auf. Es kam zu Verhaftungen, Gerichtsverfahren, zur Beschlagnahme von Literatur usw.
Im Jahre 1957 wurde ein Antrag auf gesetzliche Anerkennung des Werkes gestellt, aber dieser wurde aufgrund falscher Anschuldigungen abgelehnt. Unter anderem behauptete man, wir seien eine Geheimorganisation, die der zionistischen Bewegung nahestehe. Trotzdem machte das Werk Fortschritte, bis es im Jahre 1959 89 Verkündiger und einen Sonderpionier gab. Bald danach ging das Werk zurück, weil die Behörden viele Brüder auswiesen und sie gezwungen waren, nach Italien zurückzukehren.
Im Jahre 1964 wurde das Werk verboten, und nach dem Regierungswechsel im Jahre 1969 mußten fast alle Italiener, auch die zurückgebliebenen Brüder, das Land verlassen. So kann man zwar sagen, daß Libyen in der Vergangenheit erstklassige Früchte hervorgebracht hat, doch die Zukunft liegt nun in Jehovas Hand.
DER BAU DES NEUEN BETHELS
Als Bruder Knorr 1968 das Zweigbüro in Italien besuchte, beauftragte er die Brüder, ein Stück Land zu suchen, das sich für den Bau eines neuen Bethels eignete. Ein besonders passendes Grundstück wurde am nordöstlichen Stadtrand von Rom gefunden. Außerdem befand es sich in der Nähe der „Autostrada del Sole“, der wichtigsten Autobahn Italiens, und lag daher günstig für den Versand.
Wir reichten beim Stadtrat von Rom Pläne ein, um eine Baugenehmigung zu erhalten, doch es traten Schwierigkeiten auf, weil die theokratische Organisation vom Staat immer noch nicht offiziell anerkannt wurde. Im Jahre 1969 erfuhren jedoch die Verantwortlichen des Stadtplanungsamtes aus der Presse, daß über 25 000 Personen an unserem internationalen Kongreß teilgenommen hatten. Das überzeugte sie endlich, daß diese Religion eine Realität geworden war, die nicht länger ignoriert werden konnte. Im März 1971 erhielten wir schließlich die Baugenehmigung, und wir machten uns sofort an die Arbeit. Die Bauarbeiten wurden fast ausschließlich von Brüdern verrichtet, und im Frühjahr 1972 war das dreistöckige Gebäude mit einem Kellergeschoß fertiggestellt.
Das neue Bethel wurde am 27. Mai 1972 eingeweiht. Am nächsten Tag hielt Bruder Knorr im Flaminio-Stadion vor 15 700 Personen den Vortrag „Ein Haus zur geistigen Unterweisung“. Viele der anwesenden Brüder besuchten das neue Bethel und waren sehr glücklich, zu sehen, daß Jehova das Werk in Italien segnete.
KONGRESS „GÖTTLICHER SIEG“
„Göttlicher Sieg“ war das aufrüttelnde Motto des Landeskongresses, der im August 1973 im Flaminio-Stadion abgehalten wurde. Die 30 000 Verkündiger Italiens waren begeistert, 57 000 Anwesende zu sehen. Das Stadion war gedrängt voll, und diese eindrucksvolle Menschenmenge war schon an sich ein Anzeichen von dem Ausmaß der Einsammlung, die vor sich ging. Die Taufe, bei der 3 366 Personen ihre Hingabe an Jehova symbolisierten, war die größte Massentaufe, die je in Italien stattfand.
Die Zeitungen berichteten in 6 000 cm Spaltenlänge von einer „außergewöhnlich großen Menschenmenge“ und von dem „spektakulären Wachstum“ der Zeugen Jehovas.
Il Messaggero schrieb am 11. August 1973: „All diese Gläubigen, so jung, so eifrig, so hingebungsvoll und so voll von brüderlicher Liebe ...“
Il Tempo kommentierte am 14. August 1973: „In einer Welt, in der Institutionen auseinanderfallen und die Menschen dazu neigen, ihren eigenen Sittenkodex aufzustellen und sogar ihre eigene Religion zu erfinden, ist es interessant, Menschen aus allen Lebensbereichen und von ganz unterschiedlicher kultureller Herkunft in vollkommener Harmonie versammelt zu sehen zu dem Zweck, ihren Glauben an ein zuverlässiges Mittel für eine gemeinsame Rettung zu stärken.“
JEHOVA SEGNET SEIN VOLK
„Dein Segen ist auf deinem Volk“, sagte der Psalmist (Ps. 3:8). Erinnerst du dich noch an die kleine Gruppe von 120 Verkündigern im Jahre 1946? Nach einem langsamen und schweren Beginn sind diese loyalen Anbeter gesegnet worden, und sie haben an der Einsammlung einer immer größeren „Ernte“ teilgenommen. Die später abgedruckten Tabellen zeigen, welch ein wunderbares Wachstum Jehovas Volk besonders nach der Mitte der 60er Jahre erlebt hat. Im Jahre 1980 gab es in Italien 84 847 Verkündiger, und im Juni 1981 stieg die Zahl auf 90 191 an.
