Mit ganzem Herzen vertraue ich Jehova
Von Claude S. Goodman erzählt
„VERTRAUE AUF DEN HERRN MIT DEINEM GANZEN HERZEN, UND VERLASS DICH NICHT AUF DEINEN EIGENEN VERSTAND.“ Dieses Bibelwort das eingerahmt in der Wohnung einer Familie hing, der ich einen Besuch abstattete, nahm mich gefangen. Es beschäftigte mich noch den ganzen Tag. Könnte ich, so fragte ich mich, mit meinem ganzen Herzen auf Gott vertrauen?
Zu Hause angekommen, nahm ich meine King-James-Übersetzung der Bibel zur Hand und las nochmals Sprüche 3:5 und den folgenden Vers, der lautete: „Erkenne ihn auf all deinen Wegen, und er wird deine Pfade lenken.“ Ich beschloß, mich von diesem Wort in meinem Leben leiten zu lassen. Nur wenige Tage danach wurde ich bereits auf die Probe gestellt.
Ich hatte mir für einen bestimmten Abend etwas Besonderes vorgenommen, danach wurde bekannt, daß gerade an diesem Abend eine wichtige Zusammenkunft der Christenversammlung stattfinden werde. Welcher Sache sollte ich den Vorzug geben? Ich dachte an meinen Entschluß und bat Jehova darum, meine Schritte zu lenken. Ich besuchte die Zusammenkunft.
Es war im Jahre 1925. Ich war damals einundzwanzig Jahre, doch hatte ich bereits als Teenager nach der göttlichen Wahrheit gesucht.
Meine Mutter gehörte der Kirche von England an, doch ich lehnte es ab, ein Mitglied dieser Kirche zu werden. Mein Vater war Atheist, aber ich kam zu dem Schluß, daß es einen Gott geben mußte. So kniete ich eines Tages zum erstenmal in meinem Leben vor meinem Bett nieder und richtete ein Gebet an den wahren Gott und bat ihn, mir seine Wahrheit zu offenbaren und sein Volk zu zeigen. Schon am Morgen kam mir ein biblisches Buch in die Hand, das den Titel trug Millionen jetzt Lebender werden nie sterben. Ich verschlang es. Das war die Antwort auf mein Gebet.
Am folgenden Tag kehrte ich zu der Frau zurück, die mir das Buch gegeben hatte, und bat sie um weitere. Mit einem Arm voller Bücher und mit der Einladung wiederzukommen, um mehr Aufschluß zu erhalten, ging ich nach Hause. Wie begeistert war ich später, als ich beobachtete, wie Ronald Tippin geschickt in der Bibel blätterte und meine vielen Fragen beantwortete! Bis dahin hatte ich alles begierig gelesen. Stets hatte ich einen Band der Schriftstudien bei mir, und ich begann auch damit, die Bibel ganz durchzulesen. Im Mai 1926 — ein Jahr nachdem ich das Buch Millionen jetzt Lebender werden nie sterben erhalten hatte — gab ich mich Jehova hin und symbolisierte dies dadurch, daß ich mich auf dem internationalen Kongreß in London taufen ließ. Als ich hörte, wie J. F. Rutherford die Geistlichkeit bloßstellte, wußte ich, daß ich verpflichtet war, für die Wahrheit und gegen die falsche Religion zu kämpfen.
EINEN GRÖSSEREN ANTEIL AM PREDIGTDIENST
Bei der Feier zum Gedächtnis an den Tod Christi im Jahre 1927 wurde an alle Anwesenden ein Traktat verteilt, das den Titel trug: „Wo sind die neun?“ Es war ein Aufruf nach mehr „Kolporteuren“ oder Pionieren (wie man die Vollzeitverkündiger der Wahrheit Gottes heute bezeichnet). In dieser Nacht war ich wach und betete. Ronald Tippin und ich hatten beschlossen, als Geschäftspartner zusammenzuarbeiten, und daher schrieb ich ihm am folgenden Morgen und bat ihn, mich von unserem Abkommen zu befreien. Doch ein Brief von ihm kreuzte sich mit dem meinen. Welchen Inhalt hatte er wohl? Ja, wir wurden Partner, jedoch nicht im Geschäftsleben, sondern im Vollzeitpredigtdienst.
