Wir wollen unsere fremdsprachigen Nachbarn besser kennenlernen
Ein Bericht, wie er dem „Awake!“-Korrespondenten in der Bundesrepublik Deutschland erzählt wurde
„BEI uns zu Hause gibt es nur Knochen!“ Das waren die Worte eines dreijährigen afrikanischen Mädchens, das bei deutschen Pflegeeltern aufwuchs. Warum sagte dies die Kleine so spontan? Nun, im Laufe des Berichtes über unsere afrikanischen Nachbarn wirst du es verstehen und dann auch gewiß schmunzeln müssen, wie ich es tat, als mir die Mutter des Mädchens die kleine Episode erzählte.
Seit Herbst 1974 bin ich in der Versammlung der Zeugen Jehovas, die wohl von allen Versammlungen in Deutschland die meisten Afrikaner aufweist: Hamburg-Englisch. Seitdem habe ich die afrikanische Lebensweise kennen- und schätzengelernt. Viele der in Deutschland lebenden Afrikaner kommen aus westafrikanischen Ländern, vorwiegend aus Ghana und Nigeria. So sind auch fast alle der afrikanischen Glaubensbrüder in unserer Versammlung aus diesen beiden Ländern. Deshalb möchte ich insbesondere von ihnen erzählen.
Knochen, Schnee und Fufu
Die meisten Afrikaner kommen nach Deutschland, um ihre Ausbildung entweder zu vervollständigen oder zu erweitern, damit sie in der Lage sind, die erworbenen Kenntnisse in ihrem Heimatland anzuwenden und somit ihrem Volk dienlich zu sein. Jedoch ist dieser Vorsatz manchmal nicht leicht in die Tat umzusetzen, da die Arbeitslosenrate in der Bundesrepublik ziemlich hoch ist und weil der Arbeitgeber, wenn er zwischen weißen und schwarzen ausländischen Arbeitnehmern zu wählen hat, nicht selten die weißen vorzieht. Deshalb müssen oftmals die Ehefrauen mit arbeiten. Aus diesem Grunde können die Kinder meist nicht mit nach Deutschland gebracht werden, sondern werden von den in der Heimat verbliebenen Angehörigen aufgezogen.
Hier geborene Kinder leben fast immer während der Woche bei deutschen Pflegeeltern und werden zum Wochenende von ihren berufstätigen Müttern abgeholt. Diese Kinder werden natürlich von ihren Pflegeeltern nach „deutschem Muster“ aufgezogen und gewöhnen sich auch an die deutsche Küche. Sind sie dann am Wochenende bei ihren Eltern, kommt ihnen deren Lebensweise fremd vor. Sie bekommen die landesüblichen Speisen ihrer Heimat vorgesetzt, zu denen auch eine Art Hühnersuppe gehört. Um sich das Nahrhafteste, das Knochenmark, nicht entgehen zu lassen, werden die Knochen aufgebissen, damit man das Mark herauslutschen kann. Für die kleine Titi, das zuvor erwähnte nigerianische Mädchen, erschien das geradeso — weil diese Eßgewohnheit einen großen Eindruck auf sie machte —, als äßen ihre Eltern „nur Knochen“.
Einen ähnlich tiefen Eindruck hinterläßt bei denen, die als Erwachsene hierhergekommen sind, der erste Schnee. Die wenigsten von ihnen hatten bereits Gelegenheit, Schnee zu sehen oder gar zu berühren, bevor sie nach Deutschland kamen. Für Afrikaner ist daher der Anblick einer mit Schnee bedeckten Landschaft besonders faszinierend. Die erste Berührung des Schnees erscheint vielen fast unheimlich. Sie freuen sich besonders, wenn man sie einlädt, mit einer Gruppe rodeln zu gehen. Du müßtest dann nachher zusehen können, wie sie anderen freudevoll ihre Erlebnisse erzählen. Es wird gelacht und geklatscht; dem Gesprächspartner wird auf die Schulter geklopft, oder er wird mit beiden Händen an den Armen gepackt.
„Urgemütlich“ ist es, bei Ghanaern oder Nigerianern zu essen. Es würde dir sicher genauso ergehen wie mir, als ich das erste Mal „Fufu“ (das ghanaische Hauptgericht) mit der Hand aß.
Fufu ist ein aus Kassavestärke, zerstampften Plantainen (Mehlbananen) und Wasser hergestellter zäher Brei, der während des Kochens ständig mit dem Kochlöffel geschlagen werden muß. Das ist eine sehr anstrengende Arbeit. In Deutschland mischen unsere afrikanischen Nachbarn Kartoffelpüree und -stärke mit Wasser, da sie die Originalzutaten hier nicht kaufen können. Nachdem der Brei ordentlich geschlagen worden ist, teilt die Gastgeberin den dicken Kloß mit Daumen und Mittelfinger in gleich große Teile und legt diese in die für die Gäste vorgesehenen Schüsseln. Darüber wird eine sehr scharfe, aber delikate Soße mit Rind-, Hammel- oder Hühnerfleisch oder vielleicht mit Makrele gegossen. Oftmals werden geschmorte Plantainen oder Okro-Gemüse dazu gereicht. Besteck wird nicht benötigt, denn man ißt mit den Händen, die man vorher selbstverständlich gründlich gewaschen hat. Zum Abschluß reicht die Gastgeberin ihren Gästen eine Schüssel mit Wasser zum Reinigen der Hände und ein Handtuch zum Abtrocknen.