Die Zahlen in diesen Tabellen beweisen nicht nur die Ausdehnung der Königreichsinteressen, sondern sie zeigen auch, daß es ausgezeichnete Aussichten für die Zukunft gibt.
Die 1 364 Versammlungen, die es jetzt gibt, sind zu 84 Kreisen und 5 Bezirken organisiert. Nach zuverlässigen Statistiken sind Jehovas Zeugen die größte nichtkatholische Religionsgemeinschaft im Land. Doch ungeachtet der Statistik erkennen wir, daß es in Jehovas Augen darauf ankommt, seine Gunst und seinen Segen zu empfangen (Spr. 10:22).
DIE ZEITSCHRIFTEN IM BETHEL GEDRUCKT
Während die Zahl der Königreichsverkündiger und der Zeitschriftenabonnenten weiter zunahm, wuchs der Bedarf an mehr und mehr Exemplaren der Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! in Italienisch. Erst erhielten wir die Zeitschriften direkt aus Brooklyn. Nach 1969 wurden sie eine Zeitlang in London gedruckt. Vom April 1971 an druckte dann das Schweizer Zweigbüro die Zeitschriften. Aber all das war mit gewissen Problemen verbunden. Daher wurden die Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! ab Juni 1972 von einer weltlichen Druckerei in Rom hergestellt. Doch wegen Streiks und anderer Unannehmlichkeiten erwies sich dies bald als unbefriedigend, denn häufig verzögerten sich die Lieferungen.
Angesichts dieser Situation machte die Gesellschaft Pläne, im Bethel in Rom eine Rotationsmaschine aufzustellen. Das geschah schließlich auch. Ende 1975 war die Druckerei in Rom dann bereit, ihre eigenen Zeitschriften herzustellen. Die Erwachet!-Ausgabe vom 22. Januar 1976 und die Wachtturm-Ausgabe vom 1. Februar 1976 waren die ersten, die von der Presse kamen.
Im Dienstjahr 1980 wurden in Italien über 18 500 000 Zeitschriften gedruckt. Die durchschnittliche Auflage des italienischen Wachtturms beträgt jetzt 520 000 Exemplare pro Ausgabe und die von Erwachet! fast 470 000.
STRASSENDIENST MIT DEN ZEITSCHRIFTEN
Bis zum Jahre 1974 wurden die Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! von den italienischen Verkündigern nur von Haus zu Haus verbreitet, aber nicht auf den Straßen oder auf öffentlichen Plätzen. Warum nicht? Du wirst dich erinnern, daß die Brüder über 100 Gerichtsfälle durchkämpfen mußten, um ihr Recht, die gute Botschaft zu predigen, gesetzlich zu verankern. Es gab zwar kein Gesetz gegen den Straßendienst mit den Zeitschriften, doch die Rechtsberater der Gesellschaft hatten empfohlen, besser Schritt für Schritt vorzugehen. Zuerst wollten wir unser Recht befestigen, von Haus zu Haus zu predigen, und dann konnten wir einen Schritt weiter gehen.
Da das Werk im ganzen Land gut voranging, dachten wir, es sei an der Zeit, unsere Tätigkeit auszudehnen. Bevor wir jedoch überall den Straßendienst mit den Zeitschriften einführten, unternahmen wir einen Testfeldzug in einigen Städten wie Mailand, Florenz und Neapel. Angesichts der ausgezeichneten Ergebnisse und der Tatsache, daß keine Schwierigkeiten aufgetreten waren, wurden im Königreichsdienst für November 1975 Richtlinien gegeben, wie die Verkündiger in Übereinstimmung mit dem Gesetz des Landes Straßendienst mit den Zeitschriften verrichten konnten. Von dieser Zeit an ist dieser besondere Dienstzweig überall in Italien durchgeführt worden.
DIE ORGANISATION WIRD GESETZLICH ANERKANNT
Im Jahre 1951 wurde ein Versuch unternommen, die offizielle Anerkennung der theokratischen Organisation zu erreichen. In Mailand wurde eine Körperschaft gegründet, und ein Antrag auf gesetzliche Anerkennung wurde eingereicht. Am 11. Februar 1953 wies die Mailänder prefettura (Präfektur) unseren Antrag ab mit der Begründung, daß „die notwendigen Bedingungen für die Annahme des Antrags“ nicht erfüllt seien. Worin bestanden diese „notwendigen Bedingungen“, von denen die gesetzliche Anerkennung abhing? Gemäß dem Gesetz waren im wesentlichen zwei Bedingungen zu erfüllen: 1. Die Religion sollte der Regierung „bekannt“ sein. 2. Ihre Ziele sollten nicht im Widerspruch zu dem Interesse von Recht und Ordnung oder zu dem Sittlichkeitsempfinden der Öffentlichkeit stehen.
Ende der 50er Jahre unternahmen wir einen weiteren Versuch beim Innenministerium, doch wieder erfolglos. Der Hauptgrund dafür war, daß unsere Organisation in Regierungskreisen wenig bekannt war und oft in ein schlechtes Licht gerückt wurde. Der Rechtsanwalt, der unseren Fall übernommen hatte, schrieb, in Italien mache sich immer noch „das Fehlen eines in der Tradition begründeten liberalen Geistes“ bemerkbar.