Pionierdienst zu verrichten bedeutete damals, die gute Botschaft von Gottes Königreich in unberührte Gebiete zu tragen. So befand ich mich im Mai, zwei Jahre nachdem ich Gottes Wahrheit kennengelernt hatte, zusammen mit meinem Gefährten auf dem Weg nach Salisbury (England). Wir arbeiteten täglich viele Stunden, und das Radfahren war anstrengend. Wie ich mich erinnere, wachte ich in jenem Winter eines Morgens auf und stellte fest, daß mein Haar an der Zeltwand angefroren war und daß sich durch meinen Atem auf meiner Decke ein Stück Eis gebildet hatte. Aber wir suchten jeden Flecken und jedes Bauernanwesen auf und ließen dort, wo wir Interesse vorfanden, biblische Schriften zurück.
NACH INDIEN
Im Jahre 1929 besuchten wir einen Kongreß des Volkes Jehovas in London. Ein Bibelforscher aus Indien, Percy Barnes, berichtete darüber, daß in diesem Land Vollzeitprediger benötigt würden. Nach einer Nacht, in der wir viel gebetet hatten, wurden wir — Ron und ich — am folgenden Morgen bei J. F. Rutherford, dem Präsidenten der Gesellschaft, vorstellig. Seine große Gestalt und seine Stentorstimme standen ganz im Gegensatz zu seinem gütigen und freundlichen Wesen, als er uns erklärte, daß es nur eine Hinfahrkarte gebe. So kam es, daß wir uns zwei Monate später auf einem Schiff mit Kurs Bombay befanden.
Als ich den Vollzeitpredigtdienst aufnahm, besaß ich außer dem guten Gewissen, meine Schulden getilgt zu haben, kein Kapital. Doch dieser Schritt war unbedeutend im Vergleich zu unserem Entschluß, nach Indien zu gehen. Als wir in Bombay ankamen, besaßen wir nur wenige Dollar, die schnell für Tropenkleidung und Bettzeug ausgegeben waren. Im Predigtdienst mußte ich mich verschiedener Arten von Beförderungsmitteln bedienen: Ich ging zu Fuß, benutzte ein Fahrrad, ein Motorrad, ein Wohnauto oder ein Taxi; ich fuhr mit dem Personenzug oder dem Güterzug, reiste auf einem Ochsenkarren, ritt auf einem Kamel oder auf einem Pferd; ich fuhr in einer Pferdekutsche, per Flugzeug, im Sampan, mit dem Flußdampfer, im Bus, auf dem Lastwagen, in einer Rikscha und sogar in einem Privatzug. Meine Schlafstätten waren ebenso unterschiedlich: Luxushotels, der Palast eines Radschas, Bahnhofswartesäle, Dschungelgras und ein Viehstall. Unser „Zuhause“ war überall dort, wo Ron und ich unser Bettzeug ausbreiten konnten.
Wir waren bestrebt, biblische Literatur in so großem Umfang und auf so produktive Weise wie möglich zu verbreiten, wobei wir darauf vertrauten, daß sie in die Hände von Personen gelangte, die Wertschätzung dafür hatten. Weil uns keine Literatur in den einheimischen Dialekten zur Verfügung stand, war unser Zeugnisgeben auf die englischsprachige Bevölkerung beschränkt. Wir hielten uns daher in jeder Stadt nur kurze Zeit auf.
Unser erstes Gebiet war Karatschi, das jetzt in Pakistan liegt. Die Menschen nahmen unsere Literatur dort bereitwillig entgegen. Unseren Finanzen kam es zugute, daß wir eingeladen wurden, die Gäste des besten Hotels am Ort zu sein. Ein ziemlicher Unterschied zu unserem Zimmer, in dem wir zuvor gewohnt und für das wir täglich 50 Cent bezahlt hatten!
