Die faszinierende Welt des Übersetzers
ITALIENISCHSPRACHIGE Schweizer staunen manchmal nicht schlecht, was ihnen in den Werbespots deutschschweizerischer Firmen angepriesen wird. Da wird für ein Waschmittel geworben, das aus einem Pullover „süße Wolle“ macht. Oder es werden „Wasserkürbisse in Essig“ angeboten statt saure Gurken und Autos mit „verstellbaren Hintern“ statt verstellbaren Liegesitzen.
Solche Fehler kommen in der Welt des Übersetzers nicht selten vor. Sie zeigen aber, welch eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe es ist, von einer Sprache in eine andere zu übersetzen. Ja, in einer Welt mit etwa 3 000 Sprachen sind Übersetzungen dringend notwendig. Internationale Handelsbeziehungen, diplomatische Aktivitäten, Bildungsprogramme, auch Reisen und viele andere Tätigkeiten hängen von der Arbeit von Übersetzern ab — Männer und Frauen, die still im Hintergrund arbeiten und sich bemühen, Gedanken und Informationen über die Sprachgrenzen hinweg zu vermitteln.
Fallgruben und Gefahren
Zum guten Übersetzen ist mehr erforderlich als die Kenntnis von zwei oder mehr Sprachen. Man muß sich auf einem bestimmten Gebiet wirklich auskennen, wenn man Qualitätsarbeit leisten will. Möchte man sich auf ein neues Gebiet spezialisieren, so muß man sich gut damit vertraut machen, um nicht hereinzufallen. Und Möglichkeiten hereinzufallen gibt es reichlich. Zum Beispiel wurden einmal in der dänischen Ausgabe von Reader’s Digest in einem Artikel über das alte Ägypten Moses und die zehn „Tafeln“ erwähnt. Offensichtlich hatte der Übersetzer versehentlich „plaques“ statt „plagues“ gelesen und dann die 10 Plagen mit den Tafeln verwechselt, auf denen die 10 Gebote standen.
Selbst einfache Begriffe sind manchmal nicht so leicht in eine andere Sprache zu übersetzen. Wenn ein Amerikaner gas tankt, dann handelt es sich nicht um Gas, sondern um Benzin. In England sagt man dazu petrol, was aber nicht mit Petroleum zu verwechseln ist. Petroleum heißt in England paraffin. Amerikaner verstehen unter paraffin allerdings Wachs. Verwirrend, nicht wahr? Für einen Übersetzer ergeben sich zahllose Probleme dieser Art. Einige davon lassen sich noch nicht einmal mit Hilfe eines Wörterbuchs befriedigend lösen.
Ein Wort in einer bestimmten Sprache umfaßt selten den gesamten Bedeutungsbereich des entsprechenden Wortes in einer anderen Sprache, falls es in dieser Sprache überhaupt ein entsprechendes Wort gibt. Oft muß der Übersetzer unter verschiedenen ähnlichen Wörtern wählen und dabei das Thema, den Zusammenhang, den Stil und viele andere Faktoren berücksichtigen. Es kann von ganz entscheidender Bedeutung sein, die richtige Wahl zu treffen. Vor einigen Jahren kam ein japanisches Produkt unweigerlich in schlechten Ruf, weil der Übersetzer der Gebrauchsanweisung den nicht unerheblichen Unterschied zwischen „berühmt“ und „berüchtigt“ nicht erkannte.
Außerdem darf man nicht übersehen, welche Vorstellungen mit einem Wort verbunden werden. Zum Beispiel wird der biblische Begriff „Harmagedon“ in englischen Wörterbüchern als „der entscheidende Schlußkampf zwischen den guten und den bösen Mächten“ definiert (Offb. 16:16). Für etwas Ähnliches haben die Dänen das Wort Ragnarök, und im Deutschen haben wir den Begriff Götterdämmerung, der durch Richard Wagners gleichnamige Oper berühmt wurde. Aber beim Übersetzen einer biblischen Abhandlung würde man keines der beiden Wörter für „Har-Magedon“ gebrauchen, da sie mit heidnischer Mythologie in Verbindung stehen.