Mehrere Jahre vergingen. Mit Hilfe des heiligen Geistes Gottes ging das Werk der Zeugen Jehovas gut voran, und die Brüder wurden im ganzen Land für ihre hervorragenden sittlichen Eigenschaften bekannt. Im Februar 1976 wurde der Antrag erneuert und endlich angenommen. Das Zweigbüro erfuhr von der Entscheidung im Juni des gleichen Jahres — die Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania war gesetzlich anerkannt
Darauf eröffneten sich neue Aussichten. Tatsächlich erhielten wir Ende 1976 die staatliche Genehmigung, Personen einzusetzen, die offiziell befugt waren, Ehen zu schließen. Außerdem wurden 1976 und 1979 zwei Ministerialerlässe herausgegeben, die es Vollzeitdienern ermöglichten, Zugang zu der Gesundheitsfürsorge und der Altersversorgung zu bekommen, die Geistlichen zur Verfügung stehen. Kürzlich wurde eine weitere Vereinbarung getroffen, durch die eine gewisse Anzahl Aufseher autorisiert wurden, Gefängnisinsassen zu besuchen, die die Hilfe von Jehovas Zeugen wünschen.
Die Anerkennung der Watch Tower Society bedeutet, daß Eigentum unter diesem Namen registriert werden kann, und mehrere Versammlungen kaufen oder bauen nun ihre eigenen Königreichssäle und lassen das Eigentum im Namen der Gesellschaft registrieren. Vorher waren fast alle Königreichssäle gemietet. Sehr wenige gehörten Jehovas Zeugen, da die Versammlungen verpflichtet waren, sie im Namen eines oder mehrerer Brüder registrieren zu lassen.
Jetzt gibt es in Italien zwei Kongreßsäle. Der erste, der im Oktober 1977 in Mailand eingeweiht wurde, ist ein ehemaliges Kino, das renoviert und unseren Erfordernissen angepaßt wurde. Der andere, der sich am Stadtrand von Turin befindet, wurde speziell für diesen Zweck gebaut; er wurde im Mai 1979 eingeweiht.
Seit die Organisation von der italienischen Regierung offiziell anerkannt worden ist, haben Jehovas Zeugen größere Handlungsfreiheit und können immer wirkungsvollere Mittel gebrauchen, um die Interessen der reinen Anbetung zu fördern.
RADIO- UND FERNSEHPROGRAMME
Es heißt, daß es in Italien zusätzlich zu den staatlichen Sendern 3 000 Radiostationen und 600 Fernsehsender gibt. Im Jahre 1976 begannen wir, diese Privatsender zu nutzen, um die „gute Botschaft“ noch weiter zu verbreiten. Gegenwärtig werden unsere Programme regelmäßig von 280 Radio- und 30 Fernsehstationen kostenlos gesendet. Was die Fernsehprogramme betrifft, so versorgt das Zweigbüro die Brüder mit Redeplänen für Gespräche oder Interviews und sogar mit Bilderprogrammen, die sich auf Dias aus den Vorträgen der Kreisaufseher stützen. Bis jetzt haben wir fast 200 Radio und 50 Fernsehprogramme in Umlauf.
Aus den Berichten, die wir erhalten haben, geht hervor, daß diese Programme anscheinend sehr erfolgreich sind. Manchmal führen sie zu unmittelbaren Ergebnissen. Zum Beispiel baten in Oristano auf Sardinien 15 Personen darum, von Jehovas Zeugen besucht zu werden. In drei Ortschaften der Provinz Salerno haben etwa 35 Personen begonnen, mit uns die Bibel zu studieren, nachdem sie unsere Programme gehört hatten. Ein Aufseher berichtet „In der Provinz Ragusa [Sizilien] kam ein Verkündiger im Haus-zu-Haus-Dienst zu einem Mann, der sagte ,Ich habe Sie erwartet. Ich verfolge jeden Donnerstag Ihr Programm, und ich war sicher, daß Sie früher oder später bei mir vorsprechen würden.‘ Er willigte in ein Bibelstudium ein.“
Natürlich gibt es nicht immer unmittelbare Ergebnisse. Doch dank unserer Programme haben in einigen Teilen unseres Gebiets viele Personen jetzt eine bessere Einstellung zur Königreichsbotschaft, und wenn die Verkündiger vorsprechen, hören die Wohnungsinhaber aufmerksamer zu.
DER FELDZUG MIT DER „BLUT“-BROSCHÜRE
In Italien rückte die Blutfrage in den 60er Jahren in den Blickpunkt. Damals hielten Ärzte Bluttransfusionen in vielen Fällen für eine unersätzliche Therapie, und sie beachteten die damit verbundenen Risiken kaum. Es war daher sehr schwer, Chirurgen zu finden, die bereit waren, ohne Blut zu operieren, und Verkündiger mußten oft von Stadt zu Stadt gehen, bis sie einen Chirurgen fanden, der sie operieren wollte. Wenn gewisse Notfälle eintraten, veröffentlichten die Zeitungen Artikel, die einer Aufhetzung der Öffentlichkeit gleichkamen. Unter solchen Umständen war es für die Brüder sehr schwer, mit der großen Feindseligkeit fertig zu werden, die ihnen in einigen Gebieten entgegengebracht wurde.