Mit dem Zug machten wir uns auf die Reise nach Hyderabad (Sind). Ich versuchte, etwas zu schlafen, und legte mich auf eine Holzbank, auf der ich hin und her gerüttelt wurde. Nach Hyderabad trennten sich Ron und ich; er reiste weiter in das kalte Gebiet des Himalaja-Gebirges, und ich fuhr mit dem Güterzug in das heiße Landesinnere. Hier in Murree traf ich Mahatma Gandhi, den Führer der Hindu-Nationalisten; ich ging ein Stück Weges mit ihm und unterhielt mich mit ihm über die biblische Wahrheit. Auch sorgte ich dafür, daß er biblische Literatur lesen konnte.
Bis zum Ende jenes Jahres war es immer dasselbe: Im Zug, auf dem Bahnsteig und im Warteraum suchte ich etwas Schlaf zu ergattern; ich aß zusammen mit Kulis in indischen Imbißstuben, war den ganzen Tag auf staubigen Wegen unterwegs und gab in vornehmen Bungalows Zeugnis. Ron und ich trafen in Lahore wieder zusammen, von wo aus wir uns auf Kamelen in nahe gelegene Dörfer begaben.
NACH CEYLON, BIRMA UND MALAYSIA
Nach einem Kongreß, der im Dezember 1929 stattfand, wurden wir auf die hübsche Insel Ceylon gesandt. Unser Problem auf Ceylon bestand darin, die Tausende von Tee-, Gummi- und Kaffeeplantagen zu erreichen, die in den Bergen verstreut lagen. Teilweise lösten wir es dadurch, daß wir uns ein Leichtfahrrad beschafften, das zusammen mit vielen Kartons Literatur auf einen Bus verladen werden konnte. Einer von uns fuhr dann in eine günstig gelegene Stadt und besuchte von dort aus mit dem Fahrrad die Plantagen, die in dem gebirgigen Land über Kilometer hin verstreut waren. Der andere blieb in Colombo und gab dort den Menschen Zeugnis. Es war für uns immer ein freudiger Tag, wenn wir einmal im Monat zusammenkamen und unsere Erfahrungen austauschten.
Unser nächstes Gebiet war Birma. So buchten wir eine Passage „auf Deck“ eines britischen Linienschiffs. Das bedeutete, daß wir unser Bettzeug nachts auf Deck unter den Sternen ausbreiteten und unser Essen tagsüber mit der Mannschaft, die aus Indern bestand, einnahmen. Die englischen Passagiere verachteten uns, weil wir „dem Ansehen der Briten schadeten“. Wir waren allerdings der Ansicht, daß wir das Ansehen der Christen hoben, wenn wir dem Beispiel folgten, das Jesus Christus und Paulus, der Missionar und Apostel, uns hinterließen. In Rangun gab es ungefähr zehn Personen, die die göttliche Wahrheit predigten; wir konnten sie unterstützen und sie für den Predigtdienst ausrüsten. Einer von uns blieb in Rangun, und der andere fuhr entweder mit dem Zug oder auf Flußdampfern ins Landesinnere.
In Namtu, einem Ort, der tief in dem hügeligen Dschungelgebiet lag, gab es ein Silberbergwerk, das einer britischen Gesellschaft gehörte. Ich wollte mit einem Mann sprechen, der an der Bibel interessiert war und direkt bei der Mine wohnte. Man konnte sie nur mit der Privateisenbahn erreichen, die der Gesellschaft gehörte. Wir baten darum, die Eisenbahn benutzen zu dürfen, wurden aber wiederholt abgewiesen. Als ich in Lashio ankam, erfuhr ich, daß ein Dschungelpfad nach Namtu führte, und so überredete ich einen Taxifahrer, mich mit einer Anzahl Kartons biblischer Literatur auf diesem Weg dorthin zu bringen.
