Die chinesischen Schriftzeichen — Warum werden sie so geschrieben?
DER am Tisch sitzende kleine Junge ist die verkörperte Konzentration. Mit der linken Hand drückt er leicht ein Blatt gekästeltes Reispapier nieder. Den Kopf hält er etwas nach links geneigt, und seine Augen verfolgen aufmerksam die Spitze des Haarpinsels, den er senkrecht in der rechten Hand hält. Langsam und beherrscht führt er ihn über das Papier, und von Zeit zu Zeit taucht er ihn in das Tuschefaß. Er wendet große Mühe auf, um Chinesisch schreiben zu lernen.
Für jemand aus der westlichen Welt mag das, was auf dem Blatt Papier zu sehen ist, unglaublich kompliziert, ja als ein richtiges Wirrsal erscheinen. Durch beharrliches Üben und ständiges Wiederholen lernt der kleine Junge jedoch wie Millionen anderer chinesischer Schüler möglicherweise auf die einzig praktische Art und Weise Chinesisch schreiben.
Eine Sammlung von Vorstellungen
Die chinesische Schrift ist im Gegensatz zu vielen anderen Schriften keine Alphabetschrift. Ihre Zeichen stellen keine Sprechlaute dar, wie das beispielsweise im Deutschen oder auch in anderen Alphabetschriften der Fall ist. Somit ist die chinesische Schrift keine Sammlung von Sprechlauten, sondern eine Sammlung von Vorstellungen.
Die Linguisten bezeichnen die chinesische Schrift als logographisch beziehungsweise als Wortzeichenschrift. Jedes Wort oder Schriftzeichen vermittelt dem Leser durch seine Form und sein Aussehen eine bestimmte Vorstellung. Einfache Begriffe werden durch einfache Bilder dargestellt. Die Linguisten sprechen in diesem Fall von piktographischen Schriftzeichen oder von einer Bilderschrift. Die Mehrzahl der Zeichen besteht aus einfachen Bildern von Gegenständen der Umwelt, wie zum Beispiel
SONNE MOND BAUM MENSCH MUND [Abbildung: Chinesische Schriftzeichen]
Betrachtet man die obigen Schriftzeichen, mag man sie nicht als Bilder erkennen. Im Laufe der Jahre wurden die Wortbilder nämlich vereinfacht, so daß man sie leichter schreiben konnte. Doch die älteren Versionen dieser Schriftzeichen lassen das eigentliche Bild noch deutlich erkennen. Die beigefügte Tabelle (Seite 26) zeigt die Entwicklung einiger chinesischer Schriftzeichen vom einfachen Bild (links) bis zu der heute gebräuchlichen stilisierten Form.
Ein Schriftsystem, das nur aus Wortbildern bestehen würde, wäre äußerst begrenzt, weil längst nicht alle Begriffe durch einfache Bilder dargestellt werden können. Um kompliziertere oder abstrakte Begriffe darzustellen, hat man deshalb mehrere Wortbilder so zusammengesetzt, daß der Leser aufgrund seiner Erfahrung den Begriff erkennen kann. „Sonne“ und „Mond“ ergeben beispielsweise den Begriff „hell“; der „Mensch“, gegen den „Baum“ gelehnt, bedeutet „Ruhe“.
SONNE + MOND = HELL [Abbildung: Chinesische Schriftzeichen]
MENSCH + BAUM = RUHE [Abbildung: Chinesische Schriftzeichen]
Es ist nicht schwierig, zu erkennen, warum man diese beiden Schriftzeichen so zusammengefügt hat. Früher gab es wohl nichts Helleres als die Sonne oder den Mond, und man konnte sich ausruhen, indem man sich gegen einen Baum lehnte.
Ungewöhnliche Begriffe
Indessen gibt es Schriftzeichen, denen anscheinend eine höchst ungewöhnliche Geschichte zugrunde liegt, eine Geschichte, die offenbar überhaupt nichts mit den normalen alltäglichen Erfahrungen zu tun hat. Als Beispiel sei das Schriftzeichen für „Schiff“ erwähnt. Sicherlich ist das kein besonders komplizierter Begriff. Das Schriftzeichen ist aber interessanterweise ziemlich komplex. Es setzt sich aus drei einfachen Zeichen zusammen:
BOOT + ACHT + MUND = SCHIFF [Abbildung: Chinesische Schriftzeichen]
Das dritte Zeichen, das „Mund“ bedeutet, kommt sehr häufig vor und kann auch „Personen“ bedeuten, ähnlich wie man im Deutschen im übertragenen Sinne sagt: „Sie hat vier hungrige Münder zu stopfen“, was soviel heißt wie, vier Kinder zu versorgen. Dem Schriftzeichen für „Schiff“ liegt somit die Vorstellung von „acht Personen in einem Boot“ zugrunde. Das ist merkwürdig, nicht wahr? Woher stammt diese Vorstellung?