Gegen Mitte der 70er Jahre besserte sich die Situation, da immer mehr Ärzte unseren Standpunkt verstehen lernten. Doch zweifellos ist seit Dezember 1977 eine deutliche Besserung zu beobachten. Wieso? In diesem Monat führten wir einen landesweiten Feldzug mit der Broschüre Jehovas Zeugen und die Blutfrage durch. In Italien wurde die Broschüre an 87 000 Ärzte, 48 000 Rechtsanwälte und Friedensrichter und schätzungsweise 200 000 Krankenschwestern verteilt. Die Ergebnisse dieses Feldzugs waren sehr positiv; sie übertrafen gewiß unsere Erwartungen.
In erster Linie wurde der Name Jehovas von der Schmach befreit, die zu Unrecht auf ihn gebracht worden ist, weil wir uns entschlossen ‘des Blutes enthalten’ (Apg. 15:19, 20, 28, 29). Jetzt haben die Brüder selbst einen besseren Begriff von den Grundlagen der Blutfrage und sind zuversichtlicher, wenn sie mit Medizinern zu tun haben. Außerdem sind nun viel mehr Ärzte in Erscheinung getreten, die bereit sind, unsere Überzeugung zu respektieren.
KONFERENZEN ÜBER BLUTTRANSFUSIONEN
Als Folge des Interesses, das durch die Verbreitung der Broschüre geweckt wurde, veranstalteten Experten eine Anzahl von Konferenzen, um sich eingehender mit der Sache zu befassen. Am 21. Februar 1978 führte die bekannte „Carlo-Erba-Stiftung“ in Mailand eine Konferenz über das Thema „Chirurgie, Bluttransfusionen und Jehovas Zeugen“ durch. Die Konferenz unter dem Vorsitz von Professor Carlo Sirtori, einem weltbekannten Wissenschaftler, trug dazu bei, daß viele Verständnis für unseren Standpunkt zeigten.
Am 21. April 1979 wurde eine weitere Konferenz von dem Universitätsinstitut für Rechtsmedizin in Siena organisiert. Das Thema der Konferenz, „Die Verweigerung von Bluttransfusionen durch erwachsene Zeugen Jehovas und die verfassungsmäßige Ordnung“, wurde von Professor Mauro Barni, dem Leiter des Instituts für Rechtsmedizin und früheren Rektor der Universität, eingeführt. Er erklärte:
„Die grundlegende Frage, die geklärt werden muß, ist, wie wir das Verhalten eines Arztes beurteilen sollen, der beschließt, trotz der ausdrücklichen Weigerung eines Zeugen Jehovas eine Bluttransfusion zu geben. Nun, vom ethischen Standpunkt aus besteht kein Zweifel darüber, daß ein solches Verhalten unzulässig ist, und es muß gewiß unter Artikel 610 des Strafrechts über Nötigung eingestuft werden.“
Am 7. Juli 1979 organisierte ein Ortskrankenhaus in der kleinen Ortschaft Ripatransone in der Provinz Ascoli Piceno (Mittelitalien) eine Konferenz über das Thema „Bluttransfusionen und andere Behandlungsmöglichkeiten“. Einer der Hauptredner, Dr. Cesare Buresta, sprach über die Ergebnisse von über 240 chirurgischen Eingriffen, die erfolgreich ohne Bluttransfusion vorgenommen worden waren. In der Zeitschrift Panorama vom 23. Juli 1979 war darüber folgendes zu lesen:
„Jahrelang haben Krankenhäuser sie abgewiesen, Ärzte sie gemieden, sind sie sich selbst überlassen, getäuscht und verurteilt worden ... Dank der Entwicklung neuer Alternativtechniken jedoch scheint sogar für Jehovas Zeugen, eine der aktivsten und bestorganisierten religiösen Minderheiten in Italien, ... ein langer Alptraum zu Ende zu gehen. ... Wie Dr. Buresta erklärte, macht es die Anwendung dieser [Alternativ-]Techniken möglich, in 99 Prozent aller Fälle ohne Blut zu operieren. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten werden beträchtliche Vorteile mit sich bringen.“
Nachdem wir jahrelang vor der Öffentlichkeit schlechtgemacht worden waren, hätten wir in unseren kühnsten Träumen nicht erwartet, daß man unserem Standpunkt bezüglich der Bluttransfusion soviel Verständnis entgegenbringen würde. Jehovas Diener sind dankbar, weil er die Verbreitung der Broschüre Jehovas Zeugen und die Blutfrage gesegnet hat.
DER KONGRESS „SIEGREICHER GLAUBE“
Die gewaltige Menschenmenge, die sich zum Kongreß „Siegreicher Glaube“ versammelte, war ein unleugbarer Beweis dafür, daß der Glaube an den wahren Gott über den Widerstand der vergangenen Jahre gesiegt hatte. Im Jahre 1978 war es nötig, zwei Kongresse zu veranstalten, damit alle Brüder daran teilnehmen konnten, einen in Mailand und einen in Rom. Insgesamt waren 111 320 Personen anwesend.
