„Ihr Kind ist geistig behindert!“
„IHR Kind ist mongoloid. Es ist geistig behindert und wird niemals normal sein. Überlegen Sie sich, in was für ein Heim Sie es geben wollen.“
Diese niederschmetternden Worte bekam ich von dem Arzt zu hören, der fünfzehn Minuten zuvor meine Frau von einem Mädchen entbunden hatte.
Es war um Mitternacht, und meine Frau stand noch unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln. Das war die längste und einsamste Nacht meines Lebens. Bevor der Morgen graute, mußte ich die Hoffnung, der Geburtshelfer habe sich getäuscht, begraben, denn ein Kinderarzt bestätigte seine Diagnose. Nun blieb mir nichts anderes mehr übrig, als es meiner Frau zu sagen, und dann mußten wir eine Entscheidung fällen.
Um 9 Uhr früh wußte meine Frau Bescheid. Um 9.30 Uhr hatten wir uns gebetsvoll entschieden, daß das Kind, ganz gleich, was die Zukunft bringen würde, bei uns aufwachsen und so die Liebe und Geborgenheit des Elternhauses haben sollte.
Aber weniger als eine Stunde später stürzte der Arzt ins Zimmer und sagte, das Kind breche Blut und müsse sofort ins Kinderkrankenhaus überführt werden. Darauf jagten wir im Wagen durch die Stadt, und kaum waren wir im Krankenhaus angelangt, mußte ich die biblischen Gründe darlegen, weshalb Jehovas Zeugen Blutübertragungen ablehnen.
An jenem Abend teilte man mir dann mit, daß die Blutungen nachgelassen hätten und es sein könne, daß das Kind lediglich während der Geburt Blut geschluckt habe. Doch inzwischen war ein Herzflimmern aufgetreten. Offenbar hatte das Kind einen schweren Herzfehler, und man sagte mir, daß es die Nacht wahrscheinlich nicht überleben werde. Aber am nächsten Morgen zeigte es sich, daß die Ärzte sich in unserem kleinen Mädchen getäuscht hatten; das sollten sie in Zukunft noch mehrmals tun. Die Blutungen hatten aufgehört. Ihr schwaches Herzchen schlug immer noch. In den folgenden acht Tagen konnten wir sie nur durch die Glasscheibe ihres Brutkastens sehen, während sie um ihr Leben kämpfte. Welch einen zähen Lebenswillen hat doch der Schöpfer dem Menschen eingepflanzt! Das bewies selbst dieser Säugling, der so schwach war. Obwohl die Ärzte damit rechneten, daß die Kleine bald sterben würde, durften wir sie mit nach Hause nehmen. Während ich diese Zeilen schreibe, spielt ein entzückendes blondes Mädchen, das jetzt zehn Jahre alt ist, glücklich auf dem Boden neben mir. Sie hat eben ein langes Telefongespräch mit ihrer Oma geführt und über die Gesundheit ihrer Lieblingspuppe mit ihr gesprochen. Es ist kaum zu glauben, daß dieses Mädchen das gleiche Kind ist, an dessen Bettchen wir vor zehn Jahren Nacht um Nacht wachten, weil sein Leben an einem dünnen Faden hing.
Schon wenige Tage nachdem wir den Säugling aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hatten, trat erneut eine Krise ein. Die Kleine trank zwar gierig, wenn man ihr die Flasche gab, aber sie konnte nichts bei sich behalten. Die Ärzte vermuteten Darmverschluß. Aber für eine Operation schien sie viel zu schwach zu sein.
Zurück ins Krankenhaus
Doch wenige Tage später blieb uns nichts anderes übrig, als sie wieder ins Krankenhaus zu bringen, weil feststand, daß sie Darmverschluß hatte. Ohne Operation hätte sie sterben müssen. Der diensthabende Kinderarzt bat uns, ins Büro des Chirurgen zu gehen, da dieser uns sprechen wollte.
Bald darauf saßen wir vor dem Schreibtisch des Arztes und erwarteten, wieder unseren Standpunkt in bezug auf Blutübertragungen darlegen zu müssen. Aber wir irrten uns. Er erbat nicht unsere Einwilligung zur Blutübertragung, sondern sagte: „Ihr Kind ist geistig behindert. Es wird Ihnen und der Gesellschaft immer zur Last sein. Wenn es mein Kind wäre, würde ich es nicht operieren. Erlauben Sie mir, mit der künstlichen Ernährung aufzuhören; es wird dann in wenigen Stunden tot sein.“
Wir waren wie vom Schlag gerührt. Dann versprachen wir ihm, in einer Stunde Antwort zu geben, und fuhren nach Hause.