Am zweiten Tag zeigte ein Mann in Namtu Interesse an der biblischen Wahrheit, lehnte jedoch wegen seines schlechten Augenlichtes die Literatur ab. Ich bot ihm an, ihm aus meinen persönlichen Exemplaren vorzulesen. Das beeindruckte ihn, denn am nächsten Tag erfuhr ich, daß er seine Freunde angerufen und ihnen dies mitgeteilt hatte; und die meisten von ihnen nahmen biblische Literatur entgegen. Aufgrund dessen, was dann geschah, glaube ich, daß er auch den leitenden Direktor des Bergwerks angerufen haben muß.
Da es immer noch mein Wunsch war, zur Mine zu gelangen, suchte ich den leitenden Direktor selbst auf, wenngleich ich mit der Möglichkeit rechnete, daß er mich vom Gelände verjagen würde. Doch mein Besuch schien ihn nicht zu überraschen. Als ich diesem Mann, der aus Australien stammte, den Grund für meinen Besuch der Mine erklärte, beobachtete ich ein Aufleuchten in seinen Augen. Er ließ seine Gäste allein und ließ sich mit mir zusammen von seinem Chauffeur zum Verwaltungsgebäude des Bergwerks fahren. Dort stellte er mich seinem Privatsekretär vor, einem Katholiken, der dafür verantwortlich war, daß mein Antrag, die Eisenbahn dieser Gesellschaft benutzen zu dürfen, abgelehnt worden war. Als der Sekretär meinen Namen hörte, machte er ein langes Gesicht, und das erst recht, als der leitende Direktor ihn anwies, mich als Gast der Gesellschaft zu behandeln, einen Privatzug für mich zusammenzustellen und mich in den Gebäuden der Gesellschaft unterzubringen und verköstigen zu lassen. Der Sekretär überschlug sich nun förmlich, um allen meinen Wünschen gerecht zu werden, und nannte mich „Sir“. Während der nächsten Tage konnte man also einen bescheidenen Vollzeitprediger beobachten, der ganz allein mit einem Zug fuhr, wann und wohin er auch immer wollte. Wichtiger war jedoch, daß der Interessierte gefunden und gestärkt werden konnte und daß die Männer, die in der Mine arbeiteten, ein Zeugnis über Gottes Königreich erhielten.
Mitte des Jahres 1931 verließen wir Birma und gingen nach Malaysia. Ron fuhr direkt nach Singapur, doch ich bestieg ein Küstenfahrzeug und gab unterwegs in den Küstenstädten des herrlichen Archipels Zeugnis. Wir bereisten Malaysia auf getrennten Wegen und trafen uns in Kuala Lumpur wieder. Dann bearbeitete Ron Penang, während ich nach Bangkok (Thailand) fuhr und dort eine große Menge biblischer Literatur zurückließ, bevor ich Ron wieder traf und wir uns darauf vorbereiteten, nach Kalkutta (Indien) zu fahren.
Kalkutta — eine riesige Stadt, in der es Millionen von Analphabeten gab, die ohne ein echtes Zuhause in großem Elend lebten! Wir sahen uns nach einem billigen unmöblierten Zimmer um, in dem uns Kartons als Stühle und als Tisch dienten; unser Bettzeug breiteten wir auf dem Boden aus. Hier in Kalkutta verbreiteten wir die Broschüre Das Königreich — die Hoffnung der Welt. Wir gaben sie bei Geschäftsleuten, Politikern und Geistlichen ab. Einige Geistliche kochten vor Wut!
