Löst die Aquakultur das Ernährungsproblem?
DIE Bevölkerungsexplosion bedeutet, daß jedes Jahr weitere Millionen ernährt werden müssen. Doch schon jetzt gibt es viele Länder, in denen die Menschen nicht satt werden oder verhungern. Wie kann Nahrung für alle beschafft werden?
Allgemein wird angenommen, das Meer sei eine ausreichende Nahrungsquelle. So lesen wir in einem Artikel über dieses Thema: „Auf der Erde braucht niemand zu hungern, denn das Meer ist eine riesige, sozusagen noch ungenützte und wahrscheinlich unerschöpfliche Nahrungsquelle.“ Stimmt das? Ist das Meer eine solche Nahrungsquelle?
Das Nahrungspotential des Meeres
Die Nahrungsmenge, die man aus dem Meer holt, ist gewaltig gestiegen. 1950 waren es weniger als 19 Millionen Tonnen, jetzt beträgt der Jahresertrag mehr als 60 Millionen Tonnen. Man mag den Eindruck haben, das sei eine gewaltige Menge. Die Nahrung aus dem Meer beträgt indessen nur etwas mehr als drei Prozent der Gesamtmenge der erzeugten Nahrung. Vermag das Meer einen weit größeren Ertrag zu liefern?
Oft hört man die Meinung, daß die Ausbeute des Meeres weit größer sein könnte. Personen, die das behaupten, sehen, daß das Meer gewaltig groß ist — fast drei Viertel der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt —, aber sie lassen die Tatsache außer acht, daß der größte Teil des Meeres ähnlich wie der größte Teil des Landes unproduktiv ist.
In dem neuen Buch Environment—Resources, Pollution & Society (Umwelt — Naturreichtümer, Verschmutzung und Gesellschaft), herausgegeben von W. W. Murdoch, wird gesagt: „Das offene Meer — schätzungsweise 90 Prozent des Ozeans — gilt als eine biologische Wüste, da es gegenwärtig zur Weltfischerei fast nichts beisteuert und geringe Möglichkeiten für die Zukunft bietet.“ Die Mehrzahl der Meerestiere lebt in den Flachwasserzonen entlang den Küsten. In gewissen Küstengebieten gibt es große Fischansammlungen. Warum?
In Küstenbereichen, in denen es von Fischen wimmelt, herrschen günstige Bedingungen: Wind, Strömung und Bodenform des Schelfs tragen dazu bei, daß aus der Tiefe des Meeres Strömungen aufsteigen, beladen mit Nährstoffen von zersetzten Meerespflanzen und -tieren. Wenn diese „aufwallenden“ Nährstoffe in die oberen Regionen des Meeres gelangen, die vom Sonnenlicht durchdrungen werden, bewirken sie, daß sich die winzigen schwebenden Pflanzen und Tiere, von denen sich die Fische ernähren, sehr rasch vermehren. Wir lesen in dem erwähnten Buch: „Gebiete mit aufwallendem Tiefwasser bilden nur etwa 0,1 Prozent des Ozeans, liefern aber 50 Prozent des Ertrages der Weltfischerei.“
Von welcher Bedeutung ist der Fischreichtum in gewissen Bereichen des Meeres und die Fischarmut in anderen? Der Meeresbiologe William Ricker sagte warnend: „Das Meer ist kein unbegrenztes Nahrungsreservoir.“ Und der Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau erklärte nach seiner Rückkehr von einer Tauchexpedition, es gebe jetzt zufolge von Überfischung und Verschmutzung 40 Prozent weniger Tiere im Meer als noch im Jahre 1950.
Der Mensch kann sich also offenbar nicht auf die herkömmlichen Fangmethoden verlassen, um den Fischfang zu steigern. Aufgrund solcher Berichte wie des Berichts von Cousteau ist sogar anzunehmen, daß in Zukunft noch weniger Nahrung aus dem Meer herauszuholen ist.
Eine andere Methode
Dennoch hört man immer wieder die Meinung, die Nahrungsvorräte des Meeres vermöchten unser Ernährungsproblem zu lösen. Solche Personen beobachten, daß der Mensch, der Fischerei betreibt, sozusagen Jagd auf die Fische macht, ähnlich wie der Jäger im Wald Jagd auf Wild macht. Die Erträge könnten indessen gesteigert werden, wenn man die Fische, anstatt sie zu jagen, züchten würde, so, wie man Rinder oder Schafe züchtet. Man ist der Meinung, wenn man das Meer so bewirtschaften würde, könnte man weit mehr herausholen. Die systematische Bewirtschaftung des Meeres wird Aquakultur oder Meerwirtschaft genannt.