Dreißig Minuten lang erwogen wir die Empfehlung des Arztes. Wir taten es gebetsvoll und anhand der Bibel. Aber es bestand eigentlich kein Zweifel, wie wir uns entscheiden sollten. Wir beide haben eine hohe Achtung vor dem Leben und halten es für heilig. Abgesehen von den religiösen und moralischen Gründen, bewog uns einfach auch die Liebe zu unserem Kind, uns zu seinen Gunsten zu entscheiden. Behindert oder normal, doch es sollte, soviel an uns lag, leben. Wer konnte denn wirklich den Grad seiner Behinderung wissen? Wie abgemacht, gaben wir dem Arzt nach einer Stunde Antwort — und zwei Stunden danach lag das Kind auf dem Operationstisch.
Ein hervorragender Chirurg, ein vorzügliches Krankenhaus, tüchtiges Pflegepersonal, keine Bluttransfusion — und das Kind lebte! Aber kurz darauf kam es erneut zu einer Krise. Aufgeregt rief uns der Chirurg an. Der Körper des Kindes war so ausgetrocknet, daß die Nähte nicht hielten. Alles war aufgegangen. Der Chirurg mußte nochmals von vorn anfangen. Diesmal bestand kaum Aussicht, daß das Kind überleben würde. Aber der Arzt hatte mittlerweile seine Meinung vollkommen geändert. Die Lebenskraft, die in der Kleinen steckte, erregte seine Bewunderung. „Ich wende eine Behandlung an, und sie reagiert prompt darauf“, gestand er. Es lag ihm jetzt so viel daran, sie am Leben zu halten, daß er keine Mühe scheute.
Auch dieses Mal kam sie durch. Nach acht Wochen, in denen es für sie nichts anderes als den Brutkasten, weiße Kittel, Gesichtsmasken und intensive Pflege gab, durften wir sie wieder nach Hause holen.
Freude überwiegt die Probleme
So dramatisch fing das Leben unseres kleinen Töchterchens an, das uns bis jetzt so viel Freude gemacht hat. Auch haben wir ihretwegen schon viel Gelegenheit gehabt, Ärzten, Pädagogen und anderen Personen Zeugnis zu geben und den Namen des Schöpfers zu ehren.
In den ersten paar Jahren ihres Lebens fragten wir uns oft, ob sie wohl je sprechen lernen würde. Wenn wir jetzt zurückdenken, müssen wir lächeln, denn gelegentlich ist es schwierig, das Plappermäulchen zum Schweigen zu bringen. Einige Jahre lang sah es auch so aus, als würde die Kleine nie laufen lernen. Welch ein glücklicher Tag es doch war, als wir sie in ihrem Spielzimmer vor uns auf den Füßchen stehen sahen! Allerdings stand sie noch unsicher, aber sie stand. Ein geistig behindertes Kind muß vieles, was für ein normales Kind selbstverständlich ist, mühsam lernen. Deshalb ist es dann ein beglückendes Ereignis, wenn das Kind es geschafft hat.
Vor einigen Tagen ist die Kleine an der Hand ihrer Mutter von Haus zu Haus gegangen und hat mitgeholfen, Bibeltraktate zu verteilen. Heute kam sie, nachdem sie aus dem Schulbus ausgestiegen war, fröhlich die Auffahrt heraufgerannt und konnte es nicht erwarten, mir zu zeigen, was sie in der Schule gemacht hatte. Schon häufig hat man uns zu unserem Töchterchen gratuliert, weil es gut erzogen sei und am Telefon so deutlich spreche. Wir müssen jetzt den Leuten nicht mehr erklären, die Kleine sei geistig behindert.
Der Körper eines mongoloiden Kindes ist außerstande, ausreichend Antikörper zu bilden, deshalb kann schon ein Schnupfen für ein solches Kind eine ernste Erkrankung sein. Die meisten mongoloiden Kinder ziehen sich jeden Winter mehrmals eine Erkältung, eine Bronchitis und gelegentlich — so auch unsere Kleine — sogar eine Lungenentzündung zu. Wir sind sehr dankbar dafür, daß es viele Ärzte gibt, die sich auf solche Kinder spezialisiert haben. Als unser Töchterchen vier Jahre alt war, mußten wir es mehrmals zu Dr. Denton Cooley, einem in Houston (Texas) tätigen Herzchirurgen, bringen, wo es sich chirurgischen Eingriffen unterziehen mußte. Zufolge von Herzfehlern, die nicht zu beheben sind, hat es dennoch nur eine begrenzte Lebenserwartung. In den vergangenen paar Jahren sind wir mit dem Kind auch regelmäßig zu Dr. Henry Turkell, einem Arzt in Detroit, gefahren, der fast ausschließlich mongoloide Kinder behandelt. Zu diesem Arzt werden Kinder aus Amerika und Europa gebracht.
