Die Rettung des Codex Sinaiticus
DER Codex Sinaiticus ist als „das bedeutendste, erregendste und wertvollste Buch, das es gibt“, bezeichnet worden. Und das nicht nur wegen seines Alters von wenigstens 1 600 Jahren, sondern weil er auch ein wichtiges Bindeglied in unserem Katalog von Bibelhandschriften darstellt. Die Geschichte seiner Entdeckung durch Konstantin Tischendorf vor mehr als hundert Jahren liest sich wie ein spannender Roman.
Konstantin Tischendorf, der 1815 in Sachsen geboren wurde, studierte Griechisch an der Universität Leipzig. Während seines Studiums irritierte ihn die Bibelkritik bekannter deutscher Theologen, die den Nachweis erbringen wollten, daß die Christlichen Griechischen Schriften nicht authentisch seien. Tischendorf war dagegen überzeugt, daß das Studium alter Handschriften die Echtheit des biblischen Textes beweisen würde. Daher beschloß er, selbst alle bekannten Handschriften zu untersuchen, wobei er die Hoffnung hegte, im Verlauf seiner Reisen weitere zu finden.
Zunächst durchforschte Tischendorf vier Jahre lang die besten Bibliotheken Europas. Im Mai 1844 reiste er dann zu dem 1 400 m über dem Roten Meer gelegenen Katharinenkloster am Sinai. Ein Korb, der an einem Seil durch eine kleine Öffnung in der Mauer herabgelassen wurde, bot die einzige Zugangsmöglichkeit zu der festungsartigen Anlage der Mönche.
Lohnende Funde
Tischendorf wurde gestattet, einige Tage lang die drei Bibliotheken zu durchsuchen, aber ohne Erfolg. Dann, als er gerade wieder abreisen wollte, entdeckte er das, wonach er suchte — alte Pergamente. Sie lagen in einem großen Korb, der in der Hauptbibliothek stand. Der Bibliothekar sagte ihm, daß sie verbrannt werden sollten wie schon zwei volle Körbe zuvor. Tischendorf fand zu seinem Erstaunen unter den Pergamenten 129 Blätter der ältesten Handschrift, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte — eine griechische Übersetzung von Teilen der Hebräischen Schriften! Man überließ ihm 43 der Blätter, der Rest wurde ihm verwehrt.
Im Jahre 1853 stattete Tischendorf dem Kloster einen weiteren Besuch ab, fand aber lediglich ein Fragment des 1. Buches Mose, das zu der Handschrift aus dem 4. Jahrhundert gehörte. Er war überzeugt, „daß die Handschrift ursprünglich aus dem gesamten Alten Testament bestand, daß der größere Teil davon jedoch schon vor langer Zeit vernichtet worden war“. Die vollständige Handschrift umfaßte wahrscheinlich 730 Blätter. Die Pergamente aus feinem Schafs- und Ziegenleder waren mit griechischen Unzialen (Großbuchstaben) beschrieben.
Sechs Jahre später unternahm Tischendorf seine dritte Reise zu den Mönchen am Sinai. Am Vorabend seiner Abreise zeigte ihm jemand zufällig nicht nur jene Blätter, die er 15 Jahre zuvor vor dem Feuer gerettet hatte, sondern auch noch viele weitere. Es handelte sich um die gesamten Christlichen Griechischen Schriften sowie um Teile der griechischen Übersetzung der Hebräischen Schriften.
Tischendorf erhielt zunächst die Erlaubnis, die Handschrift nach Kairo mitzunehmen, um sie zu kopieren; später wurde ihm gestattet, sie als Geschenk der Mönche dem russischen Zaren zu überbringen. Heute befindet sie sich im Britischen Museum, wo sie direkt neben dem Codex Alexandrinus ausgestellt ist. Die 43 Blätter von der ersten Reise werden in der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrt.
Wir sollten Tischendorf dankbar sein, daß er sein Leben und seine Fähigkeiten der Suche nach alten Bibelhandschriften widmete, und besonders dafür, daß er den großartigen Codex Sinaiticus vor der Vernichtung gerettet hat. Doch in erster Linie gilt unser Dank Jehova Gott, der dafür gesorgt hat, daß sein Wort zu unserem Nutzen bis zum heutigen Tag so genau erhalten geblieben ist.
[Kasten auf Seite 30]
Der Nutzen des Codex
Das Symbol für den Codex Sinaiticus ist der hebräische Buchstabe א. Der Codex bestätigt die Genauigkeit jüngerer Papyrushandschriften der Bibel. Er hilft auch der modernen Bibelforschung, da er heimliche Fehler, die sich in spätere Abschriften eingeschlichen haben, klar hervortreten läßt.
In Johannes 1:18 heißt es beispielsweise: „Kein Mensch hat GOTT jemals gesehen; der einziggezeugte Gott, der am Busenplatz beim Vater ist, der hat über ihn Aufschluß gegeben.“ Die Fußnote in der „Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift — mit Studienverweisen“ zeigt, daß der Codex Sinaiticus und andere alte Handschriften die Lesart „der einziggezeugte Gott“ unterstützen und nicht die alternative Lesart „der einziggezeugte Sohn“. Der Fußnotenverweis אc bezieht sich auf die Lesart eines Korrektors dieses Codex, der die Wiedereinsetzung des bestimmten Artikels bei „der einziggezeugte Gott“ stützt. Die Stellung Jesu Christi ist wirklich einzigartig, wie dieser Bibeltext bezeugt.
[Bilder auf Seite 31]
Das Katharinenkloster am Fuß des traditionellen Berges Sinai.
Kleines Bild: die heutige Bibliothek.
[Bildnachweis]
Pictorial Archive (Near Eastern History) Est.
[Bildnachweis]
Pictorial Archive (Near Eastern History) Est.
[Bildnachweis auf Seite 31]
Mit freundlicher Genehmigung des Britischen Museums