Die Aquakultur hat in letzter Zeit bei der Öffentlichkeit großen Anklang gefunden. Doch wie sind ihre Aussichten? Kann man Wassertiere halten wie Rinder, Schweine und andere Landtiere? Wie weit ist man schon auf diesem Gebiet? Löst die Aquakultur das Ernährungsproblem der Welt?
Eine alte, doch produktive Methode
Die Aquakultur ist im Grunde genommen schon alt. Bereits im Jahre 475 v. u. Z. schrieb in China ein gewisser Fan Li eine Abhandlung über die Fischzucht. Andere Völker, so auch die Griechen und die Römer, betrieben das Gewerbe ebenfalls.
In China ist die Fischzucht so entwickelt, daß sie eine wichtige Nahrungsquelle geworden ist. Jedes Jahr werden 1,5 Millionen Tonnen Karpfen und karpfenähnliche Fische erzeugt. Das ist weit über die Hälfte der jährlichen Weltproduktion der Fischzüchtereien, die über 2 Millionen Tonnen beträgt.
In China sieht man überall Süßwasserteiche, in denen Karpfen gezüchtet werden. Man hat einen Karpfen herangezüchtet, der schnell wächst, einen fleischigen Körper besitzt und ein Minimum an Schuppen. Die Chinesen achten sorgfältig darauf, daß dieser Karpfen nicht wieder zur Wildform zurückkehrt. Daß das schnell geschehen kann, zeigte sich, als man 1877 diesen Karpfen in Amerika aussetzte. Er verwilderte schnell wieder zu dem knochigen, schuppenbedeckten Tier, das man oft in den Gewässern findet, in denen geangelt wird.
Auch in Indonesien, auf den Philippinen und auf Taiwan sowie in Norditalien werden in großem Umfang Fische gezüchtet. An den Küsten dieser Länder gibt es Brackwasserteiche, die Hunderttausende von Hektaren groß sind. Darin werden Milchfische (ein tropischer Fisch, der einem großen Hering gleicht) und Meeräschen gezüchtet. Da die Zucht dieser Fische noch im Versuchsstadium ist, muß die Brut immer noch an den Küsten gesammelt und zum Heranwachsen in die Teiche gebracht werden.
Der Ertrag dieser Teiche ist indessen so groß, daß sich die Mühe lohnt. Auf den Philippinen beträgt der Milchfischertrag jährlich etwa 19 Millionen Kilogramm, durchschnittlich etwa 550 Kilogramm je Hektar. In Indonesien, wo Abwässer in die Teiche geleitet werden, übersteigt die Jahreserzeugung manchmal 4 000 Kilogramm je Hektar. Diese Fische müssen jedoch gut gekocht werden, bevor man sie essen kann.
Wels, Forelle und Lachs
In den Vereinigten Staaten hat man auf dem Gebiet der Fischzucht bedeutende Fortschritte erzielt. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Welszucht, mit der einige wenige Farmer Versuche gemacht hatten, zu einer blühenden Industrie entwickelt. Im Jahre 1970 gab es vorwiegend im Gebiet des Mississippideltas Teiche, die insgesamt über 23 000 Hektar ausmachen. Der durchschnittliche Ertrag beträgt etwa 35 Millionen Kilogramm Wels! Das bedeutet einen Ertrag von über 1 400 Kilogramm je Hektar, weit mehr als der Ertrag von Rindern je Hektar gutes Weideland, dieser beträgt nämlich nur 350 bis 550 Kilogramm.
Gezüchtet werden auch Forellen und Lachse, besonders die Regenbogenforelle. Im Schlangenfluß-Tal des US-Staates Idaho gibt es einen riesigen unterirdischen See; das Wasser aus diesem See, das rasch durch die Fischteiche strömt, hat eine für die Forellenzucht ideale Temperatur (14 ° Celsius). Und dadurch, daß man den Forellen außerdem ein besonderes Futter gibt, wird jährlich ein gewaltiger Ertrag von 450 000 Kilogramm je Hektar erzielt! Ähnliche Erträge erzielt man in Indonesien, indem man in Bambuskäfigen, die in rasch fließenden Bächen mit viel Abwässern frei schwimmen, Karpfen hält.