Die höchste Anwesendenzahl bei einer Kongreßserie wurde im Jahre 1981 erreicht. Die 22 Bezirkskongresse „Loyale Unterstützer des Königreiches“ wurden von 132 200 Personen besucht.
PIONIERE EINE GROSSE HILFE
Die Gewißheit, daß Jehova unsere mühevollen Anstrengungen und die Liebe, die wir seinem Namen gegenüber erzeigt haben, nicht vergißt, hat viele angespornt, ihm in vermehrtem Maße zu dienen (Heb. 6:10). Im Jahre 1946 gab es im ganzen Land nur einen Pionier. Während dann die Jahre vergingen, nahm die Zahl derer, die sich an diesem kostbaren Dienstvorrecht beteiligten, immer mehr zu. Im Jahre 1980 hatten wir über 500 Sonderpioniere. Eine neue Höchstzahl von 2 142 allgemeinen Pionieren wurde im Februar 1981 erreicht. Im Mai 1981 beteiligten sich 10 051 Verkündiger als Hilfspioniere am Königreichspredigtwerk.
Die meisten Sonderpioniere sind auf Sizilien und Sardinien tätig, und als Folge davon sind auf beiden Inseln ausgezeichnete Fortschritte erzielt worden. Auf Sizilien gibt es sieben Kreise und 125 Versammlungen. Auf Sardinien, wo das Werk erst in neuerer Zeit begann, gibt es drei Kreise und 53 Versammlungen, obwohl die Insel viel spärlicher bevölkert ist. Dank der Tätigkeit der Pioniere sind 99 Prozent des italienischen Territoriums zugeteiltes Gebiet, das regelmäßig bearbeitet wird. Das übrige eine Prozent wird gelegentlich bearbeitet.
BRÜDER IN NOTZEITEN
Da Italien in einer der Erdbebenzonen der Welt liegt, überrascht es kaum, daß die meisten Naturkatastrophen, die das Land heimsuchen, seismischen Ursprungs sind. Im Mai 1976 verwüstete eines dieser Erdbeben den größten Teil der Region Friaul in der Nähe der österreichisch-jugoslawischen Grenze. Es forderte fast 1 000 Menschenleben und zerstörte Tausende von Häusern. Obwohl viele Zeugen ihr Haus verloren, wurde keiner von ihnen getötet oder ernsthaft verletzt. Unmittelbar nach der Katastrophe begannen die Brüder aus der Umgebung, sich der dringendsten Bedürfnisse der Brüder in der Erdbebenzone anzunehmen.
Das Erdbeben, das am Sonntag, dem 23. November 1980, um 19.34 Uhr einen großen Teil Süditaliens heimsuchte, hatte noch verheerendere Ausmaße. Erdstöße waren im ganzen Land zu spüren. In Berichten aus den Regionen Kampanien und Basilicata war von Tausenden von Toten und Verwundeten die Rede. Ganze Ortschaften waren dem Erdboden gleichgemacht worden. In diesem Gebiet gab es 130 Versammlungen, und wie aus den Unterlagen des Zweigbüros hervorging, lebten dort 8 500 Verkündiger und 4 500 Interessierte, insgesamt 13 000 Personen.
Zunächst waren wir sehr besorgt, was ihnen widerfahren war. Am Morgen nach dem Erdbeben hatte das Zweigbüro bereits präzise Informationen. Kein Zeuge Jehovas und kein Interessierter befand sich unter den Toten und Verletzten! Obwohl wir über die Anzahl der Toten und über die Leiden vieler Lebenden traurig waren, fühlten wir uns sehr erleichtert, als wir erfuhren, daß unsere Brüder am Leben waren.
Die Verkündiger in dem betroffenen Gebiet bewiesen in den kritischen Augenblicken, als der Boden und die Gebäude um sie herum bebten, ihr Vertrauen zu Jehova, und das taten sie auch später, als sie unter schwierigen Verhältnissen mit den Härten des Winters fertig werden mußten. Einige Versammlungen hatten zur Zeit des Erdbebens gerade Zusammenkunft. Ein Ältester aus der Versammlung Eboli (Salerno) erzählt:
„Wir hatten gerade mit dem ,Wachtturm‘-Studium begonnen, als wir plötzlich spürten, wie der Boden des Königreichssaals heftig bebte und die Wände und die Decke über unseren Köpfen bedrohliche Risse bekamen, während sie hin und her schwankten. Ein paar Sekunden lang waren wir wie versteinert, und bevor wir wußten, was geschah, kam ein weiterer, noch heftigerer Stoß. Wir dachten, die vier Stockwerke des Gebäudes würden über uns zusammenbrechen. Diese schrecklichen Augenblicke waren die längsten, an die wir uns je erinnern werden!