Die Heimatländer
In ihrer Heimat leben die meisten Afrikaner noch in Großfamilien zusammen. Die jungen Leute sind für den Lebensunterhalt der Alten verantwortlich, da es keine geregelte Altersversorgung gibt. Nigeria, der volkreichste Staat Westafrikas, erlangte 1960 seine Unabhängigkeit von Großbritannien. Zur Zeit leben dort etwa 80 Millionen Menschen, die man zirka 270 ethnischen und sprachlichen Gruppen zuordnen kann und die zu 46 Prozent der islamischen Religion angehören.
Ghana ist ein kleineres Land — etwas kleiner als die Bundesrepublik Deutschland — und hat auch nur 10 bis 11 Millionen Einwohner. Nigeria hingegen ist so groß wie die Bundesrepublik, die Schweiz, Österreich und Frankreich zusammen. Ghana erlangte 1957 seine Unabhängigkeit — ebenfalls von Großbritannien. Als es noch eine britische Kolonie war, hieß dieses Land Goldküste. Zirka 50 ethnische Gruppen sind dort vertreten. Ghana, der größte Kakaoproduzent der Erde, hat wegen des immer mehr sinkenden Rohstoffpreises in letzter Zeit vermehrt wirtschaftliche Schwierigkeiten gehabt.
In beiden Ländern ist die Amtssprache Englisch. Eine Amtssprache ist notwendig, da die verschiedenen Volksgruppen auch unterschiedliche Sprachen sprechen. Wenn also eine amtliche Verlautbarung bekanntgemacht wird, kann sie jeweils im ganzen Land gelesen oder gehört und auch verstanden werden. Weil es so viele Sprachen und Dialekte gibt, ist es nicht selten, daß diese sehr einfachen Menschen — irrtümlich von manchen Europäern als weniger intelligent betrachtet — vier oder fünf Sprachen sprechen und verstehen können. Wer auf solche Menschen wegen ihrer „Einfachheit“ hinabschaut, würde gut daran tun, dies nicht zu vergessen.
Ihre Einstellung zur Religion
Daß die meisten Afrikaner in Deutschland Englisch können, macht es uns Zeugen Jehovas — sofern wir englischsprachigen Versammlungen angehören — leicht, uns mit ihnen zu verständigen. Wir bemühen uns, allen Personen vom Königreich Gottes zu erzählen und sie zu christlichen Zusammenkünften einzuladen. Wenn es sich um Afrikaner handelt, haben wir es einfach, da wir sie aufgrund ihrer Hautfarbe sofort identifizieren können. Stehen wir zum Beispiel am Hauptbahnhof mit unseren Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! in englischer Sprache — oder aber auch, wann immer wir sonst unterwegs sind —, so fragen wir die vorübergehenden oder auf ein Verkehrsmittel wartenden Afrikaner, ob sie Englisch sprechen, da einige doch aus Ländern kommen, in denen die Amtssprache Französisch ist. Unsere Tätigkeit ist ihnen meistens nicht unbekannt, denn in Ghana kommt auf je 486 Personen ein Zeuge Jehovas (insgesamt über 21 000) und in Nigeria auf je 843 Personen ein Zeuge Jehovas (insgesamt über 94 000).
Wir laden sie sofort zu unseren Zusammenkünften ein, und wenn es sich erweist, daß sie an einem Besuch unsererseits interessiert sind, notieren wir uns die Adresse. Mittlerweile weiß ich fast immer schon aufgrund der Namen, ob es sich um eine ghanaische oder eine nigerianische Familie handelt.
Die meisten in Deutschland wohnenden Afrikaner haben — wie früher, als sie noch zu Hause waren — tiefen Respekt vor Gott und der Bibel. Haben sie eine Weile unter Deutschen gelebt und mit ihnen zusammen gearbeitet, sind sie bestürzt über die weitverbreitete Gottlosigkeit in diesem Land. Sie verstehen nicht, wieso die Weißen den „christlichen“ Glauben nach Afrika gebracht haben — was die Kirchen der Christenheit keineswegs immer aus Liebe taten — und heute dennoch nicht an einen Schöpfer glauben. Ihre Bestürzung über diese Tatsache bietet eine gute Grundlage für ein biblisches Gespräch. Man zeigt ihnen, daß Jesus von wahren, aber auch von Scheinchristen sprach. Deshalb liegt es an uns, die wahre Religion, die an ihren Früchten zu erkennen ist, herauszufinden. (Siehe Matthäus 7:13-20; 13:24-30, 36-43.) So gelingt es uns immer wieder, die Bibel mit ihnen näher zu betrachten.
Was man von ihnen lernen kann
Wenn dies auch nur ein kurzer Bericht über unsere ghanaischen und nigerianischen Nachbarn ist, so hoffe ich doch, dir ihre Lebens- und Denkweise ein wenig nähergebracht zu haben. Es gibt so viel, was man von ihnen lernen kann und was nachahmenswert ist: ihre Einfachheit, Fröhlichkeit und Gutmütigkeit, aber vor allen Dingen ihr Glaube an den Schöpfer.
An diese Eigenschaften solltest du denken, wenn du sie wieder einmal siehst. Im Sommer werden sie dir gewiß durch ihre bunten, prachtvollen Kleider und Gewänder auffallen, die sie mitgebracht haben und die ihnen während der bei uns so kurzen warmen Jahreszeit ein Stückchen Heimat vermitteln.
Verabschieden möchte ich mich mit einem Gruß in Twi, einer der ghanaischen Sprachen, der auf deutsch übersetzt bedeutet „Möge Gott mit dir sein!“: „Onyame nfa wo nkɔ o!“