Um diese Großstadt zu bearbeiten, kauften wir uns zwei billige Motorräder, mit denen wir auch die 2 400 Kilometer zu einem Kongreß nach Bombay fuhren. Nach diesem Kongreß im Jahre 1932 gingen wir wieder nach Ceylon und setzten auf den dortigen Gebirgswegen unsere Motorräder ein. Doch ein Malariaanfall machte meinem Aufenthalt auf Ceylon ein Ende. Die Wachtturm-Gesellschaft lud mich ein, nach Indien zurückzukehren und die Verantwortung für ein neues Wohnauto zu übernehmen.
DIE TÄTIGKEIT MIT DEM LAUTSPRECHERWAGEN
Es begann nun für uns eine ganz neue Lebensweise. Wir waren in der Lage, jedes Dorf durchzuarbeiten, selbst die oft weit von einer Eisenbahnlinie oder Straße entfernten Dörfer. Die größten Sorgen bereiteten uns die Flüsse, über die keine Brücken führten. Doch mit der Zeit gelang es uns, sie auf fachmännische Weise zu überqueren. Wir bauten gewöhnlich den Auspuff am Krümmer ab und donnerten durch den Fluß, wobei das Wasser oft über dem Fußboden stand. Im Jahre 1934 schickte uns die Gesellschaft eine Lautsprecheranlage und Schallplatten mit biblischen Vorträgen in den verschiedenen Dialekten. Nun konnten wir uns direkt an die Massen wenden. Wir bauten die Lautsprecheranlage überall dort auf, wo die Menschen zusammenkamen. Und bei diesen biblischen Schallplattenvorträgen gab es oft große Zuhörermengen.
Mit dieser Tätigkeit waren wir bis zum Jahre 1938 beschäftigt, nämlich bis ein Bruder aus Australien uns als Zonenaufseher besuchte. Auf seine Bitte hin machten Ewart Francis und ich die Probe, ob sich ein gewisser Teich für eine Taufe eignete. Es muß sich um verseuchtes Wasser gehandelt haben, denn einundzwanzig Tage später war Ewart tot. Und ich fand mich im Krankenbett wieder, als ich nach zweimonatiger Bewußtlosigkeit aufwachte, und das nur zufolge der fachgerechten Pflege von Maude Mulgrove, einer christlichen Schwester, die im Vollzeitpredigtdienst stand. Als ich das Krankenhaus in Agra verließ, konnte ich zum Pflegepersonal sprechen, das sich versammelt hatte, und eine der Krankenschwestern, Edith Newland, gab ihren Beruf auf, wurde eine Vollzeitpredigerin der göttlichen Wahrheit und steht bis heute immer noch in diesem Dienst.
DIENST IM ZWEIGBÜRO DER GESELLSCHAFT
Nach dieser Krankheit, dem Typhus, war ich so gebrechlich, daß es nicht weise erschien, mich wieder in das Wohnauto zurückzuschicken. Daher wurde ich eingeladen, Bruder Skinner, dem Aufseher des Zweigbüros der Gesellschaft, zu helfen. Wir schrieben das Kriegsjahr 1939. Die Literatur der Gesellschaft wurde verboten. Das Zweigbüro wurde oftmals durchsucht, jedoch nur zweimal, ohne daß wir eine Vorwarnung erhalten hatten. Eine uns freundlich gesinnte Person gab uns gewöhnlich einen Hinweis. So bereiteten wir uns auf die Haussuchung vor, und eine Stunde nach der Durchsuchung waren wir wie immer damit beschäftigt, den Wachtturm zu vervielfältigen.
Bruder Skinner und ich wurden verhaftet und unter Anklage gestellt, verbotene Literatur verbreitet zu haben. Wir setzten uns mit einem Rechtsanwalt in Verbindung, der dafür bekannt war, daß er keine Furcht vor dem britischen „Raj“ hatte, doch das geforderte Honorar überstieg unsere finanziellen Mittel. Deprimiert gingen wir nach Hause. Auf der Treppe zum Zweigbüro stand ein Zeuge Jehovas aus Norwegen, ein Seemann, der von zu Hause ausgestoßen worden war. Als er wegging, drückte er Bruder Skinner etwas in die Hand — es war genau der Betrag, den der Rechtsanwalt als Honorar festgesetzt hatte! Als der Fall von einem unteren Gericht zu unseren Ungunsten entschieden wurde und wir Berufung bei einem höheren Gericht einlegen wollten, erhielten wir nochmals ein Geschenk, nur mit dem Unterschied, daß es diesmal mehr war, als wir benötigten.