Wir wollen noch ein weiteres Beispiel betrachten. Zweimal „Baum“ über dem Zeichen für „Frau“ oder „weiblich“ bedeutet „Habsucht“ oder „habsüchtig“.
BAUM + BAUM + FRAU = HABSUCHT [Abbildung: Chinesische Schriftzeichen]
Der obere Teil des Wortes — zwei Bäume nebeneinander — ist das Zeichen für „Wald“. Das ganze Schriftzeichen jedoch scheint eine Frau vor zwei Bäumen darzustellen bzw. eine Frau, die vielleicht zu zwei Bäumen aufschaut. Warum wird der Begriff „Habsucht“ auf diese Weise dargestellt?
Die Analyse vieler weiterer Schriftzeichen führt zu ähnlichen Ergebnissen. Sie erzählen jeweils eine faszinierende Geschichte, die mit den alltäglichen Erfahrungen der Menschen anscheinend überhaupt nichts zu tun hat. Offenbar verraten sie eine Vorgeschichte oder ein Gedankengut, das die meisten Leute, besonders die Chinesen selbst, nicht als charakteristisch ansehen würden. Woher stammen solche Vorstellungen?
Eine mögliche Beziehung?
Wer die Bibel nur einigermaßen kennt, dem mag das, was über das Schriftzeichen „Schiff“ gesagt worden ist, irgendwie vertraut vorgekommen sein. Erinnert es nicht an den Bibelbericht über Noah und seine Familie — insgesamt acht Personen —, die die Sintflut in der Arche überlebten? (1. Mose 7:1-24).
Welche Vorstellung liegt dem Schriftzeichen für „Habsucht“ zugrunde? Vielleicht weißt du, daß in dem Bibelbericht über den Garten Eden zwei Bäume namentlich erwähnt werden: der „Baum des Lebens in der Mitte des Gartens“ und der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ (1. Mose 2:9). War es nicht Evas habgieriges Verlangen nach der Frucht eines dieser Bäume, das schließlich zum Sündenfall führte?
Sind das nur Zufälligkeiten, oder steckt mehr dahinter? In ihrem Buch Discovery of Genesis haben C. H. Kang und Ethel R. Nelson Dutzende von chinesischen Schriftzeichen analysiert, darunter auch die beiden erwähnten, und festgestellt, daß „die Schriftzeichen, wenn man sie in ihre ursprünglichen Elemente zerlegt, häufig Gedankengut aus der in den ersten Kapiteln der Genesis berichteten Geschichte von Gott und dem Menschen widerspiegeln“.
Vielleicht fragst du dich jetzt, ob denn eine Beziehung zwischen der Bibel und der alten chinesischen Schrift möglich sei; man könne sich doch kaum etwas denken, was weniger mit der Bibel zu tun habe als die Sprache der geheimnisvollen Orientalen. Stellt man indessen eine objektive Betrachtung des Bibelberichts und der geschichtlichen Tatsachen an und zieht Vergleiche, kann man eine Verbindung erkennen, die gar nicht von der Hand zu weisen ist.
Anhaltspunkt aus der Bibel
Schon seit langem sehen die Historiker Mesopotamien als Wiege der menschlichen Kultur und Sprache an. Das stimmt auch völlig mit dem überein, was in der Bibel steht. In 1. Mose, Kapitel 11 wird etwas beschrieben, was sich im Lande Schinear in Mesopotamien ereignete und uns den benötigten Anhaltspunkt bei unserer Untersuchung gibt.
„Die ganze Erde nun hatte weiterhin e i n e Sprache und einerlei Wortschatz“, heißt es in 1. Mose 11:1. Doch diese Einheit mißbrauchten die Menschen, indem sie trotzig das Gegenteil von dem taten, was Gott geboten hatte. „Nun sprachen sie: ‚Kommt her! Laßt uns eine Stadt und auch einen Turm bauen, dessen Spitze bis in die Himmel reiche, und machen wir uns einen berühmten Namen, damit wir nicht über die ganze Erdoberfläche zerstreut werden‘“ (1. Mose 11:4).
Bei dem Turm handelte es sich natürlich um den berüchtigten Turm zu Babel. Somit verwirrte Gott die Sprache des Menschen im Lande Schinear in Mesopotamien. „Deshalb gab man ihr den Namen Babel, weil dort Jehova die Sprache der ganzen Erde verwirrt hatte, und Jehova hatte sie von dort über die ganze Erdoberfläche zerstreut“ (1. Mose 11:9).
