Frankreichs Streit am Palmsonntag
„CHRISTUS ist Gott und nicht ein Bild!“ Die verstärkte Stimme hallte in den gotischen Gewölben der Kathedrale Notre-Dame in Paris wider und übertönte vorübergehend die Lesung der „Epistel“. Kaum hatten sich die etwa zweitausend anwesenden Katholiken von ihrer Überraschung erholt, da hörten sie den lateinischen Gesang des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Dieser Protestgesang wurde bald von der großen Orgel übertönt. Daraufhin verließen die Demonstranten die Kathedrale, und die Messe wurde fortgesetzt.
Ähnliche Demonstrationen gab es auch in anderen Kirchen von Paris, in denen an jenem Wochenende des Palmsonntags, des 4. April 1971, die Messe zelebriert wurde. Die Demonstranten waren keine Protestanten oder Atheisten, sondern Katholiken, die an der Tradition festhielten! Aber warum protestierten sie?
Es ging dabei um die Lesung der „Epistel“ in der französischen Landessprache. Wie jeder praktizierende Katholik weiß, ist die am Palmsonntag während der Messe gelesene „Epistel“ diejenige aus Philipper 2:5-11. Im französischen Lektionar aus dem Jahre 1959 hieß es in Philipper 2:6: „Christus, in göttlicher Stellung, hielt nicht begierig an dem Rang fest, der ihn Gott gleich sein ließ.“ Aber 1969 genehmigten die Bischöfe französischer Sprache die Herausgabe eines neuen Lektionars, das am 16. September 1969 vom Heiligen Stuhl in Rom anerkannt wurde. Darin wurde Philipper 2:6 wie folgt wiedergegeben: „Christus Jesus ist Gottes Bild; aber er erwählte es sich nicht, gewaltsam das Gottgleichsein an sich zu reißen.“
Ein bekannter französischer katholischer Gelehrter, André Feuillet, schrieb: „Diese Version ... rief auf allen Seiten scharfe Kritik hervor. War sie nicht dafür verantwortlich, daß die Gläubigen nun glauben würden, Christus sei nicht Gott im strengsten Sinne des Wortes?“ (Esprit et Vie, 17. Dezember 1970). Das war also das Problem!
Auf die französischen Priester wurde Druck ausgeübt, und sie erklärten sich bereit, diese zweite Übersetzung von Philipper 2:6 zu revidieren. Als jedoch bekannt wurde, daß die dritte Übersetzung von Philipper 2:6 die Dreieinigkeit nicht mehr stützte als die zweite Wiedergabe und daß sie am Palmsonntag, dem 4. April 1971, in allen Kirchen gelesen werden würde, kam es zu einer heftigen Reaktion der Katholiken, die an der Tradition festhielten.
Die katholische Monatsschrift Itinéraires brachte eine Sonderbeilage, datiert vom Januar 1971. Über die zweite Übersetzung von Philipper 2:6 hieß es in der Zeitschrift Itinéraires: „Wenn er [Christus] sich weigerte, es [das Gottgleichsein] an sich zu reißen, muß es so sein, daß er es nicht schon besaß.“ Und als Kommentar zur dritten Wiedergabe hieß es, wenn Christus „es sich nicht erwählte, Gott gleich sein zu wollen“, so ergebe sich daraus, daß er nicht „Gott gleich“ gewesen sei. Hiermit stimmt die New American Bible (Neue amerikanische Bibel), eine katholische Ausgabe des Jahres 1970, überein, in der es heißt: „Er erachtete das Gottgleichsein nicht als etwas, wonach zu greifen gewesen wäre.“ In der Zeitschrift Itinéraires wird die Ansicht vertreten: „Die praktischen Auswirkungen dieses Austausches laufen auf Ketzerei und Gotteslästerung hinaus.“ Die Leser wurden ermuntert, ihre Mißbilligung während der am Palmsonntag zelebrierten Messe zu bekunden; sie wurden aufgefordert, bis zur Lesung der „Epistel“ zu warten und dann „Gotteslästerung!“ oder „Jesus Christus — wahrer Gott und wahrer Mensch“ zu rufen oder das Apostolische Glaubensbekenntnis zu singen.