In den ersten Kriegsjahren sandte uns das australische Zweigbüro eine Druckpresse mit Fußantrieb, und man schickte mich nach Kotayam (Kerala), um dort den Wachtturm in Malajalam zu drucken. Ich verstand nichts vom Drucken und noch weniger Malajalam. Und der Zeuge Jehovas, der gesandt wurde, um mir zu helfen, konnte kein Englisch. Doch mit Hilfe von Druckereifachbüchern und vielen Gesten setzten wir die Maschine zusammen und bauten Druckformen mit Schriftsätzen in englischer Sprache und in Malajalam ein. Unsere Begeisterung war groß, als das erste Exemplar des Wachtturms herauskam.
Als nach dem Krieg das Verbot aufgehoben wurde, stellten sich neue Gefahren ein. Das indische Volk hatte die Briten während des Krieges unterstützt und verlangte nun die Autonomie. Es kam zu heftigen antibritischen Demonstrationen. Angriffe auf Personen, die europäische Kleidung trugen, waren an der Tagesordnung. Doch unsere Predigttätigkeit wurde intensiviert, selbst in den Gebieten, in denen es am häufigsten zu Unruhen kam. Schließlich traf die Nachricht ein, Bruder Skinner sei eingeladen, zum Besuch der Wachtturm-Bibelschule Gilead in die Vereinigten Staaten zu reisen. Ich wurde gebeten, mich während seiner zweijährigen Abwesenheit des Zweiges anzunehmen. Es stand fest: Ich mußte weiterhin auf Jehova vertrauen.
Eines Morgens, als die antibritischen Demonstrationen ein außergewöhnliches Ausmaß annahmen, erhielt ich die Mitteilung, die langerwartete erste Nachkriegssendung biblischer Literatur sei im Hafen eingetroffen. Freudig erregt machte ich mich mit meinem Fahrrad auf den Weg, stellte aber fest, daß eine aufgebrachte Menge die Straße vor mir gesperrt hatte. Ich hoffte, durch eine Nebenstraße zu entkommen, doch auch diese war abgeriegelt. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mitten durch die Menge zu fahren. Nach einem kurzen Gebet zu Jehova trat ich in die Pedale, fuhr stracks auf sie zu, und als ich sie erreicht hatte, begann ich laut zu schreien und kräftig mit den Armen zu fuchteln. Ich weiß nicht, was diese Leute dachten, aber jedenfalls wichen sie zurück, und es bahnte sich ein Weg vor mir. Einige jubelten mir sogar zu! Nachdem ich den Empfang der Literatur bescheinigt hatte, kehrte ich auf einem abgelegeneren Weg zurück.
Im Jahre 1947 wurde Indien die Unabhängigkeit verliehen. Darauf folgte eines der größten Massaker der Geschichte: Moslems gegen Hindus. Nachbarn, die über Generationen hin Haus an Haus gewohnt hatten, fielen übereinander her. Zeugen Jehovas, die auf der Straße predigten, erlebten, wie Menschen neben ihnen niedergestochen wurden.
BESUCH DER GILEADSCHULE
Das darauffolgende Jahr (1949) war für mich das aufregendste in meinem ganzen Leben, denn ich wurde zum Besuch der Gileadschule eingeladen. Ich war ganz einfach hingerissen, als uns Bruder Dunlap sozusagen durch das Königreichs-Buch führte oder als Bruder Schroeder die Spuren der unreinen, falschen Religion von Babylon bis zur Christenheit verfolgte, als Bruder Keller bewies, daß der Name Gottes in die inspirierten christlichen Schriften gehört, oder als uns Bruder Friend durch seine Bibelvorlesung über Joseph und dessen Brüder zu Tränen rührte.