Ein Meinungsstreit
Natürlich akzeptieren die Wissenschaftler diesen Bibelbericht nicht ohne weiteres. Auch über die Entwicklung der chinesischen Sprache herrscht Uneinigkeit. Geteilter Meinung ist man zudem in der Frage, ob die chinesische Schrift in China entwickelt oder — wenigstens die Urschrift — von anderswoher importiert wurde.
Ignace J. Gelb schreibt in seinem Buch Von der Keilschrift zum Alphabet: „Eine direkte Abhängigkeit der chinesischen Schrift von der mesopotamischen, die auf Grund von formalen Vergleichen der chinesischen und mesopotamischen Zeichen von einigen Gelehrten angenommen wird, ist niemals durch strenge wissenschaftliche Beweisführung bestätigt worden.“ Ähnlich äußert sich David Diringer in seinem Buch The Alphabet: „Bei dem Versuch, nachzuweisen, daß die urchinesische Schrift sumerischen Ursprungs ist, mußten einige Gelehrte zu großen Übertreibungen Zuflucht nehmen.“
Es muß jedoch beachtet werden, daß die Bibel nicht sagt, alle übrigen Sprachen hätten sich aus der ‘e i n e n Sprache und dem e i n e n Wortschatz’ der Bevölkerung von Schinear entwickelt bzw. würden von daher stammen. Dagegen wird deutlich gezeigt, daß die durch die Sprachverwirrung entstandenen Sprachen so verschieden und so unabhängig voneinander waren, daß die Menschen aufhörten zu bauen und sich „über die ganze Erdoberfläche“ zerstreuten, weil sie einander nicht mehr verstanden, das heißt, weil eine Kommunikation unmöglich geworden war.
Durch die Sprachverwirrung wurde anscheinend der ursprüngliche Wortschatz bei den Menschen gelöscht und durch einen anderen ersetzt. Deshalb hatten die neuen Sprachen überhaupt nichts mehr mit der Sprache gemein, die sie vorher gesprochen hatten. Diese neuen Sprachen leiteten sich nicht von der ursprünglichen ‘e i n e n Sprache’ her.
Man darf jedoch nicht vergessen, daß nur der Wortschatz der Menschen neu war, nicht aber ihre Gedanken und Erinnerungen. Ihr Erfahrungsschatz war ihnen geblieben, ebenso ihre Traditionen, Ängste, Neigungen, Empfindungen und Emotionen. Das alles blieb ihr Eigentum, ganz gleich, wohin sie gingen, und es übte einen starken Einfluß auf die Religionen, Kulturen und Sprachen aus, die sich in fernen Winkeln der Erde entwickelten. Auch die chinesischen Piktogramme und Logogramme mögen von solchen Erinnerungen beeinflußt worden sein.
Es ist deshalb nicht überraschend, daß der erwähnte David Diringer, nachdem er seine Einwände gegen die Theorie, die chinesische Schrift leite sich direkt von der sumerischen Schrift her, dargelegt hat, einräumt: „Die Idee, durch sichtbare Zeichen Mitteilungen festzuhalten, ist vielleicht direkt oder indirekt von den Sumerern geborgt.“
Was können wir daraus schlußfolgern?
Unsere kurze Untersuchung der Vorstellungen, die den chinesischen Schriftzeichen zugrunde liegen, läßt die Frage nach ihrem Ursprung entstehen. Wie wir gesehen haben, finden Gelehrte es schwierig, die Behauptung, China sei nicht das Ursprungsland der chinesischen Schrift, zu akzeptieren. Aber ihre Einwände stützen sich auf den Mangel an formaler oder äußerer Ähnlichkeit. Die Frage wird vermutlich ungelöst bleiben, bis weiteres archäologisches Beweismaterial zur Verfügung steht.
Andererseits haben wir festgestellt, daß die Ähnlichkeit zwischen den Vorstellungen, die vielen chinesischen Schriftzeichen zugrunde liegen, und dem biblischen Bericht über die Frühgeschichte des Menschen zumindest bemerkenswert ist. Allerdings handelt es sich nur um Umstandsbeweise, dennoch ist der Gedanke faszinierend, daß die chinesische Schrift, in der sich unser junger Schüler übt, von dem Gedankengut beeinflußt sein könnte, das Menschen aus Schinear mitbrachten, die zur Zeit der Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel jenes Gebiet verließen.
[Übersicht auf Seite 26]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Die Entwicklung einiger chinesischer Schriftzeichen im Laufe der Jahrhunderte
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