Als Studienleiter erkannte ich, daß ich sofort eine Entscheidung zum Schutz der Anwesenden treffen mußte. Doch wohin sollten wir gehen? Wir konnten entweder in dem Saal zusammenbleiben oder nach draußen gehen. Ich betete inbrünstig zu Jehova, mir zu helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Dann erinnerte ich mich an eine ähnliche Situation, die unsere Brüder in Gemona in Friaul ein paar Jahre zuvor erlebt hatten. Ich bat die Brüder, im Saal zu bleiben, und sprach ein Gebet. Keiner der 130 Anwesenden rannte nach draußen oder geriet in Panik. Im Vertrauen auf Jehova setzten wir dann das ,Wachtturm‘-Studium fort, während draußen der ganze Ort in Aufruhr war.
Wir schlossen die Zusammenkunft mit einem von Herzen kommenden Dankgebet ab, und viele der Anwesenden vergossen Tränen der Dankbarkeit, weil wir so offenkundig beschützt worden waren. Wie dankbar waren wir doch, der Ermahnung des Apostels Paulus aus Hebräer 10:24, 25 gehorcht zu haben! Die gehorsame Befolgung dieses Gebots hatte uns das Leben gerettet! Wir setzten uns sofort mit unseren Brüdern in einem Nachbarort in Verbindung, wo 50 Personen in der Zusammenkunft gewesen waren. Auch sie waren in Sicherheit und unverletzt, während in der ganzen Umgebung Gebäude schwer beschädigt worden waren; und die beiden größten Kirchen des Ortes waren teilweise zerstört.“
Ein Aufseher aus der Versammlung Bellizzi (Salerno) erinnert sich: „Fünf Minuten nach Ende der Zusammenkunft befanden wir uns plötzlich mitten in einem Alptraum. Der Königreichssaal schien verrückt geworden zu sein. Jemand rief: ,Jehova, rette uns!‘ Ich schrie den Brüdern zu: ,Bleibt ruhig, geht nicht die Treppe hinunter!‘ Uns allen passierte nichts.“
Die Brüder in der Erdbebengegend waren bereit, einander zu helfen, und Zeugen im ganzen Land und auch in anderen europäischen Ländern spendeten großzügig Geld, Kleidung und andere Dinge. Ein Nothilfezentrum wurde eingerichtet, um Hilfe dorthin zu lenken, wo sie am dringendsten benötigt wurde. Der erste mit Nahrung, Zelten, Decken und Kleidung beladene Lastwagen der Gesellschaft traf am Abend nach dem Erdbeben ein.
„Die Brüder waren überrascht, wie schnell die notwendige Hilfe eintraf“, sagte ein reisender Aufseher, der in das Gebiet geschickt wurde. Er erzählte auch: „Wir stellten sofort unsere eigene Küche auf, von der aus das Essen, das Schwestern kochten, jeden Tag an die Brüder verteilt wurde. Die anderen Bewohner des Ortes hatten noch keine Unterstützung erhalten und halfen sich selbst, so gut es ging. Natürlich waren die Brüder nicht selbstsüchtig und teilten das Essen mit vielen Nichtzeugen. Als wir Proviant in das Dorf Montella brachten, gaben wir den Familien, die in der Nähe der Brüder wohnten, Nudeln, Reis, Öl, Zucker, Brot und Milch, und ihren Kindern gaben wir Kekse.“
Im Monat der Katastrophe erreichten wir in Italien eine neue Höchstzahl von 86 192 Verkündigern, und das bedeutet, daß die Brüder in der Erdbebenzone zu dieser Mehrung beitrugen, indem sie ihren ausgezeichneten Eifer für das Werk des Herrn beibehielten. Wir sind sehr dankbar für die Liebe, die unsere Glaubensbrüder in verschiedenen Ländern diesen Brüdern erwiesen, indem sie nicht nur Hilfsgüter sandten, sondern auch für ihre Brüder beteten. Unser Dank gebührt Jehova, weil er es ist, der uns in Zeiten der Not zu Hilfe kommt (Ps. 54:4).
ERWEITERUNG DES BETHELS
Als das neue Bethel im Frühling 1972 eingeweiht wurde, hätte niemand gedacht, daß es nur vier Jahre später zu klein wäre. Damals gab es in Italien etwa 25 000 Anbeter des wahren Gottes, aber 1976 war das Gebäude bereits zu klein, um den Bedürfnissen unserer Verkündiger zu entsprechen, die inzwischen die unglaubliche Zahl von 60 000 erreicht hatten.
1975 und 1976 erwarben wir zwei weitere Grundstücke, die sich an unser ursprüngliches Grundstück anschlossen, so daß uns nun insgesamt 14 Hektar Land zur Verfügung standen. Das Stadtplanungsamt von Rom erlaubte uns jedoch nur, ein einziges Farmhaus auf dem neuen Gelände zu bauen. Wir beantragten eine Änderung des Plans, und inzwischen baten wir um die Erlaubnis, eine kleine Farm mit einem Kuhstall und mit Scheunen einzurichten, um die Bethelfamilie mit Nahrung zu versorgen. Die Arbeiten an diesem Projekt begannen im Jahre 1978, und die kleine Farm war im Frühjahr 1980 fertig.