Die Lachszucht wird eher wie eine „Ranch“ betrieben als wie eine „Farm“. Der Lachs wird im Oberlauf von Flüssen als Jungfisch geboren und wandert dann ins Meer; Jahre später treibt ihn der Fortpflanzungstrieb in den Bach zurück, wo er zur Welt gekommen ist, um dort zu laichen. Durch sorgfältige Auswahl und besondere Nahrung ist es gelungen, schnell wachsende, gesunde Tiere zu züchten. Einige dieser neuen Zuchtlachse verbringen nicht wie üblich vier Jahre im Meer, sondern kehren schon nach einem Jahr in ihren „Geburtsfluß“ zurück. Man hofft, große künstliche Lachswege zu bauen, so daß man die Lachse nach ungefähr einjährigem Aufenthalt im Meer bei ihrer Rückkehr „ernten“ kann.
Zucht von Schalentieren
Der größte Teil der Schalentiere — jährlich zwischen 4 bis 5 Millionen Tonnen — wird durch traditionelle Fangmethoden aus dem Meer geholt. Aber es ist auch üblich geworden, Austern, Garnelen und andere Schalentiere zu züchten; vor allem die Japaner sind auf diesem Gebiet führend. Sie haben zum Beispiel als erste die Hängekultur eingeführt, eine Methode, die jetzt auch in vielen anderen Ländern der Welt angewandt wird.
Nach dem Schlüpfen schwimmt die winzige Austernlarve kurz umher und sucht sich einen geeigneten harten Gegenstand, an dem sie sich für den Rest ihres Lebens festheftet. In Japan hat man Bambusflöße im Wasser verankert, von denen fast fünfzehn Meter lange Drähte ins Wasser herabhängen. An diesen Drähten sind in bestimmten Abständen Muschelschalen befestigt. Daran heften sich Milliarden Austernlarven fest; nach wenigen Wochen werden sie ausgelesen, so daß sie den richtigen Abstand voneinander haben. Wenn die Austern größer werden, befestigt man an den Flößen Schwimmer, um zu vermeiden, daß sie unter dem zunehmenden Gewicht absinken.
Diese Methode hat eine Reihe Vorteile. Die Austern werden so vor ihren Feinden sowie vor dem Versinken in den Untergrund bewahrt. Auch wird den Austern ermöglicht, die schwebende Nahrung in der gesamten Wassersäule zu nutzen. Durch Anwendung dieser Methode hat man in der Bucht von Hiroshima eine jährliche Ausbeute von 55 000 Kilo Austernfleisch je Hektar erzielt!
Schalentiere, die umhergehen, so z. B. die Garnelen, sind schwieriger zu züchten. Seit Jahrhunderten züchtet man im Fernen Osten Garnelen, man sammelt junge Garnelen in den Küstengewässern und mästet sie in Brackwasserteichen. In Japan betreibt man indessen echte Garnelenzucht, und zwar mit Erfolg. Dort wird jetzt die vollständige künstliche Aufzucht von Garnelen durchgeführt.
Muttertiere werden gefangen und in Tanks getan, die mit Meerwasser gefüllt sind und sorgfältig überwacht werden. In diesen Tanks legen die Weibchen ihre Eier ab. Die jungen Garnelen machen mehrere Larvenstadien durch, bis sie schließlich geschlechtsreif werden; in dieser Zeit hält man sie in Behältern, die überdacht und mit warmem Wasser gefüllt sind. Später bringt man sie in Teiche, die künstlich belüftet werden und durch die Wasser hindurchfließt. In diesen Teichen wachsen sie heran, bis sie die volle Größe erreichen. In Japan gibt es jetzt mehrere Garnelenfarmen, doch die meisten dieser Farmen beziehen die Garnelen, wenn sie noch klein sind, da man noch nicht über die technischen Anlagen verfügt, um die vollständige künstliche Aufzucht durchzuführen.
Echte Meerwirtschaft in den Kinderschuhen
Die Nahrungsmittelproduktion mit Hilfe der Aquakultur beschränkt sich somit hauptsächlich auf Teichwirtschaft, Süßwasserteiche und Brackwasserteiche. Die echte Aquakultur, die planmäßige Bewirtschaftung des Meeres, hat bisher wenig erbracht. Bei der Zucht von Meerestieren hat es sich vorerst meist nur um Versuche gehandelt oder um Vorschläge. Die Japaner — ein Inselvolk, das seinen Eiweißbedarf zu 60 Prozent mit Nahrung aus dem Meer deckt — sind auf diesem Gebiet besonders rührig.