Während ich diese Zeilen schreibe, muß ich auch an die furchtbare Nacht denken, in der unser Töchterchen die Hälfte seines Blutes verlor und ein mutiger Pilot dann trotz des dichten Nebels über dem Atlantik die Kleine mit einem Sanitätsflugzeug von Florida in ein anderes Krankenhaus flog, nachdem ein Arzt am Ort und die Krankenhausleitung uns erklärt hatten, wir müßten ihnen erst die Erlaubnis geben, dem Kind Blut zu transfundieren, bevor sie es auch nur ansehen würden.
Was tun, wenn man ein geistig behindertes Kind hat?
Wir sind natürlich nicht die einzigen, die ein solches Kind haben. Jedes Jahr werden Hunderttausende von geistesschwachen Kindern geboren. Mongolismus ist nur e i n e Art geistiger Behinderung. Alle Eltern, die ein geistig behindertes Kind haben, sehen sich grundsätzlich denselben Problemen gegenüber.
„Warum haben gerade wir ein solches Kind? Was sollen wir tun? Sollen wir das Kind behalten oder es in ein Heim geben? Wie werden seine Geschwister zu ihm stehen? Was werden Freunde und Nachbarn denken? Was haben wir falsch gemacht? Sollten wir noch weitere Kinder haben? Wie können wir die Situation bewältigen?“ Das sind nur einige der Fragen, mit denen sich Eltern, die ein solches Kind haben, auseinandersetzen müssen.
Diesen Eltern geben wir den simplen Rat: Beruhigt euch. Gebt das Kind nicht in ein Heim. Kommt Zeit, kommt Rat. Meine Frau und ich, unser anderes Kind und ein lebhaftes kleines Mädchen mit langem blondem Haar können diese Empfehlung bekräftigen.
Wir haben oft an den Arzt gedacht, der unsere Einwilligung erbat, das Kind sterben zu lassen. Unabsichtlich hat er uns dazu gezwungen, uns zu entscheiden, ob wir das Kind — normal oder geistig behindert — haben wollten oder nicht. Wir haben unsere Entscheidung nie bereut, und welch ein Segen ist das Kind bisher für uns gewesen!
Eltern, die ein geistig behindertes Kind haben, werden in vielerlei Hinsicht reichlich belohnt. Ein geistig gebrechliches Kind ist fähig zu lieben, und es zeigt seine Liebe völlig ungehemmt. Die wohltuende Wirkung, die das auf eine Familie hat, ist unbeschreiblich. Bin ich z. B. einmal mißmutig, so folgt mir die Kleine beharrlich auf Schritt und Tritt durchs Haus, und ein helles Stimmchen fragt: „Warum lächelst du denn nicht?“ Wer kann da noch ärgerlich bleiben? Probleme, Meinungsverschiedenheiten, ja sogar wirtschaftliche Schwierigkeiten werden belanglos, wenn man von einem geistig behinderten Kind mit herzlicher Liebe und Anhänglichkeit überschüttet wird.
Meistens ist es so, daß sich Eltern, die ein geistig behindertes Kind haben, vorher mit dem Problem der geistigen Behinderung kaum befaßt haben, denn in der Regel rechnet ja niemand damit, ein solches Kind zu bekommen. Steht man aber dann vor dieser Tatsache, sollte man recht bald folgendes unternehmen:
Als erstes sollte man sich erkundigen, ob es in der Gemeinde, in der man wohnt, einen Kindergarten, häusliche Beratungsprogramme, besonders geschulte Ärzte usw. gibt. Gewöhnlich gibt es Zahnärzte, Optiker und andere Fachkräfte, die besonders geschult sind, um geistig Behinderten zu helfen. Viele Dienstleistungen sind auch unentgeltlich.