Im Oktober 1979 erhielten wir schließlich die Erlaubnis, das neue Bethelheim zu errichten sowie ein Gebäude, in dem die Druckerei untergebracht werden konnte. Wir machten uns sogleich an die Arbeit, und im Oktober 1980 wurde die Druckerei fertiggestellt. Die Rotationsmaschine ist bereits aufgestellt, und die Zeitschriftenabteilung ist eingerichtet. Wir haben aber noch viel zu tun, um den Bethelbau fertigzustellen. Die Bauarbeiten werden ausschließlich von Brüdern verrichtet. Es ist ermutigend, zu sehen, wie sie aus ganz Italien herbeikommen, um sich an dieser Arbeit zu beteiligen. Sie erkennen, daß es nötig ist, mit der Ausdehnung, die im Lande vor sich geht, Schritt zu halten. Wenn das Gebäude fertig sein wird, wird es 70 Zimmer, einen Speisesaal, eine Küche, einen Königreichssaal und andere notwendige Räumlichkeiten enthalten.
Gegenwärtig sind 98 Brüder im Bethel tätig. Sie bilden eine glückliche Familie, die ihren Mitchristen dient. Einige von ihnen arbeiten auf der Farm, um für die materiellen Bedürfnisse der Familie zu sorgen, während andere in der Versandabteilung tätig sind und fleißig Literatur, Zeitschriften und andere notwendige Artikel an die Versammlungen senden.
WIE DIE LITERATUR IN DIE VERSAMMLUNGEN KOMMT
Eine Zeitlang erhielten die weiter entfernten Versammlungen aufgrund von Postverzögerungen und Streiks ihre Lieferungen oft nicht rechtzeitig. Ein Kreisaufseher erinnert sich: „Während meines Besuchs in einer Versammlung auf Sizilien ging ich mit einer Schwester von Haus zu Haus. Ich fühlte mich gezwungen, mich darüber zu äußern, daß sie Zeitschriften verbreitete, die schon zwei Monate alt waren. Darauf erwiderte die Schwester, dies seien die neuesten Zeitschriften, die die Versammlung erhalten habe.“
Wegen dieser Verzögerungen wird der größte Teil unserer Literatur jetzt mit vier Lastwagen ausgeliefert, die die Gesellschaft für diesen Zweck gekauft hat. Einer davon hat mit Anhänger eine Ladekapazität von 34 Tonnen und wird auch dazu gebraucht, die Literatur im deutschen Zweigbüro in Wiesbaden abzuholen. Die von den Versammlungen bestellte Literatur wird an über 120 Abladestellen ausgeliefert, die auf der Halbinsel und auf den Inseln Sizilien und Sardinien verstreut liegen. Von diesen Abladestellen aus wird dann die Literatur örtlich weiterverteilt. Auf diese Weise erhalten die Versammlungen die nötige geistige Speise rechtzeitig, und die Kosten werden beträchtlich reduziert.
DANKBAR FÜR GOTTES SCHUTZ
Dies ist die neuzeitliche Geschichte der Tätigkeit der Zeugen Jehovas in Italien. Die Ehre für das, was in diesen Jahren erreicht worden ist, ist keinem Menschen zuzuschreiben. Obwohl einzelne Personen mit Namen erwähnt worden sind, ist dieser Geschichtsbericht eine Chronik darüber, wie ein Volk ins Dasein kam, wie es der heftigen Gegnerschaft von seiten der Geistlichkeit standhielt und wie es dank Gottes Führung und Schutz Gedeihen hatte.
Über 1 920 Jahre sind vergangen, seit der sehnliche Wunsch des Apostels Paulus, die Christenversammlung in Rom zu sehen, um ihr „irgendeine geistige Gabe mitzuteilen“, in Erfüllung ging (Röm. 1:11). Danach wurde das Land durch den großen Abfall jahrhundertelang in geistiger Finsternis gehalten. Doch das ist nicht mehr der Fall. Auch sind die Zeiten vorbei, in denen — wie zu Beginn dieses Jahrhunderts — die ersten Schimmer der Wahrheit den Pfad ein paar vereinzelter Menschen erleuchteten, und damit auch die Woge heftiger religiöser Verfolgung, die Jehovas Volk loyal ertrug.
Die gegenwärtige Situation gibt uns Grund genug, frohen Herzens zu sein. Im Gegensatz zu den rund 90 Königreichsverkündigern am Ende des Zweiten Weltkriegs hat Italien jetzt 90 000 Verkündiger der „guten Botschaft“! Die Zukunft ist voll ausgezeichneter Aussichten. Im Mai 1981 erreichte Italien eine Höchstzahl von 62 068 Bibelstudien. Und beim Gedächtnismahl im Jahre 1981 waren 187 165 Personen anwesend! In der historischen Stadt Rom sind jetzt 51 Versammlungen tätig.