Trotz dieser Drohungen blieb der französische Episkopat bei seiner dritten Übersetzung von Philipper 2:6. Die Zeitung Le Monde (21./22. März 1971) berichtete: „Diese Übersetzung ... wurde von der Gesamtheit der Bischöfe französischer Sprache angenommen. Die ständige Synode des französischen Episkopats, die erst jetzt in Paris getagt hat, hat sie genehmigt; sie wird also bestehenbleiben.“ Um aber während der Messe am Palmsonntag Unruhen zu vermeiden, gestatteten mehrere Bischöfe in ihren Diözesen, die Übersetzung des Jahres 1959 zu verwenden. Trotz dieses Zugeständnisses kam es in Kathedralen in Paris und auch in Lyons zu Demonstrationen.
DAS DILEMMA FÜR DIE FRANZÖSISCHEN BISCHÖFE
Seltsamerweise wollten diese Demonstranten, die an der Tradition festhielten, bessere Katholiken sein als die Bischöfe und Kardinäle französischer Sprache! Als gute Katholiken glauben sie an die Dreieinigkeitslehre, die besagt, daß der Vater, der Sohn und der Heilige Geist innerhalb der Gottheit gleich seien. Sie waren über eine kirchlich genehmigte Übersetzung von Philipper 2:6, die zeigt, daß Christus nie beansprucht hat, „Gott gleich“ zu sein, sehr entrüstet. Sie sagten mit Recht, diese Übersetzung verneine, daß Christus Gott sei. Aber sie übersehen dabei die Tatsache, daß Christus dies selbst verneint hat, indem er von seinem Vater als von dem „allein wahren Gott“ sprach. (Joh. 17:3, Herder) Er lehrte keine Dreieinigkeit.
Interessant ist die Frage: Warum sah sich die höhere Geistlichkeit französischer Sprache genötigt, eine Übersetzung zu genehmigen, die so deutlich eine der Grundlehren des Katholizismus verneint? Aber das ist noch nicht alles. Ist es nicht merkwürdig, daß all diese Prälaten es für nötig hielten, diese Stelle neu übersetzen zu lassen? Wie ist es mit all den katholischen Bibeln, die ordnungsgemäß mit dem Nihil obstat und dem Imprimatur versehen sind? Wie ist es mit der Jerusalemer Bibel, der Bibel von Crampon, der Bibel von Liénart, der in Maredsous herausgegebenen Bibel, der Bibel von Glaire, dem „Neuen Testament“ von Osty, der Bibel von Saci und noch weiteren, die alle offiziell als französische katholische Übersetzungen anerkannt worden sind? Warum mußte eine neue Übersetzung angefertigt werden, wenn doch all diese Bibeln die betreffende Stelle so wiedergeben, als wäre Christus Gott gleich, wie es auch in der deutschen katholischen Übersetzung von Allioli und in dem neueren, revidierten Herder-Text wiedergegeben wird?
Dieses Rätsel wird durch folgenden Kommentar der Zeitung Le Monde (6. April 1971) geklärt: „Nach Ansicht der für diese Änderung — eine von der Mehrheit der französischen Bischöfe genehmigte Änderung — verantwortlichen Gelehrten entspricht die neue Übersetzung dem griechischen Text genauer als die frühere Übersetzung [Kursivschrift von uns].“
Die katholischen Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe französischer Sprache befinden sich also in einer Zwickmühle. Entweder widerrufen sie ihre neue Übersetzung von Philipper 2:6, indem sie sie zurückziehen, und zeigen so, daß sie mehr an der Dreieinigkeitslehre als an der Genauigkeit der Bibelübersetzung festhalten, oder sie behalten ihre neue offizielle Übersetzung dieser wichtigen Stelle bei, was natürlich bedeuten würde, daß sie zugeben, daß diese Schriftstelle in den französischen katholischen Bibeln (ganz zu schweigen von denen in anderen Sprachen) falsch übersetzt worden ist, indem man sie im Sinne der Dreieinigkeit entstellt hat.