Redewendungen und bildhafte Ausdrücke sind besonders schwer zu übersetzen. Wenn man zum Beispiel im Englischen sagt, jemand stecke „alle seine Eier in einen Korb“, so ist das nicht wörtlich zu nehmen. Gemeint ist vielmehr, daß der Betreffende „alles auf eine Karte“ setzt. Im Englischen sagt man, eine Person sei „blau“, wenn sie niedergeschlagen ist. Mit Alkohol hat das nichts zu tun. Und wenn von jemandem gesagt wird: „He was railroaded to prison“, so heißt das nicht unbedingt, daß er mit der Eisenbahn (railroad) ins Gefängnis geschafft wurde. Gemeint ist wahrscheinlich eher, daß er unter falschen Beschuldigungen zu Unrecht ins Gefängnis eingeliefert wurde.
Wissenschaft oder Kunst?
Eine gute Übersetzung stellt nicht nur Ansprüche an den Verstand des Übersetzers, sondern auch an sein Herz, sein Gefühl und seine Erfahrung. Aus diesem Grund ist es bisher nicht möglich gewesen, eine Maschine zu bauen, die ohne menschliche Hilfe zufriedenstellend übersetzen könnte. Warum nicht? Weil Sprachen sehr komplex sind und sich nicht nur in bezug auf den Wortschatz unterscheiden, sondern auch in bezug auf Grammatik und Satzbau. Übersetzen bedeutet daher mehr, als für den Urtext lediglich die entsprechenden Wörter in der anderen Sprache zu suchen.
Bisher hat man Übersetzungsmaschinen oder -computer mit einigem Erfolg nur für die Übersetzung von wissenschaftlichem oder technischem Stoff einsetzen können. Der Grund dafür ist, daß der Stil wissenschaftlicher Abhandlungen in allen Sprachen in etwa ähnlich und der Wortschatz verhältnismäßig einheitlich und begrenzt ist.
Wenn der Autor eines Textes ein Schriftsteller ist, der es wirklich versteht, Worte zu gebrauchen, um nicht nur Informationen zu vermitteln, sondern Gefühle zum Ausdruck zu bringen, Verständnis zu vermitteln und den Leser zu motivieren, dann ist ein genauso befähigter Schriftsteller erforderlich, um ihn getreu zu übersetzen. Das gilt besonders für die Dichtung, bei der Gefühle und Vorstellungen präzise durch Wahl und Anordnung der Wörter sowie durch Reim und Rhythmus und grammatischen Aufbau zum Ausdruck gebracht werden. All das und vielleicht sogar, wie das Werk schließlich auf Papier aussieht, muß in der Übersetzung wiedergegeben werden. Es bleibt daher gar nicht aus, daß beim Übersetzen etwas verlorengeht. Wenn behauptet wird, eine Übersetzung sei besser als das Original, handelt es sich gewöhnlich um ein neugeschriebenes Werk, nicht um eine Übersetzung.
Selbst wenn der Autor kein begabter Schriftsteller ist, hat es der Übersetzer nicht leichter. Wieso? Nun, weil für den Übersetzer die Grundregel gilt: Er ist nicht der Autor; daher hat er nicht das Recht, das Original zu „verbessern“. Seine Aufgabe ist es, die Gedanken, die Gefühle, die Stimmung des Originals so getreu wie möglich wiederzugeben. Aber was soll er wiedergeben, wenn die Botschaft des Originals unklar ist? Er darf dann nicht der Versuchung erliegen, Unklares deutlich zu machen, Schwaches zu stärken und Plumpes zu verfeinern. Hier Zurückhaltung zu üben kann eine echte Herausforderung sein.