Teile des Meeres einzuzäunen, um darin Fisch zu züchten, ist natürlich kein geringes Unternehmen. Doch in der Seto-Inlandsee haben die Japaner das getan; dort betreiben sie Meeresfarmen. Eine solche abgezäunte Farm ist bei Flutwasser 73 Hektar groß und bei Ebbe 6 Hektar. Der Gelbschwanzfisch, der in etwa acht bis neun Monaten die volle Größe erreicht, wird in diesen eingezäunten Farmen in großen Mengen gezüchtet.
Große Teile des Meeres einzuzäunen ist schwierig. Unter anderem wurde folgender Vorschlag gemacht: In ein Kunststoffrohr, das mit winzigen Düsen versehen ist, soll Luft geblasen werden, so daß die aufsteigenden Luftbläschen eine Art Vorhang bilden, der einerseits unerwünschte Tiere fernhält und andererseits die Tiere, die man züchten möchte, daran hindert, ins Meer zu entweichen.
Im Stillen Ozean gibt es Atolle, ringförmige Korallenriffe, die eine Lagune einschließen. Japanische Wissenschaftler haben vorgeschlagen, solche Atolle abzuschließen und in den Lagunen Thunfische — Fische, die mehrere hundert Pfund schwer werden können — zu züchten.
Eine weitere Möglichkeit, die erforscht worden ist, besteht im Düngen des Wassers, um die Entwicklung der Fische zu fördern. Bei St. Croix auf den Jungferninseln hat man bei einem Experiment ein Plastikrohr, das über 75 Zentimeter im Durchmesser maß, fast anderthalb Kilometer tief ins Meer geführt. Das kühle, nährstoffreiche Wasser, das in die Teiche an der Küste gepumpt wurde, wimmelte bald von Pflanzen — eine ideale Voraussetzung für die Fischzucht. Ein Wissenschaftler machte den Vorschlag, mit Hilfe einer schwimmenden Baggermaschine Nährstoffe aus der Tiefe des Meeres heraufzuholen und an der Oberfläche zu verteilen. Darauf könnte man die Fische „ernten“, die auf diesen künstlichen „Meeresweiden“ vorzüglich gedeihen würden.
In Schottland hat man erfolgreiche Versuche mit Kühlwasser eines Atomkraftwerkes gemacht. Mit diesem Kühlwasser hat man das Meerwasser in einem abgezäunten Gebiet erwärmt, was zur Folge hatte, daß der Stoffwechsel und der Appetit der Fische — in diesem Fall der Seezungen und Schollen — sich steigerten, was bewirkte, daß die Fische schneller wuchsen. Interessant jedoch ist folgender Kommentar, den man in der Zeitschrift Sea Frontiers über diesen erfolgreichen Versuch lesen konnte:
„Von ,Meerwirtschaft‘ wird heute häufig gesprochen, als wäre sie so leicht zu betreiben wie die Landwirtschaft. Gegenwärtig sind die damit verbundenen Probleme jedoch größer als der Ertrag, und die Zucht einer einzigen Art für den Handel erfordert gewaltige Anstrengungen.“
Das erinnert einen daran, daß die Meerwirtschaft noch in den Kinderschuhen steckt.
Die Lösung des Ernährungsproblems?
Die Nahrungsmittelerzeugung sollte indessen sofort gesteigert werden, da bereits ein großer Teil der Menschheit hungert. Ist es möglich, die Meerwirtschaft so zu entwickeln, daß sie diesem Nahrungsmangel abhelfen kann?
Vieles deutet darauf hin, daß durch die Meerwirtschaft dieser Mangel nicht behoben werden kann. So lesen wir in der Zeitschrift Bio-Science: „Jetzt muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß die gegenwärtigen Erträge, die mit der Aquakultur erzielt werden, wahrscheinlich sehr wenig dazu beitragen können, den Hunger der unterernährten Völker der Welt zu stillen. Es ist unwahrscheinlich, daß der Kalorienbedarf der hungernden Völker jemals durch Nahrung aus dem Meer gedeckt werden kann. Augenblicklich kann damit im besten Fall nur ein geringer Teil des Proteinbedarfs gedeckt werden.“
Am produktivsten ist gegenwärtig offenbar die Teichwirtschaft. Diese Form der Aquakultur ist der echten Meerwirtschaft besonders deshalb vorzuziehen, weil es zufolge der Verschmutzung immer gefährlicher wird, das Meer als Nahrungsquelle zu benutzen.
In der Zukunft wird zweifellos auf dem Gebiet der Aquakultur noch mehr getan werden, und das wird vielen Menschen zum Nutzen sein. Aber es darf nicht erwartet werden, daß damit das kritische Ernährungsproblem des Menschen gelöst werden kann.