Noch nie habe ich eine so erregte Atmosphäre miterlebt wie in der Stunde, als N. H. Knorr, der Präsident der Gesellschaft, jedem einzelnen von uns sein künftiges Gebiet nannte. Nach der Abschlußfeier begann für mich eine eingehende Schulung in der Arbeit, die mit einem Zweigbüro und dessen Leitung verbunden ist, denn ich war beauftragt worden, ein neues Zweigbüro in Pakistan zu eröffnen.
Nach einem sechsjährigen Aufenthalt in Pakistan entschloß ich mich, einen weiteren Schritt zu tun — zu heiraten. Meine zukünftige Frau war Lilian, eine Tochter von Schwester Harding, in deren Haus ich mich nach meiner Typhuserkrankung zur Erholung aufgehalten hatte. Ich war nun zweiundfünfzig Jahre alt und hatte von den dreißig Jahren meines Vollzeitpredigtdienstes sechsundzwanzig Jahre in einem Auslandsgebiet verbracht. Es war aber nicht mein Wunsch, mit diesem Schritt meinen Pionierdienst zu beenden. Ich erfuhr, daß man in Australien leichter eine weltliche Teilzeitbeschäftigung erhalten konnte, und beschloß daher, dorthin zu ziehen. Wiederholt betete ich darum, die Schulung, die ich in Gilead empfangen hatte, nützlich anwenden zu können.
Mit einer kleinen Geldreserve trafen wir in Australien ein, und ich beschloß, so lange, wie etwas davon vorhanden wäre, im Vollzeitpredigtdienst zu bleiben. Sorgfältig war ich darauf bedacht, auch nicht einen einzigen Dollar unnötigerweise auszugeben. Mein Gebiet lag ungefähr fünf Kilometer entfernt, und ich ging zu Fuß dorthin und auch wieder zurück, um das Busgeld zu sparen. Eines Tages sagte mir Lilian, sie sei schwanger. Mark wurde geboren, und ich bat Jehova im Gebet darum, mir zu helfen, damit ich den Knaben so erziehen könne, daß er ein treuer Anbeter Jehovas werde. Wir mieteten ein Haus, und es schien, als ob die Möbel nur so hereinspazierten und sich dorthin stellten, wo sie benötigt wurden — alles Geschenke liebevoller Brüder, oder wir hatten sie gebraucht erstanden.
In den darauffolgenden sechzehn Jahren hatte ich das Vorrecht, als vorsitzführender Aufseher zu dienen, und beobachtete, wie die Versammlung wuchs und zweimal geteilt wurde. Im Mai 1973 vollendete ich im Alter von neunundsechzig Jahren das sechsundvierzigste Jahr im Vollzeitpredigtdienst. In meinem siebzigsten Lebensjahr darf ich auf ein Leben voller freudiger und oftmals aufregender Erfahrungen zurückblicken, von denen ich hier nur einige berichtet habe. Ich frage mich: Würde ich heute anders handeln als an jenem Tag, als ich das Buch Millionen jetzt Lebender werden nie sterben erhielt? Meine Antwort ist: Nein! Wahrlich, Jehova hält sein Versprechen, und er leitet die Schritte derer, die ihm mit ihrem ganzen Herzen vertrauen. Obgleich ich im christlichen Vollzeitpredigtdienst in materieller Hinsicht oft sehr wenig habe, kann ich tatsächlich sagen, daß ich niemals vergeblich nach einem Dollar, den ich benötigte, in die Tasche griff. Diese Erfahrung ist etwas Wertvolles. Aber noch weit wertvoller ist die feste Überzeugung, von Jehovas Macht gestützt zu werden und seine liebevolle Fürsorge zu genießen. Es gibt nichts Wertvolleres, worauf ein Mensch bauen könnte!