Diese Zahlen sind ein Anzeichen dafür, daß wir, so Gott will, eine weitere Zunahme haben werden, so daß unser Gott, Jehova, noch mehr gepriesen wird. Seine glücklichen Anbeter sind bereit, das Verdienst für ihr gegenwärtiges Gedeihen ihm allein zuzuschreiben. Und während sie auf die Kapitel der neuzeitlichen Geschichte des wahren Christentums in Italien zurückblicken, bringen sie ihre Dankbarkeit wie der Psalmist David zum Ausdruck, der sich gedrängt fühlte auszurufen:
„Hätte es sich nicht erwiesen, daß Jehova mit uns war, als Menschen gegen uns aufstanden, dann hätten sie uns sogar lebendig verschlungen, als ihr Zorn gegen uns entbrannt war. Gesegnet sei Jehova, der uns nicht ihren Zähnen zum Raube gegeben hat. Unsere Seele ist wie ein Vogel, der entronnen ist der Falle der Vogelsteller. Die Falle ist zerbrochen, und wir selbst sind entronnen. Unsere Hilfe ist im Namen Jehovas, der Himmel und Erde gemacht hat“ (Ps. 124:2, 3, 6-8).
[Fußnoten]
a Die Passagen aus den drei Rundschreiben wurden dem Buch Provvedimenti ostativi dell’autorità di polizia e garanzie costituzionali per il libero esercizio dei culti ammessi (Polizeiliche Maßnahmen zur Unterdrückung der durch die Verfassung garantierten Freiheit der Ausübung bestimmter Kulte) von Giorgio Peyrot (herausgegeben von Giuffrè) entnommen.
[Übersicht auf Seite 247]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
ZUWACHS AN VERKÜNDIGERN
100 000
90 191
75 000
60 156
50 000
25 000
22 196
10 278
120 1 742 3 491 6 304
0 1946 1951 1956 1961 1966 1971 1976 1981
[Übersicht auf Seite 248]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
ZUWACHS AN VERSAMMLUNGEN
1 600
1 357
1 200
1 141
800
433
400
35 97 139 242 275
0 1946 1951 1956 1961 1966 1971 1976 1981
[Übersicht auf Seite 249]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
ZUWACHS AN GEDÄCHTNISMAHLBESUCHERN
200 000
187 165
150 000
130 348
100 000
53 590
50 000
200 2 897 5 790 12 113 19 682
0 1946 1951 1956 1961 1966 1971 1976 1981
[Karte auf Seite 114]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
ITALIEN
Gemona
Sondrio
Aosta
Varese
Como
Gallarate
Brescia
Vicenza
Novara
Mailand
Turin
Piacenza
Pinerolo
Alessandria
Bologna
Genua
Cuneo
Faenza
Florenz
Siena
Perugia
Teramo
Popoli
Avezzano
Sulmona
ROM
Foggia
Cerignola
Bisceglie
Molfetta
Gaeta
Neapel
Avellino
Bari
Salerno
SIZILIEN
Palermo
Messina
Caltanissetta
KORSIKA
SARDINIEN
FRANKREICH
SCHWEIZ
ÖSTERREICH
UNGARN
JUGOSLAWIEN
MITTELMEER
[Bild auf Seite 119]
Fanny Luglis Haus bei Pinerolo, wo im Parterre (unter dem Balkon) die ersten Zusammenkünfte stattfanden
[Bild auf Seite 127]
Remigio Cuminetti, der erste italienische Zeuge, der für die christliche Neutralität eintrat, und der erste italienische Bruder, der das Werk in Italien leitete
[Bild auf Seite 135]
Ignazio Protti und seine beiden Schwestern, Albina und Adele, die aus der Schweiz kamen, um in Italien eifrig als Kolporteure zu dienen
[Bild auf Seite 137]
Hotel Corona Grossa in Pinerolo, wo 1925 der erste Kongreß in Italien stattfand
[Bild auf Seite 153]
Maria Pizzato, deren Mutter 1903 und 1904 in diesem Zeitungsstand in Vicenza einige Exemplare des „Wacht-Turms“ kaufte, wodurch Maria die Wahrheit kennenlernte
[Bild auf Seite 177]
Aldo Fornerone, der im 2. Weltkrieg persönlich den Wert christlicher Neutralität erlebte, dient heute noch als Ältester.
[Bild auf Seite 193]
Erster Kreiskongreß in Italien, der 1947 in Roseto degli Abruzzi stattfand, die Brüder versammelten sich unter einem Feigenbaum und einem Dach von Weinreben an einem Privatweg.
[Bild auf Seite 209]
Erster Bezirkskongreß in Italien, der trotz des Widerstandes der Geistlichkeit vom 27. bis 29. Oktober 1950 in Mailand in großen Zelten stattfand
[Bild auf Seite 223]
Palazzo dei Congressi in Rom, wo 1955 der internationale Kongreß „Triumphierendes Königreich“ abgehalten wurde
[Bilder auf Seite 240, 241]
Zweigbüros: Oben links: Das Gebäude, das 1948 in Rom erworben wurde. Oben rechts: Das Gebäude, das 1972 fertiggestellt wurde. Unten rechts: Eine Seitenansicht des Bethelkomplexes mit den neusten Anbauten.
[Bild auf Seite 250]
Kongreßsaal in Turin, 1979 eingeweiht