Später müßte man sich erkundigen, ob entsprechende Schulen zur Verfügung stehen. In vielen Gemeinden gibt es heilpädagogische Hilfsschulen, und die Kinder werden gewöhnlich mit einem Bus abgeholt und wieder nach Hause gebracht.
Man sollte die Lernfähigkeit des Kindes nie unterschätzen. Unsere Kleine wollte, daß ich ihr zeigte, wie man die Schuhbänder bindet. Ehrlich gesagt, ich dachte nicht, daß sie das lernen würde. Daher nahm ich mir nicht die Zeit, es ihr beizubringen. Doch sie beobachtete aufmerksam, wie wir es machten. Eines Tages schob sie mich stolz in einen Sessel, und ich mußte zuschauen, wie sie an ihren Schuhen eine hübsche Schleife band. Sie hatte es einfach satt, sich helfen zu lassen, und lernte es schließlich allein.
Vergangene Woche sahen wir zu, wie unsere Kleine fröhlich mit dem Kopf voran vom Sprungbrett in das tiefe Wasser sprang, auftauchte und mit kräftigen Zügen an den Rand des Schwimmbeckens schwamm und sich so bei einem Wettbewerb für geistig behinderte Kinder den ersten Preis holte. Welch eine Freude das für uns war!
Unser Töchterchen fährt auch ein zweirädriges Fahrrad, telefoniert, schreibt regelmäßig auf die Schiefertafel in der Küche einen Bibeltext für den Tag und fragt jeden, der uns besucht, ob er „in der Wahrheit“ sei, d. h., ob er ein Zeuge Jehovas sei, jemand also, der in Übereinstimmung mit der biblischen Wahrheit wandelt.
Das Wichtigste von allem ist die Liebe!
Wenn ich gefragt würde, worauf es bei der Behandlung eines geistig behinderten Kindes am meisten ankomme und wie man ihm am besten helfen könne, würde ich als das Allerwichtigste ein ganz einfaches Mittel nennen: Liebe zum Kind. Mit Liebe erreicht man mehr als durch heilpädagogische Schulen, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter oder Institutionen. Wenn du das Kind liebst, wird das Kind dich lieben. Es wird dich nicht nur so lieben, wie ein Kind normalerweise seine Eltern liebt, sondern mit einer solchen Innigkeit und Kraft, daß einem die Worte fehlen, die Liebe eines solchen Kindes zu beschreiben. Das geistig behinderte Kind — in so mancher Beziehung begrenzt — ist offenbar mit einer Überfülle von Liebe ausgestattet.
Eine überaus große Freude in Verbindung mit unserem Töchterchen erlebten wir vor kurzem, als wir uns für ein paar Tage in einem Hotel eines Ferienortes einmieteten. Gegen Ende unseres Aufenthaltes trat ein Arzt an mich heran, der jeden Tag unsere beiden Kinder beim Spielen im Schwimmbecken beobachtet hatte, und bat, mir eine Frage stellen zu dürfen. Wie überrascht war ich, als er mich fragte: „Ist Ihr kleines Töchterchen geistig behindert?“ Obwohl er Arzt war und das Kind mehrere Tage lang beobachten konnte, war er nicht ganz sicher.
Das größte Problem, dem sich Eltern eines geistig behinderten Kindes gegenübersehen, ist bedauerlicherweise die Verständnislosigkeit unaufgeklärter Personen — sowohl Erwachsener als auch Kinder. Unser sehnlicher Wunsch ist es, daß sich mehr Menschen — auch solche, die dem Kreis angehören, dem wir uns angeschlossen haben — darüber informieren würden, wie man mit geistig Behinderten umgeht, und auch ihre Kinder entsprechend aufklären würden. Wenn Eltern sich nicht die Mühe machen, ihren gesunden Kindern die Probleme der geistig behinderten Kinder zu erklären, kommt es oft zu Schwierigkeiten. Zum Beispiel hat ein Kind einmal höhnisch zu unserem Töchterchen gesagt: „Du bist ja geistig behindert!“ Man findet keine Worte, wenn ein geistig behindertes Kind einem auf die Knie klettert und fragt: „Was bedeutet ,geistig behindert‘?“
Sei dankbar, wenn alle deine Kinder normal sind. Solltest du aber eines Tages die Worte hören: „Ihr Kind ist geistig behindert!“, hast du dennoch Grund, glücklich zu sein. Wenn ihr, du und deine Angehörigen, viel Liebe investiert, werdet ihr reichlich „Dividenden“ in Form einer überströmenden Liebe zurückerhalten. (Eingesandt.)