Theorie und Praxis
Theoretisch sollte eine Übersetzung das Original so getreu wie möglich wiedergeben. In der Praxis gibt es jedoch große Uneinigkeit darüber, was als getreu anzusehen ist. Einige behaupten, eine getreue Übersetzung müsse die Form des Originals beibehalten — das heißt den besonderen Stil, die Wortwahl, die Redewendungen, den grammatischen Aufbau usw. Doch bei den großen Unterschieden zwischen den Sprachen ist das leichter gesagt als getan.
Nehmen wir zum Beispiel die Redewendung: „Es regnet Bindfäden.“ Kannst du dir vorstellen, welches Problem diese Redewendung für einen Übersetzer darstellt, der mit einer Sprache oder einer Kultur zu tun hat, in der man keinen Bindfaden kennt? Und selbst wenn das Wort „Bindfaden“ in der betreffenden Sprache existiert, mag der Ausdruck für den Leser völlig sinnlos oder komisch sein. In England dagegen gibt es eine entsprechende Redewendung, die lautet: „Es regnet Katzen und Hunde.“ Hat aber der Übersetzer das Recht, solche Änderungen vorzunehmen, um dem Leser den Gedanken zu vermitteln?
Probleme dieser Art haben zu der Auffassung geführt, der Inhalt einer Botschaft sei wichtiger als ihre Form und um den Inhalt zu vermitteln und bei dem Leser der Übersetzung die gleiche Reaktion zu erzeugen wie bei dem Leser des Originals, müsse die Form geändert werden. Worauf kommt es also an — auf die Form oder auf den Inhalt? Vor diesem Dilemma steht jeder Übersetzer.
Was kann helfen?
Was kannst du, wenn du Übersetzer bist oder einer werden möchtest, tun, um dich vorzubereiten? Offensichtlich mußt du zunächst einmal mit den Sprachen, mit denen du zu tun hast, gut vertraut sein. Doch was bedeutet es, eine Sprache gut zu kennen? Da eine Sprache untrennbar mit ihrer Kulturgeschichte verbunden ist, empfahl ein bekannter berufsmäßiger Übersetzer aus Europa, ein Übersetzer müsse die Fähigkeit entwickeln, „versteckte Zitate zu hören, leise Echos der klassischen Literatur der betreffenden Sprache, ihre Sprichwörter, ihre Dialekte“. Ferner gab er den Rat: „Wer aus dem Englischen übersetzt, soll zumindest mit der Bibel, mit Shakespeare, Alice im Wunderland und den geläufigsten Kinderreimen vertraut sein.“
Du kannst dich auch dadurch vorbereiten, daß du die Menschen kennenlernst, für die du übersetzt. Mische dich unter sie, und sprich mit ihnen. Achte darauf, was sie sagen und wie sie denken. Werden sie hochtönende Wörter oder Fremdwörter verstehen? Oder solltest du statt dessen Ausdrücke verwenden, die ihnen eher geläufig sind?
Eine große Hilfe ist es, gute Literatur zu lesen, sowohl Originale als auch Übersetzungen. Es kann recht lehrreich sein, ein Original mit der Übersetzung zu vergleichen und zu sehen, wie erfahrene Übersetzer vorgehen. Denke auch daran, daß eine Sprache nicht starr und unveränderlich ist; vielmehr verändert sie sich und entwickelt sich weiter. Der Übersetzer muß deshalb auf neue Trends und neue Wörter achten.
Wie auf jedem anderen Gebiet macht auch hier Übung den Meister. Doch um Fortschritte machen zu können, braucht man außerdem kritischen Rat und gute Empfehlungen von jemandem, der qualifiziert ist. Natürlich muß man dann bereit sein, diese anzunehmen — demütig und geduldig. Die Fähigkeiten eines guten Übersetzers zu erwerben ist ein endloser Prozeß. Tatsächlich ist das Übersetzen eine Art Kunst. Es kann nur bis zu einer bestimmten Grenze gelehrt werden; der Rest liegt an einem selbst.